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Mann über Bord
„Mann über Bord!“, schrie Paul.
„Alles klar zum Drehen?“, fragte Fred am Ruder.
„Alles klar!“, rief Jean Jacques.
Das Segelboot drehte sich um seine Achse; die drei Aushilfsmatrosen versuchten, das Hauptsegel so schnell wie möglich zu reffen, um die Fahrt des Boots zu verlangsamen. Der Schulkapitän beobachtete jede einzelne Bewegung seiner Mannschaftsangehörigen, jeden Griff und Fehlgriff der Segelschüler.
„Mehr Geduld“, verordnete er, ohne einzugreifen.
Das Boot näherte sich dem Plastikeimer, den Paul zehn Minuten vorher ins Wasser geworfen hatte. Sie hielten auf den vor sich tümpelnden Eimer zu, damit Jean Jacques, der sich platt wie eine Flunder auf das Deck gelegt hatte, den Eimer im Wasser greifen konnte. Fred konnte das Boot – abgesehen von der Meeresströmung - in eine fast vollständige Windstille bringen. Jean Jacques hatte kein Problem und viel Zeit, den Eimer aus dem Salzwasser zu fischen.
„Bravo“, sagte der Kapitän.
„Das war genial“, gestand auch Paul ein, der diese Übung vorher am Ruder verpatzt hatte.
„Bereiten wir unser Abendessen vor“, kommandierte der Kapitän.
„Wo schlafen wir?“
„Hier in dieser Bucht, wir haben keine Zeit, den nächsten Hafen zu erreichen.“
Sie warfen den Anker in dieser Bucht der bretonischen Küste, eingerahmt von steil abfallenden Felsen und einem Wald hinter den Klippen. Es herrschte wenig Wind, der letzte Sonnenstrahl ging unter, als sie in die Kajüte runterstiegen, um das Essen zu machen.
„Männer, bereitet das Nachtmahl“, ordnete der Kapitän.
Die Nacht hüllte sie schnell ein; bald herrschte undurchdringliche Nacht. Doch die drei Matrosen bekamen das kaum mit, denn sie waren schwer damit beschäftigt, das Essen zu bereiten. Die Vorbereitungen lohnten sich, denn das Essen ließ die Stimmung steigen: Nudeln mit Lachs - Crème fraîche – Sauce und frische Möhren, und das Ganze begossen mit einem guten Wodka. Das Boot schwankte im leichten Wellengang, und die Köpfe der Hobby-Seemänner schwankten bei jedem Glas mehr.
Noch eine letzte Zigarette in der kühlen Brise auf dem Deck, ein paar Jokes, über das was am vergangenen Tag wieder schief gegangen war…
„Dein Mann über Bord wäre dreimal ertrunken, bevor wir ihn aus dem Wasser gehievt hätten…“, ulkte Fred über Paul.
Der begann zu grummeln.
„Was?“, wollte Jean Jacques wissen.
„Im Büro reißt Fred nicht so den Mund auf“, wiederholte jetzt Paul laut.
„Ach im Büro…“ Fred machte eine abwehrende Handbewegung.
Die Klappe zum Bootsinnern ging auf. „Männer, morgen geht’s wieder früh raus, ab in die Kojen“, befahl der Kapitän Nachtruhe.
„Aie, aie, sir“, antwortete Jean Jacques und unterdrückte nur mühsam eine nicht so gehorsame Antwort.
Paul wachte einige Stunden später durch den Seegang auf; er schaute auf seine Armbanduhr: ein Uhr morgens. Er hörte einen scharfen Wind in der Bucht gehen. Paul suchte den Kapitän in seiner Koje; er war nicht mehr da. Die anderen Segelschüler wachten einer nach dem anderen auf.
„Was ist los?“, fragte Jean Jacques.
Die Luke öffnete sich, der Kapitän stieg zu ihnen herunter und brüllte gegen den Wind an: „Zieht euch an, wir können nicht hier bleiben. Der Seegang wird den Anker losreissen und uns gegen die Felswände schleudern.“
„Aie, aie, Kapitän“, sagten die ihm Anbefohlenen.
Die drei beeilten sich, und fünf Minuten später standen sie sturmfest angezogen auf der Brücke.
„Hisst das kleine Segel!“
„Aie aie.“
Es war wirklich viel schwerer, die Anweisungen bei Nacht zu befolgen, und dann noch bei auflebendem Sturm. Die drei Matrosen sahen sich kaum über Deck. Der Kapitän setzte sich ans Ruder und ließ es nicht mehr los.
Sie segelten scharf am Wind aus der Bucht ins offene Meer.
Das kleine Segelboot kämpfte mit den grossen Wellen; es war schwerer Seegang; und zum ersten Mal seit Beginn der Segelschulwoche hatte Paul wirklich Angst zu kentern.
„Wir müssen eine windgeschützte Bucht finden; der Sturm fängt erst an“, erklärte der Kapitän.
„Das wird ja toll“, fügte Jean Jacques.
„Keinen Defätismus! Das können wir jetzt nicht gebrauchen“, fuhr ihm der Kapitän sofort über den Mund.
Keiner erwiderte etwas.
„Jetzt bedauere ich es, auf das tolle Angebot des Betriebrats eingegangen zu sein“, dachte Fred verärgert und schaute wieder hinaus auf das tobende Wasser.
Der Wind nahm noch zu: das Schiff wurde von den Wellen hochgehoben und senkte sich in den Wellentälern. Der Kapitän nahm Kurs parallel zur Küste. Doch die Wellen schlugen noch heftiger auf das Boot ein, weil sie das Schiff mit voller Breitseite in Angriff nehmen konnten. Deshalb musste er den Schiffskurs berichtigen, um ruhigere Fahrt zu bekommen. Paul beobachtete nervös den Kapitän, der immer wieder aufstand und sich hinsetzte, um das Küstenprofil auszumachen.
Paul hatte nur noch den Gedanken, einen Funkspruch versenden. „Segelboot in Seenot: erbitten Hilfe! SOS!“ Dann würde die Rettung schon durch die Küstenwache kommen… Segelschulwoche unterbrochen wegen Orkan vor bretonischer Küste, dachte sich Paul.
Er wurde aus seinen schwarzen Gedanken gerissen, als er Jean Jacques schreien hörte: „Mann über Bord!!!!“
Paul schaute konsterniert seinen Freund an, wie als ob er von einem anderen Stern kommen würde. Jean Jacques sass alleine neben dem verlassenen Ruder.
„Mensch, nimm das Ruder!“ schrie Fred.
Jean Jacques ergriff langsam das Ruder, blieb aber dann gelähmt sitzen; Fred kam zu seiner Unterstützung.
„Wo ist er?“, fragte Fred.
Jean Jacques zeigte stumm auf einen Fleck im Meer.
„Ich sehe nichts“, schrie Fred von neuem.
„Einen Moment“, mischte sich Paul ein, „ich habe ihn gesehen, aber dazu müssen wir auf einem Wellenberg sein.“
Die Welle liess nicht auf sich warten, und von der kurzzeitigen Erhöhung, konnten sie 50 Meter hinter ihnen einen Arm sehen, der aus dem Wasser ragte, und einen Kopf, der sich bemühte, nicht überspült zu werden.
„Alles klar zum Drehen?“, rief Fred und ergriff das Ruder.
„Alles klar“, antwortete Paul.
Sie drehten bei.
„Wo ist er?“, fragte Fred.
„Ich weiß nicht“, antwortete Jean Jacques.
„Aber du weisst, dass du ihn nicht aus der Sicht lassen darfst! Sonst ist er verloren!“, machte Fred seinen Kollegen an.
„Ich seh ihn“, schrie Paul, „direkt vor uns!“
Sie sahen wieder den Arm, der aus dem Wassser ragte.
„Schnell.“
Paul legte sich aufs Deck.
„Halt das Ruder“, befahl Fred.
„Ja OK“, sagte Jean Jacques etwas bekümmert; er war irgendwie nicht dabei.
Jetzt konnten sie das entsetzte Gesicht ihres Kapitäns erkennen.
„Macht schnell, Jungs!“, schrie dieser verzweifelt mit letzter Kraft.
„Verlangsame das Boot“, befahl Fred.
„Ich kann nicht“, erklärte Jean Jacques.
Das Boot näherte sich schnell dem Verunglückten.
„Ich krieg ihn zu fassen!“ schrie Paul. „Helft mir, sonst zieht er mich mit ins Wasser!“
„Nein Scheisse, überfahr ihn nicht, mehr Backbord! Sonst gerät er unter den Kiel!“, machte Fred Jean Jacques an.
Dieser drehte das Boot bei, so dass der Kapitän jetzt seitwärts zum Vorschein kam. Dann war er auf Pauls Höhe. Paul ergriff seinen Arm, verlor das Gleichgewicht. Fred schnappte sich seine Beine, um ihn zurückzuhalten.
Pauls Hand glitt langsam vom Arm des Kapitäns ab. Vor ihm das angsterfüllte Gesicht des Seemanns. Schliesslich hielt Paul nur noch die kalte, glitschige Hand des Kapitäns. Er nahm seine zweite Hand zuhilfe, um ihn festzuhalten, aber das Boot hatte zuviel Fahrt und zog ihn unbarmherzig weg.
„Mist, wir verlieren ihn“, schrie Fred.
Flutsch! Der Kapitän fiel zurück ins Wasser.
„Scheisse, scheisse, scheisse“, rief Fred.
Die ganze Schiffsseite schob sich am Kapitän vorbei.
Der nahm seine ganze Kraft zusammen und stemmte sich mit letzter Anstrengung aus dem Wasser. Ein Wellenberg liess ihn zum Schiff hinschwappen, und er bekam den hintersten Teil der Reling zu packen. Durch ein Wunder konnte der Kapitän sich mit einer Hand festhalten. Jean Jacques liess das Ruder los und ergriff den Arm des Kapitäns.
Die beiden anderen kamen angelaufen, und zu dritt zogen sie ihn Stück für Stück aus dem Wasser.
„Ihr seid wirklich die Allerletzten“, röchelte der Kapitän mit letzter Kraft, „gebt einen SOS-Funkspruch durch, macht schnell!“
Paul hatte seine Lektion gelernt und funkte SOS. Er gab den Standpunkt des Schiffs durch.
Es vergingen bange Minuten, die Wellen schoben das Boot wie eine Nussschale hoch und warfen es in die Wellentäler hinunter. Paul hatte Angst. Der Kapitän bibberte vor Kälte trotz der Decke, die sie über ihn gelegt hatten.
Das schwere Dröhnen des Hubschrauber-Rotors war eher zu hören, als der Hubschrauber zu sehen war, dann bahnte sich ein Suchleuchter den Weg zum schiffsbrüchigen Segelboot.
Eine Strickleiter wurde herabgelassen. Ein Mann stieg ins Boot. Er gab den drei Matrosen Anweisungen. Eine Bahre schwebte herab. Der Kapitän wurde darauf festgeschnallt.
Dann hob der Hubschrauber den verkühlten Kapitän in die Luft, die Bahre wurde eingeholt und der Hubschrauber verschwand in der Dunkelheit. und ein Seemann der Küstenwache übernahm das Kommando an Bord.
Eine Stunde später erreichten sie einen kleinen bretonischen Hafen.
Der Chef der Küstenwache verliess ihr Boot mit ernster Miene: „ Jungs, das war wirklich nicht toll; es fehlte wenig, und euer Kapitän wäre an Unterkühlung gestorben. Überlegt euch doch mal, was euer Chef in eurer Firma sagen würde, wenn ihr eine Woche verspätet aus dem Segelurlaub kämt wegen eines Krankenhausaufenthalts …“
„Aber der Kapitän ist doch unser Chef“, sagte Paul. „Diese Idee mit der Schulwoche auf einen Segelboot war doch seine Idee.“
Und Jean Jacques fügte in Gedanken hinzu: „Das passiert ihm recht, dem verdammten Sklaventreiber!“ und lächelte.