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Maria
Am besten soll sie nichts sagen, nichts fragen, nichts machen, keinen Mucks, soll sich in Luft auflösen, sich tot langweilen. Unter der Woche darf sie nicht raus. Ganz einfach, weil sie es nicht darf. Manchmal schläft Maria darum ein paar Stunden. Oder sie sitzt am Fenster des Zimmers, das sie sich mit dem Bruder teilt und schaut abwechselnd auf ihr Handy und nach draußen. Ein TikTok mit in der Sonne tanzenden Frauen und darüber gelegtem Filter, ein Blick in den Regen, der auf dem grauen Pflaster Pfützen bildet. Sie stellt sich vor, wie sie die Straße entlanggeht. Sie könnte abbiegen, die Kapuze ihrer Jacke hochgeschlagen, könnte an der Kreuzung, wo es zur Sporthalle geht, durch die Unterführung hindurch, auf der anderen Seite die Treppen hoch und schon wäre sie beim Bahnhof. Dort würde sie in den Zug steigen, der halbstündlich kommt und fünfundzwanzig Minuten braucht, um in die Stadt zu fahren. Sie würde sich dort etwas zu essen holen, eine Nussecke vielleicht, das Geld wäre dann ja egal, und später würde sie in einen anderen Zug steigen und irgendwohin davonfahren.
Vor dem Zimmer schlägt ihr kleiner Bruder gegen die Tür. Maria hat den Stuhl mit der Lehne unter die Klinke gestellt. Er schreit, weil er hereinwill zu ihr und anders kann er es nicht sagen. Alles, was er kann, ist schreien und greifen und beißen und schlagen. Maria regt sich nicht. Noch einen Augenblick lang schaut sie aus dem Fenster, bevor sie aufsteht und den Stuhl wegzieht, damit es keinen Ärger gibt mit der Mutter, die vor einer halben Stunde von der Arbeit kam und im Wohnzimmer ihre Serien schaut. Der Bruder stürmt an ihr vorbei. Er schmeißt seine Jacke in die Ecke und dann greift er nach ihrem Handy. Maria ist schneller. Sie zieht es weg und gibt ihm einen Stoß. „Nein!“, sagt sie, und als er noch mal zugreift, knallt sie ihm eine.
Der Weg zur Schule ist nicht weit, trotzdem kommt sie oft zu spät. Ihre Mutter ist ab halb sechs auf Arbeit, der Vater sowieso unterwegs, also lässt sie sich Zeit. Sie weiß, wie es dort ist, wie es riecht und wer auf den Gängen herumläuft. Sie weiß, was man sagt zueinander, kennt die Blicke, weiß, was man tun müsste, um nicht unterzugehen. Sie kommt, da ist die zweite Stunde schon beinahe vorbei. Der Lehrer trägt sie in das Klassenbuch ein und Maria setzt sich auf ihren Platz. Sie fragt sich, warum es immer so laut sein muss in dieser Klasse. Der Lehrer, der ihr ein Arbeitsblatt hinlegt, ist ein Schwächling. Kollegen, Schüler, sogar ihre Eltern – alle sagen das. Niemand hört ihm zu, wenn er meint, dass sie still sein sollen oder wenn er ihnen Arbeitsaufträge gibt oder wenn er überhaupt irgendetwas will von ihnen. Er kann nichts dagegen tun, außer Namen an die Tafel zu schreiben und Strafarbeiten zu verteilen, die niemand macht und niemand abgibt. Also sagt er nichts mehr und er sagt auch nichts, als Leonardo durch den Klassenraum ruft: „Maria, du Hure. Heute schon Loch gegeben?“
Er tut, als hätte er es nicht gehört und Maria hält sich an ihrem Stift fest und sieht auf das Arbeitsblatt.
In der Pause steht sie unter einem Baum auf dem Schulhof und wartet, dass es wieder klingelt. Seit das Gerücht herumgeht, dass sie eine Schlampe ist und Tom aus der achten einen geblasen hat, steht sie alleine. Karo hat damit angefangen. Als Maria sie angesprochen hat, hat Karo behauptet, sie hätte gar nichts gesagt. Warum Maria diesen Bitchmove mache und ihr so etwas unterstellen würde? Richtig ehrenlos das. Maria sagte nichts mehr, als Karo sich vor ihr aufbaute und sie vor allen anschrie, obwohl sie wusste, dass sie damit einen Fehler macht.
Wegen der Herbstmesse am Samstag ist es im Zug voller als sonst. Maria sieht auf den Boden oder aus dem Fenster. Die Schultern zieht sie hoch, ohne es zu merken, die Hände hält sie verschränkt. Mit den Fingern knibbelt sie die Haut an den Nägeln auf und manchmal zieht sie dünne Hautfäden so weit ab, dass es beginnt zu bluten. Als sie aufschaut, sieht sie eine ältere Frau, die ihr freundlich zulächelt. Maria weiß nicht, was die von ihr will. Schnell schaut sie weg, steht auf, setzt sich woanders hin, sieht aus dem Fenster und stellt sich vor, sie wäre alleine.
Die roten, blauen, grünen und gelben Neonlichter der Fahrgeschäfte vermischen sich im Nieselregen zu einem bunten Schleier. Maria ist mit ihrer Cousine unterwegs. Natalia ist älter, schon vierzehn. Sie hat Kaugummi im Mund und raucht und wenn sie lacht, lacht auch Maria. Die Männer sehen ihr hinterher, die Schminke macht sie erwachsen und sie nimmt zwei Zigaretten gleichzeitig zwischen die roten Lippen, zündet sie an und gibt Maria eine davon. Der Filter schmeckt nach Erdbeerkaugummi, findet Maria und neben Natalia ist sie mit einem Mal doppelt so groß. Wenn sie von Karo erzählt, sagt Natalia, dass man diese Piç ficken sollte, richtig fertigmachen. Maria stellt sich vor, wie das wäre, und ein klein wenig hofft sie sogar, dass sie Karo heute treffen.
Zusammen laufen sie über die Messe, paffen ihre Zigaretten, machen Duckface-Selfies vor dem Riesenrad und Tiktoks vor dem Breakdance und wenn irgendein Typ zu lange glotzt und sie mit Chayas anspricht, zwinkert Natalia ihm zu und fragt, ob er denn ein echter Talahon ist. Dann lachen sie, machen Kussmund und gehen händchenhaltend weiter. Maria mag die laute Musik, die Geräusche der Fahrgeschäfte und das Kreischen derjenigen, die darin sitzen. Sie mag die verzerrten Ansagen aus den Kabinen, in denen man Plastikchips kaufen kann, den Geruch nach gebrannten Mandeln, nach Zuckerwatte und nach künstlichem Rauch, der ja gar kein Rauch ist, sondern nur Wasserdampf und vor allem mag sie Natalia. Sie denkt, dass solche Momente wie heute Abend am besten niemals enden sollten.
Aber natürlich enden sie und am nächsten Tag ist wieder alles grau und kalt und nass. Keine Neonlichter mehr, keine Zuckerwatte. Natalia antwortet nicht, als Maria schreibt, dass sie den Abend einfach hammer fand. Alle zwei Minuten aktualisiert sie den Chatverlauf und je näher der Montag rückt, desto mehr zieht es ihr alles zusammen.
Am Nachmittag fährt die Mutter mit dem Bruder weg und der Vater ist bis zum nächsten Freitagabend auf Montage. Maria geht in die Küche und gießt sich ein Glas Wasser ein. Im Bad nimmt sie den dunkelroten Lippenstift ihrer Mutter von der Ablage. Sie schminkt sich die Lippen und posiert vor dem Spiegel. Wenn sie den Mund spitzt, sieht sie ein klein wenig aus wie Natalia, findet sie. Sie drückt die Brust heraus und tut so, als würde sie rauchen. Nach ein paar Minuten wischt sie die Schminke ab. Einen Moment steht sie vor dem Spiegel und denkt nach. Dann geht sie ins Wohnzimmer zu der hellblauen Kommode herüber, die an der Wand steht. Schwarze Bilderrahmen aus Plastik sind darauf. Maria ist auf einem Bild zusammen mit ihrem Bruder und sieht in die Kamera. Ihre Mutter sagt, dass sie darauf viel zu dünn aussieht, wenn sie abends wieder kaum etwas von ihrem Essen herunterbekommt. Auf einem anderen Foto ist der Vater, wie er im Unterhemd in der Küche steht. Man erkennt seine starken Arme, sieht, wie er grinst, obwohl er selten grinst, weil er nach der Arbeit zu müde dazu ist.
Maria öffnet die oberste Schublade. Briefe und Papier liegen darin. Ein Feuerzeug, ein Kartenspiel von der Sparkasse. Sie schiebt das Zeug zur Seite. Darunter sieht sie das grüne Taschenmesser, das sie gesucht hat. Sie zögert kurz, dann nimmt sie es heraus, schließt die Schublade und steckt es ein. Einen Moment steht sie im Wohnzimmer und fühlt das Gewicht des Messers in der Hosentasche ihrer dünnen Stoffhose. Sie lauscht, aber es ist ganz still. Sie geht in ihr Zimmer, schließt die Tür hinter sich, stellt den Stuhl unter die Klinke, geht zu ihrem Schulranzen herüber, der unter dem Schreibtisch steht und zieht den Reißverschluss auf. Im hintersten Fach des Rucksacks versteckt sie das Messer. Das Ziehen in ihrem Bauch ist jetzt so stark, dass es beinahe kitzelt und sie schluckt und muss Luft holen und sie weiß nicht, ob sie lachen oder heulen oder beides gleichzeitig soll.