Marathon
Marathon
Ich betrachte meine Füsse, meine nackten Füsse (die Schuhe habe ich bereits am Anfang weg geworfen, weil sie mich gestört haben) und siehe den Tränen zu, die hin und wieder nach dem unweigerlichen Gesetz der Schwerkraft darauf tropfen. Noch ringe ich nach Luft, mein Kopf pocht so sehr, dass er droht, zu zerplatzen, und wie von weit her oder durch einen dichten Nebel höre ich das Getöse und Gebrause der Zuschauer. Sie schreien. Aber ich sehe ihre offenen Münder nicht, denn mein Gesicht ist noch immer nach unten gerichtet. Was meine Augen da sehen, meine grossen, braunen, kaputten Füsse, das ist der zweitgrösste Schatz, den ich besitze. Sie haben mich ein – zwar noch junges – Leben lang getragen, haben selten die ledrige Sohle eines Schuhs gespürt oder spüren müssen, sondern stoppelige Gräser und die meist trockene, heisse Erde Afrikas. Sie haben mich stets sicher über das Land geführt, sie haben es gespürt, in ihnen liegt die Erinnerung meines Kontinents, falls ich ihn einmal verlassen sollte. Aber das Wichtigste ist, dass sie mich von all dem Elend fort getragen haben, von Hunger, Durst und Armut, sie haben die Angst meines Vaters zertrampelt und sie in wahnsinnigen Stolz verwandelt.
Ich bin gelaufen. Habe mit meinen Füssen die Vergangenheit getreten, sie zerstampft, sie schliesslich hinter mir gelassen. Ich bin geflohen, immer schneller, weil ich fürchtete, sie könnte mich wieder einholen. Schliesslich bin ich um mein Leben gerannt. Im Rhythmus des Pulsschlags. Meine Beine spürte ich nicht mehr, keinen Schmerz, keine stechenden Lungen; alles, was ich von der Gegenwart wahrnahm, war der Pulsschlag, zu dem ich lief. Ich schaute nicht auf den Boden, überliess meinen Füssen den Weg. Sie würden ihn schon finden, dachte ich, wie sie ihn noch immer gefunden haben.
Und dann, auf einmal, sah ich ein Ziel. Wenn ich es erreichte, so wusste ich, würde es mein Leben verändern. Meines und das meiner Familie – immerhin. Und es würde den Stolz Afrikas schüren: Ich war zuvorderst. Das Ziel so nah, so greifbar, lächelte ich. Ich lächelte tatsächlich, mitten auf der Rennbahn. Die Freude liess mein Herz noch schneller schlagen, und meine Füsse bewegten sich im Takt dazu. Und jetzt kamen mit jedem Fusstritt die Erinnerungen - nur waren es diesmal schöne Gedanken, Augenblicke einer glücklichen Kindheit, oder besser: glückliche Augenblicke meiner Kindheit. Wie aus dem tiefsten Innern meines Herzens kamen sie, es gab sie wirklich, ich erinnerte mich. Und diese Gewissheit, dass ich schon einmal glücklich war, spornte mich noch mehr an. Ich flog beinahe; mit ausgebreiteten Flügeln flog ich der weissen Ziellinie entgegen.
Und dann war ich drüber. Ein ohrenbetäubender Knall, der Jubel. Schreiende Zuschauer mit weit offenen Mündern, die ich nicht sah, weil ich als erstes den Kopf senkte, meine Füsse betrachtete und weinte. Ich habe einen Marathon gewonnen, denke ich jetzt, und alles, was ich kann, ist weinen und meine Füsse betrachten. Aber es schüttelt mich, ich kann nichts daran ändern. Lautlos schluchze ich und die Tränen fliessen… Erst langsam wird mir bewusst, dass die Menschen wegen mir schreien, mir zujubeln, sich umarmen, weil ich gewonnen habe. Dann hebe ich den Kopf, meine Augen der Tribüne zugewandt, und durch meinen Tränenschleier hindurch sehe ich ein Meer von wedelnden Händen; viele glückliche, lachende, auch weinende Gesichter strahlen mir entgegen. Auf einmal packt mich eine unendliche Freude, von tief drinnen, wie die schönen Erinnerungen, und endlich schreie auch ich mit ihnen, lachend und weinend gleichzeitig, und strecke meine Fäuste in den Himmel.