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Manuel
„Ich verstehe das nicht“, sagte Manuel ratlos. „Wir sind doch immer gut miteinander zurecht gekommen. Hast du an meiner Arbeitsweise irgendetwas auszusetzen?“
„Na ja …“ Erwin zögerte. Er hatte schon seit einer Weile gewusst, dass dieses Gespräch notwendig sein würde, und ihm mit einiger Beunruhigung entgegen gesehen. Es war nicht leicht, mit Manuel zu diskutieren. Meistens zog Erwin den Kürzeren. Aber diesmal stand sein Entschluss fest.
„Weißt du, du machst deine Sache schon gut“, sagte er schließlich. „Aber du übertreibst es ein bisschen.“
„Ich übertreibe?“ Andere Leute hätten empört nach Luft geschnappt, Manuel hingegen breitete mit einer heftigen Bewegung seine Flügel aus. Der eine brachte die Deckenlampe zum Pendeln, der andere warf Erwins Yuccapalme um. Fast erschrocken faltete Manuel seine Flügel wieder zusammen. „Ich übertreibe?“, wiederholte er ein bisschen ruhiger. „Ich bitte dich, ich tue doch nur meine Arbeit!“
„Ja, und das ist ja auch sehr schön“, entgegnete Erwin gequält. „Trotzdem. Deine dauernde Anwesenheit macht mich ein bisschen nervös.“
„Andere Leute wären froh über einen so aufmerksamen Schutzengel“, hielt Manuel ihm entgegen und verschränkte die Arme. „Ich hab Kollegen, wo es ganz anders läuft. Dieser Flugzeugabsturz letzte Woche zum Beispiel. Wenn Samuel und seine Freunde auf ihren Kegelabend verzichtet hätten, wären da bestimmt weniger Leute ums Leben gekommen. Das ist ein Fall von grober Fahrlässigkeit und du solltest dich glücklich schätzen, dass ich …“
„Ja, aber weißt du, zuviel Fürsorglichkeit ist auch nicht gut.“ Erwin wies auf seinen Knöchel. „Weißt du, warum der geschwollen ist?“
Manuel rückte verlegen seinen Heiligenschein zurecht.
„Du bist auf der Treppe gestolpert. Was mir sehr leid tut, denn ich habe extra alle Stufen überprüft –“
„Ich weiß. Deswegen bin ich auch über dich gestolpert.“
„Aber wenigstens nicht über eine lockere –“
„Hör auf, Manuel. Das ist ja nicht das einzige Beispiel. Letzte Woche an der Ampel –“
„Du wolltest bei Rot gehen!“, verteidigte sich Manuel. „Ich habe dich nur von der Fahrbahn gezogen.“
„Und zwar auf den Radweg, danke sehr. Jetzt weiß ich auch, was es heißt, sich gerädert zu fühlen.“
„Aber du bist wenigstens von keinem LKW überrollt worden.“
„Das wäre nun auch nicht mehr viel unangenehmer gewesen“, brummte Erwin und erinnerte sich an den Aufprall des Vorderrades zwischen seinen Beinen, was ihn zu seinem nächsten Punkt brachte.
„Und was war das bitte schön für eine Aktion, als du Marlene aus meinem Bett gezerrt hast?“
„Was das war? Du hattest kein Kondom, Erwin! Jedes Kind weiß doch -“
„Mag sein, aber ein wirklich guter Schutzengel hätte mir eins besorgt und nicht meine Freundin auf den Fußboden geworfen!“
„Ich weiß doch nicht, wie man diese komischen Automaten bedient“, sagte Manuel hilflos und warf einen Blick auf die sanft weiterpendelnde Deckenlampe. „Und außerdem ist Marlene doch gar nicht deine Freundin.“
„Nein. Jetzt nicht mehr.“
Einen Moment herrschte betroffenes Schweigen. Manuel zupfte eine Feder aus seinem linken Flügel und drehte sie gedankenverloren zwischen seinen Fingern.
„Trotzdem“, setzte er schließlich an. „Das ist doch kein Grund für eine Kündigung. Ich meine es doch nur gut. Ich könnte mich bessern. Es gibt auch Fortbildungsseminare. Ich kann ja mal mit Gabriel reden …“
„Vergiss es, Manuel“, unterbrach ihn Erwin. „Es ist vorbei. Ich möchte unser Dienstverhältnis zum nächstmöglichen Termin auflösen.“
Manuel betrachtete das zerknautschte Etwas, das eben noch eine Feder gewesen war, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
„Oh nein, bitte“, sagte Erwin verlegen.
„Das kann nicht dein Ernst sein“, schluchzte Manuel und schnipste die Knautschfeder über Erwins Schreibtisch. „Du bist doch gar nichts ohne mich. Und weißt du eigentlich, was mit entlassenen Schutzengeln passiert?“
„Ach, du findest sicher bald einen neuen Schützling.“
„Nein! Der Chef wird mich als ungeeignet einstufen. Wahrscheinlich kriege ich zur Strafe diesen dämlichen Wachposten vor dieser Gartentür, wo ich den ganzen Tag so ein dummes Schwert halten muss, und ich habe doch eine Metallallergie!“
Er fuhr sich mit seinem weiten Ärmel über die Nase und fuhr fort: „Oder ich muss eine Umschulung machen und werde ins Orchester eingewiesen, dabei kriege ich doch immer Schluckauf beim Posaunespielen, oder sie degradieren mich zum weihnachtlichen Wunschzetteleinsammler, oder vielleicht …“ Er schluchzte immer heftiger, und Erwin reichte ihm ein Taschentuch.
„Danke“, murmelte Manuel. „Auf alle Fälle ist Schutzengel mein Traumberuf. Meine Arbeit macht mich glücklich. Du kannst mich doch nicht vor die Tür setzen.“
„Es tut mir Leid, Manuel, aber an meiner Entscheidung ist nichts zu rütteln. Ich habe beschlossen, dass ich mit eurem ganzen Verein nichts mehr zu tun haben will.“
„Wie meinst du das?“
„Ich mache auch eine Art Umschulung. Ich werde jetzt Atheist.“
„Aber Erwin!“
Manuels Augen waren jetzt kullerrund und erschrocken. „Wie kannst du denn so was beschließen?“
Erwin warf einen kurzen Blick auf seinen Knöchel. „Ich denke, es wird mir ganz gut gehen.“
„Aber so wirst du niemals ins Himmelreich kommen!“
„Eure Eintrittspreise sind mir eh zu happig. Als Atheist kann ich sonntags wenigstens ausschlafen.“
„Du solltest noch mal darüber nachdenken“, murmelte Manuel. „In unser beider Interesse.“
„Es gibt nichts nachzudenken. Wenn du jetzt bitte gehen würdest?“
„Vielleicht quetschen sie mich auch einfach auf eins dieser Buntglasfenster. Das kannst du nicht zulassen, Erwin!“
Mit unbewegter Miene wies Erwin zum Fenster. Manuel seufzte ein letztes Mal, kletterte aufs Fensterbrett und breitete seine Flügel aus.
„Leb wohl, Erwin!“, sagte er traurig und flog davon.
Erwin ließ sich erleichtert in seinen Drehstuhl sinken. Endlich. Er war frei und unbeobachtet. Sein Leben würde ab heute entscheidend ruhiger und schmerzloser verlaufen. Er lehnte sich zurück und schloss entspannt die Augen.
Die Deckenlampe über ihm schaukelte noch immer.
Bis sie sich löste und Erwin erschlug.