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Makelhaft
(Albert Camus)
Die Kunst ist ein Mittel, die Dinge der Welt in Besitz zu nehmen – sei es durch Gewalt, sei es durch Liebe.
(Arnold Hauser)
Irgendjemand hat einmal gesagt, der Schlaf wäre des Todes kleiner Bruder. Ich erlebe den Augenblick des Erwachens als kleinen Tod. Die ersten fünf Minuten fühle ich mich wie ein Baby, das kein Verständnis von Raum und Zeit hat, jeden Augenblick als absolut erlebt, nicht weiß, dass der Schmerz vorüber geht.
Für eine zeitlose Ewigkeit bin ich phasenverschoben, halb Traum, halb Wirklichkeit. Bis die Phasen soweit deckungsgleich sind, dass mein Verstand die Oberhand gewinnt und mir diktiert, was Wirklichkeit ist und was Traum, hat sich der Kosmos einmal um die Erde gedreht, das Chaos justiert.
In diesem Zustand nehme ich bereits die Konturen der mich umgebenden stofflichen Welt wahr - und doch sind diese Anker an manchen Tagen nicht stark genug, um mich restlos überzeugen zu können.
Selbst wenn ich das Licht angeknipst habe, bleibt manchmal ein Zweifel zurück, der mich Bad und Küche kontrollieren lässt.
Nie lauert mir mein Vater irgendwo auf.
Ob ich mich wieder von ihm verfolgt gefühlt habe oder nicht – die erste Zigarette des Tages ist ihm gewidmet. Das Kratzen in meiner Kehle lässt mich endgültig in der Realität ankommen. Sie schmeckt nach Befriedigung.
„Wenn du jemals mit dem Rauchen anfängst, Junge, dann prügle ich dich windelweich.“ Vaters Kippe wippte dabei im Mundwinkel auf und ab. Ein Schauspiel, das ich immer bewundert habe.
„Auf dich, Paps!“
Nach der Toilette proste ich ihm erneut zu, diesmal mit Glenfiddich.
„Junge, nach getaner Arbeit kann man sich schon mal einen gepflegten Drink gönnen.“
Der Whisky brannte furchtbar, doch ich würgte ihn tapfer herunter. Als mir Tränen in die Augen stiegen, lachte mein Vater und schlug mir auf den Rücken. Der Whisky war rau, Vaters Lachen war rau, der Schlag war rau, alles an meinen Vater war rau. Doch ich freute mich über diese seltenen Momente der Zuneigung.
Also protestierte ich nicht, als er mir ein zweites Glas einschenkte.
„Echte Männer erkennt man daran, was sie vertragen können“, sagte er mit einem verschwörerischen Blinzeln und strubbelte mir durch das Haar. Ich atmete seinen rauen Duft, eine Melange aus Schlachthof und Tabak und für einen Moment schien die Welt in Ordnung zu sein.
„Mit wem sprichst du?“
Ich glotze die Erscheinung im Türrahmen an und bin froh, ein Glas Whisky in der Hand zu haben, an dem ich mich festhalten kann. Vielleicht ist es auch umgekehrt.
Verdammt, ich könnte ihr Vater sein, schießt es mir durch den Kopf. Gleichzeitig verspüre ich das Verlangen, das mich gestern hat Gedanken solcher Art ausblenden lassen. Und es wieder tut.
„Und – weißt du noch meinen Namen?“, fragt sie und lächelt Sünde.
„Was ist schon ein Name?“
„Nun, deiner ist in aller Munde.“
„Ich hoffe, in deinem Mund ist gleich etwas anderes.“
Sie lacht, dreht sich um, lässt den Bademantel von ihrer makellosen Haut gleiten. Ein Zwinkern ihres Hinterns und sie schwebt zurück ins Schlafzimmer.
Ich ficke sie, als wäre ich in der Blüte meiner Jahre. Ich bin in der Blüte meiner Jahre! Ich bin Meister über die Zeit, ich banne sie auf Leinwand. Ich bin Künstler!
„Wenn du ein richtiger Mann sein willst, dann solltest du auch die Arbeit eines Mannes verrichten!“
Die Ohrfeige meines Vaters schmettert mich zu Boden.
Als ich wieder zu mir komme, schwebt das Engelsgesicht über mir. Doch es ist gar kein Engel. Der Augenblick der Magie ist vorüber. Jetzt erkenne ich ihren Makel. Die Lippen sind einen Strich zu dünn, das Grün ihrer Augen bräunlich verwaschen. Und sie riecht nach Angst.
„Meine Güte, ich hatte schon Angst du krepierst mir. Was war denn los?“
Ich schubse sie grob von mir, erhebe mich taumelnd.
„Raus!“
Als flüchte ich vor ihr, stürme ich die Treppe zu meinem Atelier empor, schmeiße die Tür ins Schloss, werfe mich mit dem Rücken dagegen. Zittere.
„Ich flüchte vor niemandem!“, will ich schreien – und flüstere doch nur. „Ich habe es geschafft! Von 40 Bildern 32 verkauft. Das soll mir einer nachmachen.“
„Ich bin die Reinkarnation von da Vinci und van Gogh in einer Person.“
Bessere Presse hätte ich mir kaum machen können.
Natürlich zerrissen sich die Schmierfinken das Maul, nannten mich einen Hochstapler und Possenreißer – aber über meinen Erfolg konnten sie nicht hinwegsehen. Über Nacht zum Star, das mussten sie zugeben. Selbstverständlich waren die Prophezeiungen meiner Zukunft eindeutig: Mein jetziges Leuchten war nur die Summe gebündelten Restlichts, das ich mir überall zusammengestohlen hatte und bereits morgen erloschen sein würde.
Erfolg, weil ich es der richtigen Frau anscheinend richtig besorgt habe. Vitamin B. Bums-Vitamin. Das Geschäft ist schmutziger geworden, sagen viele. Aber ich sehe da keinen Unterschied. Pollock hat es mit Peggy Guggenheim getrieben, um seine Ausstellung zu bekommen. Ich habe es Martha besorgt.
In meinem Leben hat es viele Marthas gegeben. Frauen, die immer Pech mit Männern hatten und bei mir plötzlich glaubten, das große Los gezogen zu haben.
Es den Menschen recht zu machen habe ich von meiner Mutter gelernt; mich von den Dingen abzuwenden, wenn sie nicht länger meiner Sache dienlich sind, von meinem Vater. Beides allerdings erst sehr spät.
Ich schlurfe durch das Atelier. Tanke Kraft aus dem Werk, das meinen Ruhm festigen soll. Das Gesicht meines Vaters starrt von den Leinwänden herab. Mein Vater, reitend auf dem Kadaver eines Rinds, in der in den Himmel gestoßenen Hand ein Schlachtermesser. Mein Vater, in Badekleidung im Kühlhaus, den kopfüber hängenden Schweinen mit einem Cocktailglas zuprostend. Mein Vater, einem ausblutendem Lamm zärtlich den Rücken streichelnd. Mein Vater, in einer riesigen Lagerhalle mit seinem Sohn verstecken spielend, ein Metzgerbeil hinterm Rücken verborgen. Mein Vater, den durchtrennten Hals einer Gans mit der Glut seiner Zigarette versiegelnd.
Seine Posen sind meist gütig, er lächelt; doch seine Augen sind so kalt wie das tote Fleisch, das ihn umgibt. Eisgrau.
Ich trete unsanft Kisten zur Seite, Farbtuben scheppern im Chor mit Bier-, Wein-, und Whiskyflaschen.
Es dauert einen Moment, bis ich eine Flasche finde, deren Inhalt mir noch vertrauenswürdig erscheint. Kein Glas in Sicht, das nicht als Pinselhalter, Aschenbecher oder Farbverdünner missbraucht wurde.
Ich proste meinem Vater auf dem Rind zu und setze die Flasche an die Lippen.
Der Whisky brennt. Er brennt immer wieder. Immer noch. Ich koste das Gefühl aus, es schmeckt nach Wahrheit. Ich fische in meinem Morgenmantel, finde Kippen und Feuer, inhaliere tief. Jaaa. Kratzig und brennend. Rau. Das wahre Leben.
„Ein echter Mann braucht seine Portion Fleisch!“
Ich huste.
„Iss deinen Teller leer! Glaubst du, ich reiße mir umsonst den Arsch auf? Schaffe von früh bis spät, damit meine Familie was zu beißen hat – und du bist dir zu fein dafür?“
Ich würgte das Steak hinunter, aber es wollte nicht unten bleiben.
Ein Schwall heißer, stinkender Brühe ergießt sich auf den Boden. In der Lache schimmern alle Farben des Kosmos, spiegeln das Chaos.
„Selbst die Kotze eines Künstlers ist Kunst“, murmle ich und will lachen, werde aber von einem erneuten Hustenanfall geschüttelt.
„An dir klebt ein Makel, den du nicht von mir haben kannst! Du bist tuntig, weich, scheust wahre Arbeit, bist der Abklatsch eines Mannes!“
Mein Vater hatte einen sehr einfachen Wortschatz, in den Wörter wie Makel nicht hineinpassten. Umso tiefer brannte sich dieses Wort in mir ein. Makelhaft.
Unwillkürlich fahre ich über die Narbe an meiner Stirn.
„Wie kann ich nur einen solchen Schwächling zum Sohn haben?“
Mein erstes Aufbegehren endete kläglich. „Wenn du schon den Mann markieren willst, dann tu es richtig!“
Natürlich hatte ich mir meinen Widerstand wirkungsvoller vorgestellt. Nur hatte ich nicht mit dem Heizungsrohr gerechnet. Ein Unfall; meine Schuld, ich habe den Stoß provoziert.
In der Schule musste ich erzählen, ich sei die Kellertreppe hinabgefallen. Heute, aus der Distanz betrachtet, kann ich nicht sagen, was mehr geschmerzt hat, die Schädelfraktur oder der Spott meiner Mitschüler.
„Schön langsam die Treppen gehen, kleiner Träumer.“
Ich gefalle mir darin, mir ihre dämlichen Gesichter vorzustellen, wenn sie heute meinen Namen in der Zeitung lesen. Am besten mit einem Bild von mir, auf dem meine Narbe glüht. Früher habe ich mich ihrer geschämt, heute trage ich sie mit Stolz.
Andersrum ärgere ich mich darüber, dass ich überhaupt an sie denken muss. Insbesondere wenn sich Detlef Schweizer in meine Gedanken drängt. Dann brennt meine Narbe. Aber das Brennen ist nicht das Schlimme. Das Schlimme ist, dass ich den Reflex nicht unterdrücken kann, daran zu reiben.
Detlef Schweizer. Ein Metzger wie er im Buche steht.
„Na, du fleischloses Gerippe? Hat dein Vater seinen Job verloren, oder warum kriegst du zuhause nix zu fressen?“
„Wenn ich dein Vater wäre, würde ich mich schämen, solch ein Gerippe zum Sohn zu haben.“
Ich verstand es selbst nicht. Immer wenn Detlef meinen Vater verhöhnte, machte es mich wütend.
„Lauf, dein Essen wird noch welk!“
Die Wut stieg an, bis es irgendwann einfach so aus mir herausbrach: „Wenigstens sehe ich nicht aus wie ein fettes Schwein.“
So unoriginell wie töricht. Das Gelächter erstarb. Schweinsäuglein weiteten sich, ungläubiges Schnaufen.
„Glaubst du echt, du Sohn eines Unkrautfressers kannst mir schräg kommen?“
Die Schläge waren hart, aber beinahe noch schlimmer war dieses Schnaufen, dieses schwitzige, klebrige Schnaufen.
„Hättest heute Morgen ein Roccola-Blatt mehr futtern sollen, Schlappschwanz“, schnaufte Detlef zwischen den Hieben.
„Es heißt Rucola“, wollte ich sagen, doch ich spuckte nur Blut.
Ich sah alles durch einen roten Schleier, sah Detlef Schweizer durch einen Vorhang des Blutes, sah das Schwein an einem Haken baumeln, sich ergießend, dabei zappeln und schnaufen. Diese Vision brachte mich zum Glucksen, zum Kichern, brachte mir neue wütende Hiebe ein, brachte mich ins Krankenhaus.
Mein Vater schüttelte nur den Kopf.
„Ich hoffe, diese Lektion hilft dir. Werde endlich ein Mann!“
„Er hat es nicht so gemeint. Ich hoffe, du weißt das.“
Selbst als Mutter noch da war, wirkte sie wie eine verblassende Erinnerung.
Es gibt keine Fotos von ihr, doch ich weiß, dass sie wie ein Engel aussah. Ein Engel mit grünen Augen. Jadegrün. Diese Augen, dieser Blick, Magie in reinster Form. Sie ließ Schmerzen vergehen und tauchte selbst die hässlichsten Momente in einen reinen Schein.
Engel haben immer etwas Trauriges an sich. Darüber täuscht auch nicht deren Lächeln hinweg. Wie können sie auch nicht traurig sein, wenn sie unser unbeholfenes irdisches Dahinstolpern betrachten? Ja, Mutter war ein Engel, ein trauriger Engel. Zu rein für diese Welt.
Früher quälte mich nicht selten die Frage, wie ein solch vollkommenes Wesen einen solch dunklen Fleck wie mich hatte in die Welt setzen können.
Heute weiß ich die Antwort. Die Antwort liegt in dem, was ich erschaffe. Nur durch die Erfahrung des Makels bin ich in der Lage etwas Makelloses zu schaffen.
„Sie malen stets Ihren Vater, weshalb tritt in den Bildern nie ihre Mutter auf?“
„Das tut sie. In jedem einzelnen.“
Natürlich konnte das der Pressefuzzie nicht verstehen. Selbst wenn ich ihn nicht stehen gelassen und es ihm erklärt hätte, hätte er es nicht verstanden. Wie auch?
Sie ist der Glanz, der den Bildern ihre Makellosigkeit verleiht; die Magie, die sie aus dem Gefängnis der Darstellung löst, sie über die Gesetze des Bildes erhebt und lebendig werden lässt.
Schönheit zu malen ist Kitsch. Immer. Hässlichkeit zu malen ist plump. Der Hässlichkeit Schönheit zu verleihen - das ist Kunst.
Wenn der Betrachter nicht weiß, ob er sich hingezogen oder abgestoßen fühlt, dann ist er in den Dialog eingetreten.
Ich stelle mich vor das Rind, proste meinen Vater erneut zu.
Diesmal brennt der Whisky so sehr, dass ich husten muss, mich verschlucke.
Vater blickt höhnisch auf den Zwölfjährigen herab. „Noch immer ein Weichei.“
„Ich bin mehr Mann, als du es je gewesen bist!“, schreie ich ihn an. „Was hast du denn schon groß geleistet? Tagein, tagaus Fleisch in Stücke hacken. Du warst derjenige, dem der Makel anhaftete. Das einzig Makellose in deinem Leben hast du unter deinen Händen wegsterben lassen!“
Das Bild schweigt.
„Du hast ihr die Magie geraubt mit deinem Makel. Der Geruch des Todes, der dir immer angehaftet hat, ließ sie verwelken. Du hast sie umgebracht!“
Schweigen.
„Ich mache sie unsterblich – in meinen Bildern lebt sie weiter!“
Ich nähere mich dem Bild, stehe so dicht davor, dass meine Nase beinahe die Leinwand berührt, starre meinem Vater in die Augen. Eisiges Grau.
Es hat mich lange Zeit gekostet, diesem Blick standzuhalten. Selbst den gemalten Augen nicht auszuweichen hat mich viel Kraft gekostet. Kostet mich noch immer Kraft. Aber heute ist es irgendwie anders. Der Anstrich der Veränderung flimmert in der Luft.
Heute erwidere ich den Blick länger als je zuvor. Ich fühle mich stark, überlegen. Ich spüre plötzlich, dass ich auf meinen Vater herabblicken kann. Euphorie. Das Flimmern nimmt zu, ein gewaltiger Rausch und dann – das Unfassbare:
Das Eisgrau blitzt kurz auf, leuchtet in überirdischem Grün – ja, für einen Augenblick funkelt das makellose Jadegrün meiner Mutter in den Augen meines Vaters – und wird dann von dem Eisgrau verschluckt. Einfach so. Weg.
Ich taumele zwei Schritte zurück. Ein seltsam dumpfer Laut zerplatzt in der Stille des Ateliers. Der Whisky vermengt sich mit dem Erbrochenen, zerläuft in höhnischen Fratzen.
Vater lächelt. Es ist ein brutales Lächeln, das über die übliche raue Note hinaus greift. Ein eiserner Griff, der mir den Atem nimmt.
„Was hast du mit ihr getan?“, brülle ich das Bild an. „Wo ist sie?“
Vater verzieht keine Miene, lächelt nur sein grausames Lächeln. Das Schlachtermesser wirft seinen Schatten auf mich, schneidet mir ins Fleisch, sucht mein Herz.
Das Bild glänzt nicht länger seinen übernatürlichen Glanz, krankt an dem Makel eines jeden Bildes: Es ist und bleibt nur ein Bild.
Die Farben sind Farben, ich erkenne ihre Zusammensetzung, sehe das Mischungsverhältnis. Ich rieche die Farbe, nicht länger den rauen Duft toten Fleischs und abgestandener Zigaretten.
Das Bild ist ein Bild, erschöpft sich darin, eine Illusion zu sein. Die Magie, die es darüber erhoben hat, ist fort. Mutter ist fort.
„Du hast sie mir genommen, du hast sie mir genommen!“ Ich kralle meine Hände in die Leinwand, schäle die Farbe ab.
Vater grinst, sagt nichts, grinst.
Ich nehme ihm sein Augenlicht, reiße ihm das Grinsen aus dem Gesicht und lege doch nicht mehr frei als raue Leinenfasern.