Marianne
Wie ein Uhrwerk ist das Gepolter aus dem Treppenhaus. Marianne, ich höre sie, weil sie klingt wie niemand anders, stechend und sanft und dabei so völlig gleichmäßig; keiner ihrer Schritte scheint auch nur den Bruchteil einer Sekunde vom Takt abzuweichen. Daß sie tatsächlich näherkommt, höre ich nur durch die Lautstärke und nicht, wie man meinen mag und man sie eben nicht kennt wie ich es tue, aus dem langsamer werdenden Geräusch ihrer hochhackigen Stiefel auf dem Holz der Treppe, zu erschöpfen scheint sie nicht. Sie ist wie Essig und Feuer in meinen Wänden, wie jedes Mal, da sie durch die schwerlich sich öffnende Tür in den dunkel schattierten Flur tritt, mich einem Moment lang erwartend anblickt, scherzt und sagt: "Willst du mir nicht den Mantel abnehmen?" Kaum gesagt, lacht sie auch schon, versieht es mit einem Schimmer, das zuckre Necken, wie sie sagt; aber es ist ihr tödlich ernst damit, das weiß ich, doch sie versteckt es geschickt, wenn ich, ebenso schmunzelnd wie immer, schließlich zu ihr geeilt und den Mantel in meinen Händen haltend, während sie sich daraus befreit, ihr Gesicht nicht sehen kann. Marianne, Richter und Henker.
Mit skeptischen Blicken sieht sie sich jedes Mal alle Winkel meiner Wohnung an, sucht, findet, entdeckt Neues, beschmäht das Alte, durchleuchtet alles während sie durch den Flur schreitet, dringt, ohne auch nur eine Frage, in mein Wohn- und Schlafzimmer ein, während ich in der Tür drapiert bleibe und sie mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier beobachte. So manches hier liegt nur für sie bereit, manches Andere ist nur für sie versteckt. Jeder ihrer Schritte auf dem Holzfußboden soll natürlich erscheinen, ihr Rundgang ist kein Rundgang, sondern fügt sich nahtlos und völlig nebensächlich in das eigentliche Geschehen, das übliche Gerede ein. Wie es mir gehe, fragt sie und ich antworte, dann meine Gegenfrage, wie auch sonst, obwohl ich es ehrlicher meine, als es in ihren Ohren klingen muß, und sie erzählt, von ihrer Scheidung, die im Gange sei - ihr Blick von den Büchern abgezogen streift mich kurz - allen Quälereien, von denen man hoffte - und ich nicke - daß sie nur die anderen, nicht jedoch einen selbst treffen mögen, so ist es, ja, in die Küche, sage ich, einen Kaffee trinken, das sei mein Tribut an die Gastfreundschaft, und lache, hoffe, daß es ansteckend wirkt.
"Nein, danke."
Sie mustert eines der unfertigen Bilder auf meinem Schreibtisch und sagt, ohne den Kopf zu heben: "Das fragst du mich jedesmal, du weißt doch, daß ich keinen Kaffee trinke."
Natürlich weiß ich es. Die Gedanken von den Bildern nehmen, keinen Funken geben, etwas dazwischenwerfen. Ich sehe ihr zu und kann nichts tun. Wohin mit meinen Händen. Nur immer weiter, nicht ablassen, etwas weiteres sprechen, dann kann ich Marianne vielleicht in die Küche drängen. Es ist wie Schach. Der Fisch muß vom Köder, aber anders habe ich es doch nicht gewollt, hier baumelt sie. "Ich werde einen trinken", sage ich und wende meinen Körper aus der Tür, Marianne sehe ich auffordernd an. Sie hat meinen Blick ganz sicher bemerkt, einige Sekunden länger, ein Blatt wendet sie noch zur Seite, durchschaut mein Spiel und hebt den Kopf wie eine Sphinx. Wortlos, so gefährlich klingt es, folgt sie mir in die Küche.
Noch immer. Mir ihr reden. Ein ebenbürtiger Gegner sein; nur so kann es passieren, daß man einander kein Gegner mehr ist. Marianne in der Küche. Sie setzt sich, noch bevor ich ihr einen Platz anbieten kann, an den kleinen runden Tisch direkt neben dem Fenster. Hinter mir, die Tür zum Flur lasse ich geöffnet, so wirkt alles ein wenig größer und ich bin nicht gänzlich gefangen mit dem Löwen im Käfig. Der Tisch hat eine sadistische Höhe; gerade hoch genug, daß man seine Hände und Arme nicht darauf deponieren mag, sondern sie, nach langem Kämpfen und Wägen, wie von plötzlicher Schwäche überfallen, schließlich im Schoß belassen muß. Dennoch wird man es immer wieder versuchen.
Ohne sie seit ihrem Einmarsch in die Küche noch einmal angesehen zu haben, bereite ich mir den Kaffee. Die Griffe und Besorgungen, die mir sonst wie nichts aus den Händen fallen, verlangsame ich ein wenig, gerade so viel, daß, Marianne darf doch nichts bemerken, und ich bin einige Momente länger von ihrem Blick befreit.
Geräuschlos setze ich mich zu ihr, heißer Dampf steigt zwischen uns auf.
Eine Weile lang sagt keiner ein Wort. Den Boden, den Herd, alles, betrachten. Noch einmal.
"Was ist mit deiner Stirn geschehen?" fragt Marianne mich plötzlich, in einem Ton, der nicht fürsorglich, sondern verzagend ist.
Das ist das schlimmste daran. An Fragen. Am Antworten. Was ist das Richtige? Schweigen kann ich nicht. Ein Schweigen in Mariannes Gesicht zieht noch mehr Fragen nach sich, sie würde beginnen, an mir zu zupfen, dann zu ziehen. Und wenn sie mich schließlich herumreißt, mich packt mit ihren Stichen, bin ich vollends gefangen und beginne zu stammeln, nach Worten zu klauben, die eine Antwort zu approximieren versuchen, eine Antwort, die ich meist nicht einmal kenne. Dann bohrt sie tiefer und quetscht an mir herum und ich möchte sie hinauswerfen, sie bitten zu gehen, doch das weiß sie nur zu genau, und spürt es noch mit viel größerer Schärfe als das Messer, das sie mir an die Kehle setzt, und auch, wie sehr ich es genieße, von ihr seziert zu werden, in Teile zerlegt, deren Funktion und Zusammenspiel analysiert, und dann vielleicht wieder, rekonstruiert, oder liegengelassen. Für sie freilich kommt fast nichts dabei heraus. Das um mich gesponnene Netz durchdringt sie nur an einer Stelle und sieht doch genau, wie es an einer anderen, noch während sie fragt, dichter zu werden beginnt. Doch sie läßt nicht davon ab, und ich bewundere sie dafür, bis sie nicht doch einen kleinen Tropfen Wahrheit aus mir herausgekitzelt hat. Vielleicht deshalb, werfe ich sie nicht hinaus.
"Marianne", sage ich und ihr Name fällt mir so leicht, daß ich nicht weiter weiß, was gestehen, was verschweigen, und sie, deren Name mir so leicht aus dem Munde kam, bringt mich entgültig zu Fall, als sie meinem Stocken einen ihrer zuck'ren Sätze in die Beine wirft: "Jetzt laß dir doch nicht immer alles aus der Nase ziehen!"
Jetzt erst stößt ihr 'du' mir sauer auf, wie kann es sein, kann es?, daß Kuratorin und Künstler, wie sie mich zuweilen nennt, sich duzen, wie Freund und Freundin, Mann und Frau? Denn das sollten wir ganz sicher nicht sein, in Geschlechter verteilt, wie wir hier sitzen, sie so völlig leer und nichts zu tun, mich mit ihren Fragen quälend, ich, lose am Kaffee festgekrallt, trinke einen Schluck, noch einen, schneller als ich wollen würde, nur um aufstehen zu können und die geleerte Tasse wegzubringen, endlich das sein, was ich bin, ein leidlich Flüchtender im Mahlwerk ihres Verhöres.
Es muß etwas geschehen, denke ich, ein Brand, ein Erdbeben, jemand an der Tür, der mich wegbringt, mitnimmt ohne ein Wort, und Marianne, hier am Tisch, wird, eine Weile noch wartend, am Ende schließlich gegangen sein, wenn ich, wie ein Einbrecher gekleidet, zurück in meine Wohnung schleiche.
"Was willst du denn hören?" belle ich sie an, und bereue die Gereiztheit, die in meiner Stimme liegt, noch bevor ich den Satz ganz zu Ende gesprochen habe. Denn ich bin nicht gereizt, nicht wütend auf sie, doch das schützende Schauspiel muß sein, ich kenne es nicht anders. Marianne bleibt unbeeindruckt. Sie sieht mich wohlwollend an, und nur an den Fingern ihrer rechten Hand, die in ihrer Umklammerung des Gelenkes der Linken zuckend verkrampfen, kann ich sehen, wie etwas in ihr brodelt, das ich nicht deuten kann.
Noch immer wartet sie auf eine Antwort. Ungeduldig und unerbittlich, so ist sie, was habe ich erwartet? Das ist es doch wieder, was ich will und dennoch nicht ertragen kann. Sie nagt an mir, bald wird ein Knochen zum Vorschein kommen.
"Es ist... naja, es ist ganz banal. Ich bin gestürzt, so einfach. Da war ein Stein und meine Stirn hat ihn genau getroffen. Ich weiß nicht, sonst lag ja nichts auf der Straße, es war eigentlich ganz grundlos."
Sie sieht mich nicht entsetzt an. Ist sie verwundert, nachsichtig? Ihr zu verschweigen, daß ich betrunken war, erscheint mir ganz natürlich, denn das Trinken ist doch eine Künstlerkrankheit, und ich bin kein Künstler, aus ihrem Mund klingt es manchmal wie Hohn, ich sträube mich dagegen wie auf Kommando, aber natürlich gefällt es mir, wem würde das nicht gefallen, denn ich weiß ja, daß sie es ganz und gar so meint. Doch es verwundert mich tatsächlich, wie sie, die doch Expertise zu besitzen nötig hat, auf einen Blender hereinfällt, wie ich es einer bin. Betrug ist auf dem Papier, keine Kunst, Scharlatanerie in Linien gegossen und ich frage mich, wo Marianne die Meisterschaft sieht; ich kann sie nicht finden.
Ihr Blick scheint nicht enden zu wollen.
"Ich werde zu keinem Arzt gehen, das wolltest du doch sagen. Du kannst darauf bestehen, meinetwegen, aber ich werde es trotzdem nicht tun."
"Aber es wird eine Narbe bleiben, das ist dir doch klar?"
"Kein Arzt", sage ich noch einmal, und noch immer gegen die Spüle gelehnt, fische ich mir eine Zigarette aus der Schachtel. Sie verschließt schon meinen Mund, als ich die Schachtel auch Marianne hinhalte. Ich muß das letzte Wort behalten. "Danke, nein", antwortet sie müde, aber das gehört nun schon zu einem anderen Thema.
Zwei Jahre. Kaum in der neuen Stadt angekommen, war ich ihr begegnet, auf einer Ausstellung, die ich nur aus reiner Langeweile besucht hatte, ein allzu trüb werdendes Wochenende abzukürzen, allein, da ich noch keinen Menschen kannte, wanderte ich verloren und streitlustig durch die Räume, verächtlich an den Bildern vorbei, blieb hier und da stehen, neigte den Kopf, spöttisch lächelnd, oder nachsichtig -- so habe ich ausgesehen, sagte Marianne mir später, nachsichtig -- und neben mir baute sich diese Frau auf, gut zehn Jahre älter, so schätzte ich damals, obwohl es tatsächlich fast fünfzehn sind, und fragte, so gleichsam frech wie ich es zu den Bildern gewesen war, nach meiner Meinung zu diesem und jenem, was ich von der Linienführung, all dem ganzen Kram, dem Künstler selbst und eben seinen Bildern halte. Wie eine losgetretene Gerölllawine habe ich mich über sie hergemacht, zu Anfang noch zögernd, aber bestimmt, und als ich keine Widerworte vernahm, keine Gegenwehr, da ich meinte, ins Schwarze zu treffen, schickte ich den Schöpfern dieser Bilder, die ich nicht tatsächlich so grauenhaft fand, nach und nach immer mehr und immer eiferndere Angriffswellen auf den Pelz, daß schließlich die Frau neben mir, die so elegant zurückhaltend war, aber dennoch auf so völlig fremde Art gebieterisch wirkte, mir mit einem in einen Halbsatz geworfenen schallenden Lachen die Torheit aus Munde riß und sie wie einen noch ganz nassen Fisch vor meine Füße klatschen ließ. Da zuckte er, und ich verstummte. Aber aus meinen neuen Lippen formte sich ein Lächeln, denn sie lachte nicht mich aus, sondern nur über meinen, wie sie es später nannte, 'jugendlichen Leichtsinn', in dem Cafe, in das sie mich nach jener Ouvertüre in der Galerie entführte, und auch ihren Namen, Marianne, tischte sie mir auf; ich hörte ihn an diesem Tag -- aus ihrem Munde -- das erste und das letzte Mal.
Diese Frau nun, an meinem Tisch, sieht zu mir herüber, die Wände halten sie unbeweglich, nur ihre Augen bleiben dynamisch, zucken glühenden Pfades über mich hinweg, versengen mir Hände, Brust, Hals -- Haar, das Gesicht. Sie nimmt sich, was sie braucht. Ungeduldig warte, harre ich, daß sie doch endlich auch das bemerkt, was ich ihr stets vor die Füße werfe, keine Fische mehr, aber vielleicht soll es dennoch feucht und sich windend, hilflos zuckend und um das letzte bißchen Leben bettelnd, sich vor ihr gänzlich entblößen.
Dann kommt sie mit der Frage heraus, die die ganze Zeit über wie der Qualm eines Schwelbrandes an der Decke gehangen hatte, ganz langsam, eigentlich fällt sie -- es -- auf mich herab, das Schwert, das mich mit seiner Schwere erschlägt und nicht, wie ein Skalpell, mit einem Schnitt seiner Klinge zerteilt.
"Was machen die Bilder? Kannst du mir neue Bilder zeigen?"
Nur deswegen ist sie doch hier. Das bin ich, in ihrer Faust gefangen, und nur eine kurze Kraftanstrengung ihrer Muskeln und ich klatsche wie ein vielfarbiger Brei zwischen ihren Fingern hervorquellend auf den Boden. Sie kann alles von mir haben.
Etwas, das keiner Worte bedarf. Neues.
Doch sie fragt mich nach den Bildern. Ich zittere unbemerkt und sie hebt an.
"Du weißt, es sind nicht genug davon. Weiße Flecke an den Wänden wird es nicht geben, das kann man nicht tun, und das Ganze abzusagen, das wäre -- verheerend, für mich, für dich aber wäre es das Ende noch bevor du ganz begonnen hast. Das willst du doch nicht, das kannst du nicht wollen, Marten, die Chance verstreichen lassen, die sich dir vielleicht nur einmal im Leben bietet. Die Zeit ist kostbar. Jeder Tag ist viele Schritte wert. Andere würden sich die Finger danach lecken, in deiner Situation sein zu können, nur ein paar Bilder noch, Marten, gute Bilder, ich weiß doch, daß du es kannst."
Wie sie mit Phrasen um sich wirft. Die Chance, nur einmal im Leben, kostbare Zeit und die Anderen lecken sich die Finger. Es klingt fürchterlich bestimmt, festgemeißelt, aber es kann vorüber sein, noch bevor ich es bemerke. Noch ein Tag, noch ein Tag, und ich werde die Linie nicht sehen, die ich überschreite wie nichts und die schließlich in den Wochen vergeht, die ich verloren habe, unbemerkt, geräuschlos.
Die Ausstellung. Der Weg ist nicht vorgezeichnet und dennoch gibt es keine Entscheidungen zu treffen. Man geht ihn und hofft, nicht zu fallen, denn er wird bereits verschwunden sein, wenn man sich aus dem Staub erhoben hat. Nichts zu sehen. Ein Spatziergang am Rand des Daches.
"Vier Monate sind keine lange Zeit."
Sie sticht noch einmal zu, und ich verdiene es. Dann steht sie auf, es sind in Haut gegossene Schlangen, die sie ist, die sie tragen, voller Anmut. Sie tritt gefährlich nah zu mir heran, die Schritte auf dem Boden, und flüstert beinahe, furchend, führend, tanzend: "Marten."
Wir verweigern uns der Worte, doch ihre Lippen berühren mich nicht. Ich atme. Marianne im Flur; Schuhe, Mantel.
Nicht das letzte Mal werde ich sie durch diese Tür gehen sehen, ihr Rücken im Rahmen, der bedeckt vom Mantel und den glänzenden Haaren doch im Grunde ganz nackt ist; kurz nur, verschwindet er, als sie sich, schon die erste Stufe hinabgestiegen, noch einmal umwendet, mein Schweigen erwidert, und auch die Mine ihres Gesichtes gleicht ganz der meinen.
Sie entfernt sich mit Gepolter, diesmal wird es leiser, mit jedem Schritt die Stufen hinab, und ich kann den genauen Zeitpunkt nennen - jetzt - wenn sie das Erdgeschoss erklommen hat und durch die schwere Hauspforte nach draußen entweicht.
Etagen zählen.
Vier.
Jetzt ist es wieder still.