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- 18.04.2002
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Manuel Bongesa
Himmelsgeschenk (I/III)
Die knorrigen Äste der Schwarzrinden-Bäume warfen noch langgestreckte, bizarre Schattenmuster auf den Dorfplatz, trotzdem flirrte die Luft schon vor Hitze. Es würde wieder einen sehr heißen, staubigen Tag geben, obwohl sich das Ende der Trockenzeit schon durch vereinzelte Regenschauer angekündigt hatte.
Manuel Bongesa lehnte am schiefen Türrahmen, der notdürftig aus verblichenen Holzresten gezimmert war. Der große, hagere Mann beobachtete seine Frau Martha in ihrem weiten, blauweiß getupften Kleid. Mit Genugtuung verfolgte er, wie sie die Haare seiner Tochter Josie geschickt zu vielen kleinen Zöpfen flocht, jedes Haarbündel wurde am Ende mit einer Schleife in einer anderen Farbe geschmückt. Heute früh hatte die kleine Familie wenigstens ausreichend zum Essen gehabt, wenn auch nur einige Getreidefladen. Manuel musste sich auf den Weg machen.
„Wo versuchst du es heute?“, fragte Martha lächelnd.
„Ich werds mal beim Schneider versuchen, vielleicht hat er heut was für mich zu tun. Mal sehen – manchmal gibts etwas am Fluss bei den Fischern. Seit der neuen Beleuchtung wird am Hafen noch spät abgeladen, ‘ne Hand können die immer wieder mal brauchen.“
„Schone deinen Rücken! Noch ‘ne Verletzung können wir nicht gebrauchen. Ich wünsch dir Glück!“ Seine Frau bekreuzigte sich.
Beim Schneider gab es nur wenig Arbeit, dann am späten Nachmittag einen Hühnerstall säubern – viel hatte er nicht erreicht. Manuel Bongesa trottete den rotstaubigen Trampelpfad, der zum Fluss führte, müde entlang. Einige Arbeiter entluden eine halbleere Barkasse, Hilfe würden sie wohl nicht mehr benötigen. Er schlenderte zum Ufer, später kamen hoffentlich Fischer, denen er für zwei oder sogar drei Aurongos Lohn mit den Fischbehältern helfen konnte. Nur träge floss das seichte Wasser am Ufer entlang, das Licht der neuen Hafenlaternen spiegelte sich in unruhigen Streifen auf seiner Oberfläche. Manuel Bongesa zog die Sandalen aus, er hatte sie aus einem abgefahrenen Motorradreifen hergestellt. Er roch Dieselabgase, die von einem Windhauch zu ihm getragen wurden. Die Luft hier war feucht, fast klebrig, Schweißtropfen sammelten sich in den Furchen seiner Stirn. Langsam schritt er in das erfrischende Nass, spürte erst etwas schmierigen Schlick, dann einige glitschige Steine, Granit, der von weit her aus den Bergen stammte, über endlose Zeiträume vom Fluss in blinder Beharrlichkeit weitertransportiert, gerollt, gespült –
doch da war es: das Andere, das …
es glänzte!
Ob er es sofort wusste, verstand, begriff?
Dieses gelb glänzende rundliche Ding, nicht besonders klein, aber auch nicht groß, lag direkt vor ihm. Und es war ganz klar, was da lag. Sein Herz pochte rasend, er unterdrückte einen Schrei, einen Seufzer, einen Jubelanfall.
Manuel Bongesa schaute sich um – niemand beachtete ihn, die Hafenarbeiter hatten genug mit den Reissäcken zu tun. Er hob seinen linken Fuß – ein kleiner Schritt für einen Mann … und stellte ihn auf das Goldstück. Es war als hätte er, wie einer der alten Entdecker, neues Land betreten, einen Kontinent in Besitz genommen, einen Kontinent voller ungeahnter Möglichkeiten, voll neuer Wege und Aussichten: Vielleicht ein kleines gebrauchtes Motorrad, auf alle Fälle die Nähmaschine von der er schon so lange träumte, seine Tochter in grauer Schuluniform –
Ungeheurere Staubmassen, wabernd, irgendwo im Dunkel Kraft – klein beharrlich, zäh und ziellos, dann: kollabierender Strudel, Masse. Zirkulierend, rotierend – nur noch ein Gesetz, ein Vorhaben, ein Zweck im Zwecklosen: Gieriges Aufsaugen, ein ‚An sich Reißen‘, zweier Giganten, bis dieses ungeheuerliche, unvorstellbare Ungetüm unter seiner Last zusammenbrechend glutheiß reagiert, sich selbst aufbrauchend, dann, in die gleichgültigen Äonen aberwitzige Energie ausspeiend, auseinanderfällt, auseinanderreißt, auseinanderbricht, rasender Taumel, Energieexzess, glutbrütend, Element schleudernd, Himmelskörper bombardierend – anreicherndes, verdichtendes Materiespektakel.
Manuel Bongesa blickte nach oben, murmelte – ‚dem Himmel sei Dank …‘
.
Gehirngespinste (II/III)
Manuel Bongesa hatte ihn einfach in seine Hosentasche gesteckt, diesen Fund, ohne ihn vorher genau zu betrachten. Es war, als fürchte er, dass sich dieser Gegenstand und das mit ihm erhoffte Glück sonst verflüchtigen würden. Der Glanz des Nuggets im Wasser und die angenehme, kühle Schwere des Metalls gaben ihm genug Gewissheit: Es musste sich um Gold handeln.
Was würde Martha dazu sagen? Die Nachbarn, wenn der Tagelöhner plötzlich etwas Wohlstand genoss? Plötzlich durchzuckte ein besonderer Gedanke die Vorstellungen, die Abwägungen Manuel Bongesas: War da noch mehr, viel mehr?
Sein Schritt erstarrte, irgendetwas drehte seinen Körper in Richtung Fluss, zu der Stelle, die so bedeutend für ihn werden sollte.
Schwarz. Schwärze bedeckte das sanft plätschernde Wasser, die Lichter des kleinen Hafens waren ausgeschaltet, die Rufe der Arbeiter verklungen. Es war völlig überflüssig, mit den Händen den Schlamm des Flusses abzutasten, zu fühlen, ja zu horchen – auf was auch immer.
Manuel Bongesa stieß auf einen melonengroßen Stein, wuchtete ihn auf eine Felsplatte, so war die Fundstelle wenigstens ungefähr markiert. Er war enttäuscht, erschöpft, angespannt. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Fund noch in seiner Hosentasche war, stolperte er nach Hause. Martha wollte er lieber nichts berichten, erst musste er den Wert des Nuggets kennen. Es war sicher besser, wenn man sie nicht in Versuchung bringen würde, etwas ihrer Schwester oder gar den Nachbarn zu erzählen. Er wollte sein Glück schließlich noch einmal am Fluss versuchen: Dranbleiben, nicht loslassen, solange das Schicksal auf seiner Seite war. Nun, er musste erst mal versuchen zu schlafen. –
„Martha, hast du die Tütchen von dem Magenmittel aufgehoben, das Josie mal eingenommen hat?“
Der Tagelöhner wusste, dass seine Frau nicht so leicht etwas wegwarf, man konnte ja nie wissen, ob man es noch gebrauchen konnte. Vielleicht hatte seine Tochter das Papier schon zum Basteln verbraucht.
Als Martha mit Josie die Hütte verlassen hatte, hängte er zwei Tüten an ein dickes Stück Draht, man konnte den seltsamen medizinischen Geruch der Arznei riechen, der immer noch von dem Papier ausging. Er knüpfte den Draht mit einer dünnen Schnur an einer der Dachstreben fest, um ihn auszubalancieren, eine einfache Waage war entstanden. Manuel Bongesa blickte hinter sich, stellte sicherheitshalber einen Stuhl vor die Innenseite der Hüttentür. Niemand sollte unerwartet eintreten. Seine Hände wurden feucht, er hielt die Luft an. Behutsam legte er das Goldstück in die linke Seite seiner Waage und füllte die rechte bis zum Ausgleich mit Sand. Beinahe hätte der Behälter nicht genug Sand aufgenommen, um das Gewicht des Goldes auszugleichen!
Manuel Bongesa kämpfte damit, ruhig zu bleiben, hastig verstaute er die Tüte mit dem Sand und die mit dem Nugget in seiner Hosentasche, riss den Draht von der Hüttendecke – kaum konnte er es aushalten, es trieb ihn, schnell, schnell …
„Hey, Mann, Manuel!“
Manuel erschrak und drehte sich um. Bei dieser Hitze, am Nachmittag, waren die staubigen Dorfstraßen normalerweise menschenleer. Ausgerechnet jetzt musste er seinem Schwager über den Weg laufen.
„Hey, Mann, Abutu – was machst du hier?“
„Jedenfalls nicht in der Hitze rumstehen. Kommst du mit? Ich treff mich mit ein paar Leuten vom Hafen.“
„Oh, Mann, tut mir echt leid, ich muss noch nach Bana Najam.“
„Gibts ein Problem?“
„Nee, will nur mal nach etwas Arbeit schaun.“
„Ausgerechnet da? Naja – viel Erfolg.“
Abutu grinste hämisch, hob den Arm zum Gruß und trollte sich in Richtung Hafen. Manuel war froh, dass er ihn so leicht losgeworden war. Er mochte seinen Schwager nicht besonders, niemand wusste so recht, in welche krummen Geschäfte der Typ verwickelt war.
Trotz der Hitze rannte er. In Bana Najam befand sich eine kleine Krankenstation, dort gab es eine Waage, die diensthabende Krankenschwester würde sicher sein Sandpäckchen wiegen, egal was sie sich dabei denken würde. Bis zu dem schäbigen Ort waren es vier oder fünf Kilometer, dort kreuzte die steinige Dorfpiste eine schmale, geteerte Straße. So war der Ort entstanden: Eine Tankstelle, die Krankenstation, ein kleiner Laden – Fischkonserven aus einer nahen Fabrik, Getränke, Zigaretten und natürlich auch Bier konnte man hier kaufen. Alles für nur wenige Aurongos. Fernfahrer versorgten sich dort mit Essen, zweimal am Tag gab es hier frischen Maisbrei. Zusammen mit einer Dose Sardinen ergab sich schon eine Mahlzeit, die Fische hatten zwar noch Haut und Gräten, waren aber gut.
Manuel Bongesa überlegte, während er lief, ob er sich zur Feier des Tages so ein Mahl gönnen sollte. Das Goldstück musste einfach ‘ne Menge wert sein – Mensch, die ganze Tüte war voller Sand! Außerdem: Ein Nugget war mehr wert, als Goldstaub, so wie der, den man weiter oben schürfte. Da war eine uralte, ausgetrocknete Flussschleife, die zerklüftet, braunerdig in der Landschaft lag wie eine ausgezehrte, verschrumpelte Bananenschale. Nur ein paar ausgebleichte Sukkulenten reckten sich dort noch trotzig der unbarmherzig glühenden Sonne entgegen. Die von Trockenheit gequälte Erde klammerte sich an ihre Schätze und gab sie nur widerwillig her. Der Reichtum der Goldmine war für ihn immer unerreichbar, unwirklich gewesen – doch endlich hatte er, der Tagelöhner, seinen Anteil bekommen.
Schließlich, verschwitzt, ausgelaugt, mit rasendem Herzschlag war die Krankenstation erreicht. Er trat ein und hatte Glück: auf den krummen Stühlen saßen keine wartenden Patienten, die Krankenschwester hockte alleine an einem groben Tisch, auf dem ein Mikroskop und einige Karteikästen standen. Hinten an der Wand befand sich der angerostete Arzneimittelschrank.
„Hallo Mama Rodriguez!“
Die Krankenschwester wurde von allen im Dorf ‚Mama‘ genannt: Es war so eine Art Ehrentitel, immerhin hatte sie seit etwas über fünfzig Jahren fast jedem Dorfbewohner geholfen, das Licht dieser staubigen Welt zu erblicken.
„Hallo Manuel, du hier? Du bist ja ganz viel außer Atem – komm setze dich hin. Da, ein Glas Wasser, du bist gesund, eh?“
Die ‚Mama‘ fixierte Manuel mit zusammengekniffenen Augen, wodurch ihr Gesicht noch runzeliger wurde und schob ihren wuchtigen Oberkörper nach vorn, um ihren Gast prüfend ansehen zu können. Sie trug das traditionelle buntgestreifte Schultertuch der Dorffrauen, unzählige Stunden musste sie in ihrer Jugend daran gewebt und gestickt haben. So schön das Kleidungsstück war, es wirkte inzwischen so wenig zeitgemäß wie die unbeholfene Verwendung der Amtssprache.
„Ja, ja – keine Sorge: Martha und Josie geht es gut. Und bei dir, alles gut?“
„Na, du weißt … mit über siebzig, Bein schlecht, sonst gut. Mehr Regenzeit wär nicht schlecht, einfach mehr kühl.“
„Vor allem Wasser! Den Boden im Garten kann ich kaum noch bearbeiten. Hier, schau mal – kannst du das wiegen?“
„Natürlich – huch, ist nur alles Sand!“
Kopfschüttelnd ging Mama Rodriguez, etwas schlurfend, zur Waage, die geschützt im Arzneimittelschrank stand.
„So viele von den Dünger-Körnern für den Garten passen auf meine kleine Schaufel. Ich muss unbedingt wissen, was das wiegt, wenn ich die richtige Menge ins Gießwasser geben will.“
„Ist ja schon gut, ich weiß, alles mehr teuer, gut nichts verschwenden. Weißt du, früher, früher, da haben alle Kuhdung in Erde vergraben. Mit Goldmine, kaum noch Kühe mehr zu sehen.“
Es war heiß. Manuel Bongesa spürte eine zusätzliche, innere Hitze, eine Unruhe, eine nervöse Anspannung, die er so noch nie erlebt hatte.
„Sag schon, was … wie viel wiegt das?“
„Ja, ja, was los mit dir? So eineUngeduld! Also – das vierunddreißig Gramm – vierunddreißig Komma drei Gramm, wenn du wissen willst, ganz genau. Bist du okay?“
Manuel Bongesa hatte gleich vermutet, dass er ein bedeutendes Stück Gold gefunden hatte. Aber erst seit er das genaue Gewicht kannte, war der abstrakte Wert von diesem unebenen Klumpen Edelmetall Realität geworden, so, als ob sich irgendetwas Unfassbares plötzlich in erfahrbare Materie umwandelt hätte. Er musste sich zusammenreißen.
Ein Gefühl keimte in ihm auf, ein Gefühl, das er so noch nie erlebt hatte: Stolz auf Besitz.
Rasend. Wirr erscheinend, doch geordnet in Bahnen rasend, eilend, huschende Schatten, Accumbens-Aktivität. Neuronengewitter, Nervennetze, Gespinste, verwoben, geladen, Tanz von Botenbahnen, immer weiter, selbstverstärkend, rückmeldende Endorphineintragung einzelner Einheiten, Vesikel, tröpfchentragend; Gedankenblitz-Pulsgehämmer, Jauchzen-Wollen, Tanz. Diese erstickten Laute, aus der Kontrolle entlaufenes Lachen, einfach nur Glück.
„Hallo, was mit dir los, hey, was ist, ist dir schlecht?“
Über tausendzweihundert Dollar, das war klar. Wer hier im Ort kannte nicht den Unzenpreis von Gold! Soviel Geld verdiente von den einfachen Leuten hier im Dorf kaum jemand im Jahr! Vielleicht einer von den Vorarbeitern am Hafen oder bei der Goldmine. Geldbeträge, wie sie die Land- oder Fabrikbesitzer bekamen, konnte sich der einfache Mann überhaupt nicht vorstellen.
„Ach nichts, nichts – entschuldige. Ich war bloß … irgendwie durcheinander, hab mich wahrscheinlich in der Hitze zu sehr angestrengt. Hast du noch ‘n Glas Wasser?“
„Natürlich, ihr jungen Leute zu wenig trinken, unnötig in Hitze laufen! Ich Sand wegschmeißen?“
Mama Rodriguez kümmerte sich um das Getränk, aus ihrer Erfahrung wusste sie: Wasser trinken ist eigentlich immer eine gute Sache. Sie wunderte sich, wie der Bursche geguckt hatte, über diese entgeistert blickenden Augen!
Die beiden unterhielten sich noch eine Weile, der Tagelöhner rutschte zwar ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her, musste trotzdem, um nicht weiter aufzufallen, das Gespräch fortführen wie man das halt so macht. Zwischen seinen „Ja“, „Nein“, „Ach so“ Anmerkungen konnte er nur an das Geld und die daraus entstehenden Möglichkeiten denken. So viele Dollars!
Mit einem Hinweis auf die nahende Dunkelheit und dem Versprechen, Martha vorbeizuschicken, um Bohnensamen abzuholen, verabschiedete sich der nun mit Sicherheit wohlhabende Mann.
Nach dem Gespräch mit Mama Rodriguez, stellte sich bei Manuel Bongesa eine friedvolle Art von Nüchternheit ein – seine Euphorie wurde von der Realität verdrängt, und das bedeutete einmal einen langen Nachhauseweg, den man eigentlich nicht in der Dunkelheit machen sollte. Außerdem hatte er zwar ein Stück Gold aber kaum Bargeld. Der Gedanke, sich hier in dem Fernfahrerladen etwas zu Essen zu kaufen, kam ihm irgendwie unredlich vor, auch, weil er Martha nichts von seinem Fund erzählt hatte. Es roch so verführerisch nach gegrilltem Fisch! Trotzdem machte er sich auf den Weg nach Hause, vielleicht hatte er Glück, und jemand würde ihn mit dem Moped oder einem Eselskarren mit ins Dorf nehmen, schließlich war es gefährlich abends alleine die Landstraße entlang zu laufen. Im Schatten des Ladens bei der Tankstelle standen einige junge Männer, Manuel kannte keinen dieser Gruppe. Er grüßte sie kurz, keiner von ihnen erwiderte seinen Kontaktversuch. Na gut, dann gab es halt keine Chance auf eine Mitfahrgelegenheit.
Der Heimweg war beschwerlich, obwohl die brütende Hitze aufgrund der Dämmerung nachgelassen hatte. Die positive Anspannung, die Neugier auf das Resultat der Wiegeaktion, all dieser Elan fehlte nun auf dem Heimweg. Sicher, es würde wundervoll sein, Martha endlich von seinem großen Fund zu erzählen, nur, die Frage war, wie es jetzt weiter gehen sollte: Wie kann man das Gold zu Geld machen, ohne betrogen zu werden? Würde man ihm glauben, dass dies ein Fund war, kein Diebstahl? Würden die Nachbarn neidisch reagieren, hätte man plötzlich eine Menge ‘guter Freunde‘?
Seit der Krankenstation war der Tagelöhner keiner Person mehr begegnet. Ein paar schmutzig-braune Affen turnten noch in den Bäumen am Straßenrand herum, in der Ferne hörte man das kleine Flugzeug der Minengesellschaft, angeblich transportierte es die Tagesausbeute an Gold von der Mine in die nächste Stadt, dort stand sicherlich ein fetter Tresor.
Als Manuel Bongesa an einem wuchtigen Granitfelsen vorbeikam, hörte er ein Rascheln, er drehte sich um – im selben Moment spürte er einen widerlich stechenden Schmerz und etwas Warmes an seinem Hinterkopf, er fiel zu Boden, der Geschmack von Staub, rotem, erdigem Staub breitete sich in seinen Mund aus. Eine tiefe Schwärze durchströmte seinen Schädel, erreichte die Augen und überschwemmte sie mit Dunkelheit, pochender Schmerz durchzuckte das Gespinst seiner Gedanken, machte sie sich zum Untertan.
Er spürte, wie er befingert wurde:
Handgelenk, aber da war keine Uhr,
Hemdtasche, leer.
Hosentaschen …
„Ce n’est pas croyable!“, flüsterte eine raue Männerstimme, dann rief jemand „Boah, wirklich, unfassbar! Gib her!“
„Du Arsch!“
„Das Messer weg!“
Die Stimmen wurden leiser, Manuel Bongesa wusste nicht, ob sie sich entfernten oder ob er sie einfach nicht mehr hören konnte. In seinen Gedanken gab es kein Gold mehr, keine Dollar, keine Pläne, nur noch den einen Wunsch, daheim zu sein ohne quälende Schmerzen.
Schön wäre auch eine Nachricht vom Dorfschneider oder dem Hafenmeister, dass es für ihn, Manuel, wieder eine Gelegenheit gibt, ein wenig Geld zu verdienen.
.
Phantomschmerz (III/III)
Er hörte Stimmen, ganz in seiner Nähe.
Eine helle Frauenstimme und eine andere, auch vertraut, aber trotzdem irgendwie ungewöhnlich. Manuel Bongesa versuchte seine Augen zu öffnen. Seine Lider waren schwer, das widerliche Hämmern in seinem Kopf schien jede Bewegung schon im Keim ersticken zu wollen.
Von dem Geruch nach Desinfektionsmittel wurde ihm übel, nur mühsam unterdrückte der Mann den aufkommenden Brechreiz.
„Oh, schau – er kommt zu sich“, sagte die helle Stimme.
War das Martha? Natürlich – seine Frau Martha war das, klar, die andere Frau musste ‚Mama‘ Rodriguez sein. War er noch, oder wieder, in der Krankenstation? Der beim Überfall Verletzte erinnerte sich: Er war gekommen, um herauszufinden, wie viel dieses Goldstück wohl wiegen würde, das im Morast des Flusses gesteckt hatte. Was geschah dann? Die Erinnerung an den Schlag auf den Kopf, die Tatsache, beraubt worden zu sein, vervielfältigten die Pein, die Manuel Bongesa quälte; er sackte in sich zusammen, ein dunkler Erschöpfungsschlaf nahm von ihm Besitz. –
„Wie lange war ich denn bewusstlos?“
„Mindestens eine Nacht und den halben Tag danach. Du kannst froh sein, dass dich der Wasserhändler vor der völligen Dunkelheit gefunden hat.“
„Ja, darüber bin ich froh.“
Die Schmerzen in Manuel Bongesas Körper waren fast vorüber, doch im selben Maße wie sie verschwanden, gewannen Beschwerden an Bedeutung, die der Tagelöhner bis jetzt nicht gekannt hatte: Der Verlust des Goldes, die dadurch verloren gegangenen Möglichkeiten, die Zerstörung seiner Zukunftspläne, seiner Hoffnungen hatten seinen Optimismus, seine Lebensfreude mit der bleiernen Schwärze der Entmutigung erstickt.
Hinzu kamen die zermürbenden, von tiefem Misstrauen genährten Gedanken, die immer wieder von ihm Besitz ergriffen: Wer hatte ihn überfallen? War es ein Zufall? Wer hatte etwas von dem Nugget wissen können?
Einen Namen bekam Manuel nicht aus seinem Kopf, den seines Schwagers Abutu. Der lungerte oft am Hafen bei den Arbeitern herum, um Karten zu spielen oder seine zwielichtigen Geschäfte zu betreiben. Er hätte den Goldfund trotz aller Vorsicht zufällig beobachten können. Warum war Abutu trotz der Nachmittagshitze aufgetaucht, gerade als Manuel zur Krankenstation aufbrach?
Misstrauens-Schlangenbrut, sich windend, beißend, tausendköpfiges Rumoren, Seele zerfressendes, Hoffnung lähmendes Gift. Urangst, Paranoia, phlegmatische Paralyse, zermürbende Zerrüttung – Enttäuschungs-Elend: Endlos drehende, wirbelnde Unglücksobsession.
„Was ist mit dir los, Manuel? Du treibst dich ständig im Matsch am Fluss herum, grübelst den ganzen Tag mit böser Mine, bringst kaum ein paar lausige Aurongos nach Hause – obwohl der Schneider Arbeit für dich hat! Wovon soll ich Essen kaufen, sollen wir alle hungern?“
Martha warf ihrem Mann einen bösen Blick zu, machte eine abfällige Handbewegung, ihr ganzer Körper bebte vor Wut.
Was hätte Manuel antworten sollen? Dass er hoffte, wenigstens einige Körner Gold am Flussufer zu finden? Seinen Schwager Abutu verdächtigte, ihn überfallen zu haben?
Eine erstickende Schwüle füllte ihre kleine Hütte, die kaum auszuhalten war – oder erdrückte ihn nur seine Mutlosigkeit, sein quälender Vorwurf, das erfahrene Glück verpasst zu haben?
„Du hast Abutu nie gemocht – aber weißt du was? Abutu ist jetzt Teilhaber an dem Dorfladen seines Onkels! Meiner Schwester Moya geht es jetzt gut mit ihm, die sitzt nicht mehr im Dorf in einer kleinen Hütte! Und was machst du? Du tust so, als hättest du gar keine Verpflichtungen!“
Ah, deshalb war vom Schwager keine Spur mehr im Dorf zu sehen! Manuel fühlte sich als wenn ihm jemand eine Faust in den Magen gerammt hätte. Verdammt, er hatte keine Beweise! Verführte ihn etwa sein Seelenschmerz zu falschen Verdächtigungen?
Martha war durchaus aufgefallen, dass sich Manuel vor Pein krümmte, sein entsetzter Gesichtsausdruck weckte bei ihr wohl Mitgefühl. Klar, ihr Mann hatte einen Überfall mit Verletzung gerade erst hinter sich gebracht – trotzdem musste sie ihn unbedingt zur Vernunft bringen.
„Was fehlt dir denn? Hier im Dorf kann ich auch glücklich sein! Ich will, dass Alles so ist, wie früher. Wir kamen doch zurecht! Der Schneider hat Arbeit für dich, den Unfall hast du gut überstanden, alles ist wieder gut!“
„Ja, es ist alles wieder gut.“
Manuel wusste, es war eine Lüge, ihm war bewusst, dass es für ihn niemals so sein würde wie früher – nur, eine andere Antwort war unmöglich.
Manuel Bongesas Frau Martha hatte recht behalten, leider. Ja, es war alles so, wie vor dem Unfall: Die üblichen, alltäglichen Sorgen begleiteten die kleine Familie Tag für Tag, seit fast zwei Wochen hatte Manuel kaum Arbeit bekommen. Martha musste sogar bei ihrem Schwager Schulden machen, um etwas zum Essen kaufen zu können. Schulden! Ausgerechnet bei dem zwielichtigen Abutu!
Dem Familienvater blieb keine Wahl, er musste seine Arbeitskraft am Hafen in der Hoffnung anbieten, wenigstens bis zum Abend ein paar Aurongos zu besitzen.
Manuel Bongesa hockte auf einem grauen Felsblock, unweit der Stelle, an der er einst das Nugget im Fluss gefunden hatte. Das war noch nicht lange her, aber zwischen seinem Glück, seinen Hoffnungen von damals und seinem jetzigen Befinden lagen Welten. Der Arbeitslose beobachtete das geschäftige Treiben bei den Schiffen. Das ganze Tal war von zermürbend flimmernder Hitze erfüllt, die Regenzeit machte sich jetzt deutlich bemerkbar. Ein klobiger Frachtkahn, beladen mit Zementsäcken, hatte vor ungefähr einer Stunde angelegt. Der zum Transport eingeteilte Lastwagen war ausgefallen, wahrscheinlich steckte er in einem Schlammloch fest. Jetzt wurde die Ladung auf Eselskarren geladen – Händler und Kleinbauern, die so ein Fahrzeug hatten, nutzten diese unerwartete Gelegenheit, einige Aurongos zu verdienen.
Es war interessant: Manche der Karrenbesitzer kümmerten sich gut um ihre Tiere, sorgten dafür, dass sie im Schatten warten konnten, bis sie an der Reihe waren. Andere waren schnell bereit, die Tiere schmerzhaft mit Stöcken anzutreiben. Da man ohnehin bis zur Beladung warten musste, war dies eigentlich unnötig, es schadete den Eseln mehr als es nutzte.
Wieder einmal verfiel Manuel Bongesa in eine grüblerische Stimmung: Es geht den Menschen ähnlich wie diesen geplagten Wesen. Eigentlich sollte das Wohlergehen von Mensch und Tier vom Zufall, der Gunst anderer, unabhängig sein. Goldfund hin oder her – auch ohne einen Glücksfall musste ein sorgenfreies Leben möglich sein! Sollte nicht jeder anständige, tatkräftige Mensch etwas erreichen können in einer Gemeinschaft, den Platz einnehmen, den er verdiente?
„Hallo – hey, du da!“
Manuel wurde aus seinen Gedanken gerissen. Ein großer, kantiger Mann in einem blauen Overall hatte sich vor ihm breitschultrig aufgebaut.
„Los, komm, kannst Säcke tragen. Fünf Aurongo-Cent für ‘n Sack.“
Was blieb dem Arbeitslosen übrig? Er reihte sich in die Kette der Männer ein, die halb im Laufschritt, schnaufend und keuchend ihre Last zu den Eselskarren schleppten. Zementstaub mischte sich in den Schweiß, rann brennend in die Augen, hinterließ ein stumpfes Gefühl im Mund. Der Aufseher versuchte, die Arbeiter mit Beschimpfungen anzutreiben, aber die garstig feuchte Hitze hier am Fluss, auch der zertretene Lehmboden waren stärkere Hemmnisse als die unangemessenen Bosheiten des Antreibers Motivation.
Hätte ich das Gold noch, würde mich jetzt niemand schikanieren, überlegte Manuel. Der Aufseher war vor einem Jahr selbst Hilfsarbeiter gewesen, nur durch Beziehungen an seinen jetzigen Posten gekommen. Musste man denn wirklich auf Glück angewiesen sein, um unter anständigen Bedingungen leben zu können? War das tatsächlich der einzige Weg? Warum musste es Menschen geben, die in diesen aberwitzigen Strudel des Ausgeliefertseins hineingezogen wurden, mit kaum einer Chance auf ein Entkommen?
Manuel Bonzega begriff, dass die Mächte, die das bewirkten, nicht irgendwelche schicksalsträchtigen Götter oder geheimnisvolle Kräfte des Universums waren, die ihre Willkür an den Erdenbürgern ausließen. Nein, es waren, wie bei den Eseln, denen es gut ging oder schlecht, ganz konkret fassbare Personen, die sich manchmal hilfreich, manchmal auch zerstörend in den Lebenslauf von Menschen einmischten.
Ganz gleich welche Einflüsse sein Leben bestimmten – Manuel Bongesa, der Tagelöhner ohne Arbeit, fühlte sich als Spielball von Mächten, denen er ausgeliefert war. In seiner Umgebung, konnte er überall weitere menschliche Spielbälle beobachten, die hier Zementsäcke schleppten, dort ackerten, bauten, in Büros saßen; kämpften, stritten, lachten, liebten – alles nur, um einen Anteil von dem Glück zu erhaschen, das es überall auf der Welt gab, doch offensichtlich nicht für jeden.