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Marathon

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29.06.2007
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Marathon

Marathon

Ich betrachte meine Füsse, meine nackten Füsse (die Schuhe habe ich bereits am Anfang weg geworfen, weil sie mich gestört haben) und siehe den Tränen zu, die hin und wieder nach dem unweigerlichen Gesetz der Schwerkraft darauf tropfen. Noch ringe ich nach Luft, mein Kopf pocht so sehr, dass er droht, zu zerplatzen, und wie von weit her oder durch einen dichten Nebel höre ich das Getöse und Gebrause der Zuschauer. Sie schreien. Aber ich sehe ihre offenen Münder nicht, denn mein Gesicht ist noch immer nach unten gerichtet. Was meine Augen da sehen, meine grossen, braunen, kaputten Füsse, das ist der zweitgrösste Schatz, den ich besitze. Sie haben mich ein – zwar noch junges – Leben lang getragen, haben selten die ledrige Sohle eines Schuhs gespürt oder spüren müssen, sondern stoppelige Gräser und die meist trockene, heisse Erde Afrikas. Sie haben mich stets sicher über das Land geführt, sie haben es gespürt, in ihnen liegt die Erinnerung meines Kontinents, falls ich ihn einmal verlassen sollte. Aber das Wichtigste ist, dass sie mich von all dem Elend fort getragen haben, von Hunger, Durst und Armut, sie haben die Angst meines Vaters zertrampelt und sie in wahnsinnigen Stolz verwandelt.
Ich bin gelaufen. Habe mit meinen Füssen die Vergangenheit getreten, sie zerstampft, sie schliesslich hinter mir gelassen. Ich bin geflohen, immer schneller, weil ich fürchtete, sie könnte mich wieder einholen. Schliesslich bin ich um mein Leben gerannt. Im Rhythmus des Pulsschlags. Meine Beine spürte ich nicht mehr, keinen Schmerz, keine stechenden Lungen; alles, was ich von der Gegenwart wahrnahm, war der Pulsschlag, zu dem ich lief. Ich schaute nicht auf den Boden, überliess meinen Füssen den Weg. Sie würden ihn schon finden, dachte ich, wie sie ihn noch immer gefunden haben.
Und dann, auf einmal, sah ich ein Ziel. Wenn ich es erreichte, so wusste ich, würde es mein Leben verändern. Meines und das meiner Familie – immerhin. Und es würde den Stolz Afrikas schüren: Ich war zuvorderst. Das Ziel so nah, so greifbar, lächelte ich. Ich lächelte tatsächlich, mitten auf der Rennbahn. Die Freude liess mein Herz noch schneller schlagen, und meine Füsse bewegten sich im Takt dazu. Und jetzt kamen mit jedem Fusstritt die Erinnerungen - nur waren es diesmal schöne Gedanken, Augenblicke einer glücklichen Kindheit, oder besser: glückliche Augenblicke meiner Kindheit. Wie aus dem tiefsten Innern meines Herzens kamen sie, es gab sie wirklich, ich erinnerte mich. Und diese Gewissheit, dass ich schon einmal glücklich war, spornte mich noch mehr an. Ich flog beinahe; mit ausgebreiteten Flügeln flog ich der weissen Ziellinie entgegen.
Und dann war ich drüber. Ein ohrenbetäubender Knall, der Jubel. Schreiende Zuschauer mit weit offenen Mündern, die ich nicht sah, weil ich als erstes den Kopf senkte, meine Füsse betrachtete und weinte. Ich habe einen Marathon gewonnen, denke ich jetzt, und alles, was ich kann, ist weinen und meine Füsse betrachten. Aber es schüttelt mich, ich kann nichts daran ändern. Lautlos schluchze ich und die Tränen fliessen… Erst langsam wird mir bewusst, dass die Menschen wegen mir schreien, mir zujubeln, sich umarmen, weil ich gewonnen habe. Dann hebe ich den Kopf, meine Augen der Tribüne zugewandt, und durch meinen Tränenschleier hindurch sehe ich ein Meer von wedelnden Händen; viele glückliche, lachende, auch weinende Gesichter strahlen mir entgegen. Auf einmal packt mich eine unendliche Freude, von tief drinnen, wie die schönen Erinnerungen, und endlich schreie auch ich mit ihnen, lachend und weinend gleichzeitig, und strecke meine Fäuste in den Himmel.

 

Hallo Anouschka,

du schreibst aus der Sicht eines Schwarzen, der immer barfuss gerannt ist und sicher nicht anfangs eines Laufes Laufschuhe anzieht. Und das ist der Anfang und das erste Beispiel deiner Geschichte, von der der Autor zu wenig weiß, um sie besonders zu machen.

Du schreibst gut und flüssig und es war sicher keine Qual, deinen Text zu lesen: Aber du hast über ein Thema geschrieben, über das du zuwenig weißt.
Der Schwarze mit seinen Gefühlen, mit seinem wirklichen Stolz und auch seiner Verpflichtung seinem Land gegenüber kam nicht herüber. Seine früheren Erfahrungen mit dem Laufen in Afrika, seine Familie, wie er sich wirklich fühlt, all das konnte ich nicht spüren, weil du es nicht in die Geschichte integriert hast.

Die Gschichte hätte eine Studie eines Marathonläufers sein können, dass dieser ein Schwarzer ist, sollte für dich ein Hauptaugenmerk sein, aber so, wie diese Geschichte geschrieben steht, könnte sie mit ein paar kleinen Veränderungen auch die eines Weißen sein.

Du musst dich fragen, was dir wichtig ist: Der Marathonläufer oder der schwarze Marathonläufer? Das können dann zwei ganz unterschiedliche Geschichten sein.

Mal von meiner grundsätzlichen Kritik abgesehen finde ich aber, dass du unterhaltsam schreiben kannst.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo!
Danke für die Kritik, aber ich bin nicht mit ganz allem einverstanden. Ich versuche, es zu erklären.

Wenn ich sage "der Fuss hat nie eine ledrige Sohle gespürt", dann beziehe ich mich nicht auf ein Rennen, sondern darauf, dass er dort, wo er aufgewachsen ist, vielleicht nicht immer Schuhe hat tragen können, weil sie dort keine hatten. Es ist nicht unlogisch, dass er bei diesem einen Marathon dann Schuhe trägt - wer rennt beispielsweise an der Olympiade einen Marathon ohne Schuhe? Man würde wohl nicht einmal zugelassen... Es ist nicht unlogisch, weil es tatsächlich einen Mann gibt, der früher nicht immer, um nicht zu sagen selten, Schuhe getragen und dann tatsächlich an einem Olympiaden-Marathon (mit Schuhen) teilgenommen hat, und dieser Mann ist Haile Gebreselassie (Goldmedaillengewinner). Wieso sollte er einfach so keine Schuhe anziehen??

Ich finde, in dieser Geschichte ist nicht wichtig, ob es ein Marathonläufer oder ein schwarzer Marathonläufer ist; hauptsächlich ist er ein Läufer, der mit einem guten Marathonlauf seine Vergangenheit, sein Elend zurücklassen und einen Neuanfang versuchen will. Spielt es da eine Rolle, ob er weiss oder schwarz ist? Armut kann jeden treffen! Ich gebe zu, vielleicht hätte ich gar nicht erwähnen sollen, dass er Afrikaner ist - offensichtlich verwirrt das - aber ich hatte beim Schreiben unwillkürlich diesen Haile Gebreselassie im Kopf.

Du sagst, seine Gefühle und sein Stolz, seine Verpflichtungen kamen nicht herüber. Aber ist das wirklich so wichtig? Für mich ist der einzige Gedanke, der zählt, dass er seine Vergangenheit zurücklassen will - und dass er am Schluss emotionsgeladen ist, weil er es endlich (erfolgreich) gechafft hat, mit einem Olympiaden-Marathon seinen Lebensmarathon zu besiegen, den er zweifellos gehabt hat.

Der Marathonläufer ist keine bestimmte Person (obwohl ich, wie gesagt, zugegebenermassen Haile Gebreselassie im Kopf habe), also kann niemand beweisen, dass seine Gedanken bei Marathonläufern nicht existieren können. Ich stimme mit dir überein, dass ich zu wenig weiss über das Marathonlaufen oder über Schwarze, allerdings dachte ich nicht, dass das so schlimm sein würde, weil einfach die gefühle (irgend)eines fiktiven Individuums wichtig sind. Es hat nichts mit einer STUDIE eines Marathonläufers zu tun.

Was ich also nicht begreife, ist, wieso ich über ein Thema (Marathon, Schwarze) mehr wissen muss, wenn nicht dieses Thema, sondern die Gefühle eines erfundenen Individuums, welche auf irgendweine Person egal welcher Ethnie zutreffen könnten, wichtig sind.

Gruss, Anouk

 

Hallo Anouk,

ich kann deine Antwort so stehenlassen. Ich habe von meiner Warte nur geschrieben, wie die Geschichte auf mich gewirkt hat und welche Gedanken mir dazu kamen.

Ich habe mich dabei zu sehr auf die Tatsache, dass es ein Schwarzer ist, versteift und darum mehr zu diesem Thema erwartet. Aber das ist meine Erwartungshaltung, die du deswegen nicht erfüllen musst :).

Lieben Gruß
bernadette

 

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