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Man lernt fürs Leben
Voller Begeisterung nehme ich das Paket entgegen, unterzeichne die Lieferbestätigung und trage es ins Wohnzimmer, wo Klaas schon auf dem Fußboden hockt. Der Kleine ist jetzt sieben – alt genug, endlich zur Schule zu gehen.
Ich lege das Paket neben ihm auf den Teppich, reiße das Packpapier ab und betrachte den silbrig glänzenden Karton, auf dessen Seite in roten, schwungvollen Lettern EduVan™ 138 steht. Klaas wippt aufgeregt neben mir auf dem Fußboden, und gemeinsam öffnen wir den Karton.
Als erstes fliegen uns eine Handvoll Styroporkügelchen entgegen. Im Karton selber schwebt, von Styroporhaltern vor dem Erschüttern geschützt, das metallische Gerät, das aussieht wie ein Digitalrekorder. Gleich obenauf liegt das Elternbuch, knallendrot, mit einem Band aus Elastistahl versiegelt, in das ich mein bei der Bestellung gewähltes Passwort eingeben muss, um es zu öffnen. Ich nehme das Buch und lege es zur Seite, dann hilft mir Klaas damit, den EduVan™ aus dem Karton zu nehmen.
„ Was willst du denn nun als erstes lernen?“ frage ich ihn noch einmal. Seit einer Woche überlegen wir uns das. Mal wollte Klaas schreiben lernen, dann doch wieder rechnen, dann wieder schreiben; am Ende wollte er Autofahren lernen, aber das, so erklärte ich ihm, müsse noch eine Weile warten.
„ Schreiben“, johlt Klaas und streicht mit der Hand über das Gehäuse.
Ich nehme das Verbindungskabel aus der Packung und stöpsele es in den EduVan™. Dann lege ich Klaas das daran befestigte Kopfgitter auf und starte den EduVan™. Ein kleines Display fährt aus dem Gerät, und ein freundliches Damengesicht erklärt uns, dass sie nun ein paar Einstellungen machen muss. Sie misst Klaas’ Hirnfrequenzen, seine kognitiven Basisfähigkeiten, sowie die ein oder andere psychologische Besonderheit.
Dann wähle ich in einem zehnminütigen Programm aus, was Klaas im ersten Jahr lernen soll. Schreiben, rechnen, Grundbegriffe der Kunst, und natürlich vor allem Sprachen. Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Arabisch sowie selbstverständlich Chinesisch sollten für das erste Jahr reichen. Dann ist es leider schon so spät, das ich Klaas und seinen EduVan™ in sein Zimmer bringen muss, denn ich muss mich zur Arbeit setzen.
Im Laufe der nächsten Monate sitzt Klaas in seinem Zimmer und lernt.
Der EduVan™ 138 ist die vierte Generation der digitalen Edukationsmethoden. Nachdem ewig über die schlechte Bildung der Schüler und die Schulen als soziale Brennpunkte gejammert worden war, hatten pfiffige Entwickler eine Methode der direkten, elektronischen Wissensübertragung erfunden. Lehrer samt der sie umgebenden Schulen wurden überflüssig und eingestampft. Die Eltern mussten zwar für den EduVan™ eine Menge Geld hinlegen, doch lief das in Ratenzahlungen während der meist siebenjährigen Ausbildung ab. Da Die Regierung nun nicht nur das Geld für die Bildung sparte, sondern gar noch dran verdiente, konnte sie den Arbeitern mehr zahlen, und die für das EduVan™ entwickelte Technologie wischte gleich noch das Problem der Arbeitslosigkeit hinfort.
Allein die Fabriken in denen der EduVan™ hergestellt wurde, und die an streng geheimen Orten standen um das Produkt unmanipulierbar zu machen, waren der größte Arbeitgeber der Welt.
Die erste Generation des EduVan™ gab den Kindern lediglich enzyklopädisches Wissen mit, was zu heftigen sozialen Störungen führte. Die zweite Generation gab den Kindern daher auch soziale Erfahrungen mit, während die dritte und nun die vierte noch ein paar weitere Notwendigkeiten beinhalten. Die Eltern können natürlich im nur ihnen zugänglichen Elternbuch stets erfahren, was ihrem Kind gerade beigebracht wird.
Für einen alleinerziehenden Vater wie mich ist der EduVan™ in diesen schwierigen Zeiten eine echte Hilfe.
Als Klaas im zweiten Jahr ist, erlebe ich eine kleine Überraschung. Der EduVan™ hat Klaas mit einem virtuellen Mitschüler konfrontiert, der ihn hasst. Die beiden kloppen sich regelmäßig, und ich erkläre Klaas, dass man Probleme auch ohne Gewalt lösen kann. Als Klaas dennoch zum Schläger wird, droht die virtuelle Lehrerin von EduVan™ damit, ihn die Klasse wiederholen zu lassen. Das wirkt. Klaas entwickelt sich zu einem echten Diplomaten. Was er nun später auch werden möchte: Diplomat.
Im dritten Jahr, Klaas wird bald zehn, spricht er sämtliche Sprachen, und beginnt nun seine Ausbildung in Chemie, Physik und Biologie. Ich habe EduVan™ aufgetragen, noch ein paar Lektionen in Astronomie dazuzunehmen, weil ich meine, dann im vierten Jahr mehr Wert auf klassische Literatur legen zu können. Ich war nie gut in Naturwissenschaften, und hoffe, dass Klaas mal eine bessere Arbeitsstelle bekommt als ich. Doch Klaas möchte gerade lieber Philosoph werden, obwohl ich glaube, dass er nur die Nase voll hat von den Naturwissenschaften.
Im vierten Jahr lässt der EduVan™ meinen Sohn ein paar Klassenreisen erleben und eine unglückliche Liebe. Als Klaas eine Woche sein Zimmer nicht verlässt, und den zum Glück stoßresistenten EduVan™ zu zertrümmern versucht, mache ich mir doch ein wenig Sorgen. Aber im Elternbuch steht, das gehöre nun einmal zur Schulentwicklung dazu. Klaas verkündet, er möchte nun gar nichts mehr werden, sondern einfach nur sterben, weil die Sonja ihn nicht liebt.
Ebenfalls mit der Begründung, es gehöre zur Schulentwicklung, lässt der EduVan™ Klaas im fünften Jahr in seinen Leistungen rapide absinken. Egal, wie sehr Klaas sich bemüht, EduVan™ verweigert ihm schulische Erfolgserlebnisse. Im Elternbuch steht, dass Kinder lernen müssten, mit Versagen klar zu kommen.
Als Ausgleich darf Klaas eine erfolgreiche Liebesbeziehung haben, wobei ich mir ein wenig albern vorkomme, als ich ihm sage, das er vor dem Sex warten solle bis er die einzig wahre Liebe gefunden hat. Immerhin ist der Junge ja erst elf. Als ich im Elternbuch nachschlage, ob der EduVan™ auch virtuellen Sex ermöglicht, überfliege ich nur die erste Seite und lasse es dann mit einem heißen Gefühl im Kopf bleiben. Mein Junge soll seine Privatsphäre haben. Dennoch mache ich mir Sorgen, als er ein wenig später mit seinem besten Freund Noel und seiner Freundin Isabell ans virtuelle Mittelmeer fährt. Als er wiederkommt ist für ihn klar, dass er einmal Abenteurer werden möchte, und mit Isabell die Welt erkunden.
Im sechsten Jahr muss EduVan™ sich wieder weniger um Klaas’ soziale, sondern mehr um seine intellektuelle Entwicklung kümmern, weshalb Isabell mit Noel zusammenkommt und die beiden wegziehen. Dafür stehen Sub-Gentechnik, String-Beweise, Quantenextreme, sowie Pi-Kopfrechnen auf dem Programm. Inzwischen weiß Klaas auch, dass er gerne Elektronen-Theoretiker werden möchte, um eine Transportmöglichkeit durch das All zu entwickeln, damit er möglichst weit weg von Noel und Isabell neu anfangen kann. Der Junge ist nun zwölf, und da sollte man langsam wissen, was man werden will. Ich wünsche ihm natürlich alles Glück für diese Berufswahl, und gehe selber in mein Büro, wo ich nicht viel verdiene, aber mich nicht langweile.
Das siebente Jahr ist das Abschlussjahr. EduVan™ lässt Klaas kräftig feiern, und schließlich in eine virtuelle Drogensucht fallen.
Nun mache ich mir allerdings wirklich einige Sorgen, denn Klaas sieht nicht besonders gut aus. Er geistert mit tiefgeränderten Augen durch die Wohnung und schnauzt mich jedes Mal an, wenn ich ihn frage, was er denn hätte. Ich suche im Elternbuch, ob der frühe Drogentod eventuell ebenfalls zur modernen Sozialentwicklung dazugehört. Doch da steht nur, dass die frühe Konfrontation mit der Sterblichkeit, und der Angst vor einem Leben am Rande der Gesellschaft wichtig für die Selbsterkenntnis seien. Speziell für diese Lektion würde das EduVan™ bestimmte Synapsen im Gehirn so beeinflussen, wie Crack es täte, um den Kindern das Leben so richtig schwer zu machen.
Tatsächlich muss Klaas kämpfen, die Sucht zu überwinden, doch er schafft es, und kann so am Ende des siebenten Jahres seinen Abschluss mit Auszeichnung machen.
Hierzu bekommen wir vom Staat eine Glückwunschkarte, sowie die Summe der noch zu zahlenden Restraten für das EduVan™-Gerät. Ebenso ein Umtauschformular, um das EduVan™ gegen ein WorkinVan™ zu tauschen. Da Klaas keine echte Arbeit hat, bekommt er lediglich das billige, subventionierte Standardmodell des WorkinVan™, das nur den langsamen Aufstieg in einer Buchhalterfirma kennt. Doch wenn Klaas seine amtlichen Schecks spart, kann er sich vielleicht einmal ein anderes WorkinVan™ leisten.
Sein WorkinVan™ Mod. 127 wird eine Woche später geliefert. Nun können wir uns morgens gemeinsam auf die Couch setzen. Ich stöpsele mich an meinen WorkinVan™, der mir die nächsten sechzig Jahre ein virtuelles Berufsleben sichern wird, und mein Klaas kann mit seinem staatlich gesponserten WorkinVan™ seine Karriere in der Postabteilung beginnen. Der Scheck fürs Essen kommt einmal in der Woche.