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Marias Brief

UJ

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21.08.2001
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Marias Brief

Kalter Wind wirbelte raschelndes Laub über die Kieswege, riß an vertrockneten Kränzen und umsäuselte heulend die steinernen Grabmale. Bleierner Himmel hing über dem kleinen Vorstadtfriedhof, ließ die schmalen Wege zwischen den dichtgedrängten Gräbern noch enger erscheinen.

Etwas abseits eines der Wege stand eine einsame Gestalt.

Still verweilte der alte Mann vor dem noch geöffneten Grab und sah hinab auf den billigen Fichtensarg, während der heftige Herbstwind an seinem schütteren Haar zerrte und ihm vorwinterliche Kälte ins Gesicht trieb. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte er auf die wenigen aufgestapelten Kränze.

Das ist alles, dachte er. Alles was bleibt, sind ein paar lausige, heuchlerische Bänder an billigen Kränzen.

Verbittert ballte er die Hände zu Fäusten zusammen und vergrub sie tief in den Taschen seines Mantels. In Gedanken sah er die langen, eintönigen Tage vorüberziehen, die die Zukunft für ihn bereithielt.

Vierzig Jahre waren sie verheiratet gewesen, und obwohl ihre Ehe zu ihrem Bedauern kinderlos geblieben war, waren es doch größtenteils glückliche Jahre gewesen. Eigentlich hatte er immer damit gerechnet, vor Maria zu sterben, doch die Krankheit hatte alles anders kommen lassen. Er erinnerte sich an die letzten Tage, an die sterilen, weißen Gänge des Krankenhauses, in denen er sich immer so bedeutungslos fühlte, sah sich die Tür ihres Zimmers öffnen, wie so oft schon in den Wochen davor.

Das unpersönliche Weiß der Wände versuchte vergeblich, die mit Hoffnungslosigkeit gefüllte Atmosphäre des Raumes zu übertünchen, und wenn er genau hinsah, schien auch die weiße Farbe verblaßt zu sein, runzelig, fleckig und verfallen.

Ihre glanzlosen Augen sahen ihn an, vermittelten ihm wortlos ein Gefühl tiefster Verbundenheit. Langsam schlurfte er näher, während sich ihm ihre zittrige, welke Hand entgegenstreckte. Kurz haftete sein Blick in ihrem eingefallenen Gesicht, sog jedes Detail in sich auf, die blassen Lippen, die tiefen Ringe unter ihren Augen, die hochstehenden Wangenknochen.

Dann war er bei ihr und legte sanft ihre kraftlosen Finger in seine Hand. Behutsam drückte er sie, beugte sich über die ausgemergelte Gestalt und küßte sie sacht auf die wächserne Stirn. "Karl", flüsterte sie kaum hörbar. Ihr Blick fing den seinen ein und hielt ihn fest.

"Maria", gab er ebenso leise und tonlos zurück.

,,Es.. es ist nicht vorbei, Karl... Nicht für immer! Wir werden uns wiedersehen... und dann... dann kann uns nichts mehr trennen..."

,,Ja, Maria", wisperte er. "Nichts mehr kann uns trennen".

Dann herrschte Schweigen zwischen ihnen. Stumm sahen sie sich an.

Die Zeit zerrann zur Bedeutungslosigkeit, tropfte durch die Schächte der Unendlichkeit und floß lautlos an den Krümmungen des Raumes entlang.

Irgendwann ruckte ihr Kopf zu Seite, und ein letzter Atemzug wich über ihre blutleeren Lippen. Dann brach ihr Blick.

***

Grauen Schemen gleich zerbarsten die Erinnerungen, als sich ein beharrliches, Aufmerksamkeit heischendes Räuspern in sein Bewußtsein stahl.

Er spürte plötzlich, daß jemand hinter ihm stand. Kurz wandte er den Blick, ohne daß das schmerzvolle Gefühl der Leere von ihm gewichen wäre. Zu sehr hatten ihn die sich aufdrängenden Erinnerungen bewegt.

Ein großer, hagerer Mann stand vor ihm, sah ihn sekundenlang wortlos an.

Karl versuchte, sich zu erinnern, ob er das Gesicht schon einmal gesehen hatte, doch irgend etwas ließ die Konturen des Fremden seltsam unklar erscheinen, fast so, als wollten sie nicht wahrgenommen werden.

Tränen schwammen in den Augen des alten Mannes. Vergeblich versuchte er, sie wegzublinzeln.

,,Herr Lazar? Herr Karl Lazar?", sprach ihn der Hagere mit einer eigenartig androgynen Stimme an.

,,Der bin ich", antwortete Karl mit brüchiger Stimme. "Was wollen Sie? Sehen Sie nicht, daß Sie stören?"

,,Es tut mir leid, Herr Lazar. Mehr, als Sie wahrscheinlich ahnen", entgegnete der Fremde, und tatsächlich schwang Mitgefühl in seiner Stimme. Aber auch etwas anderes, etwas, das Karl nicht definieren konnte. Ein vages Gefühl von unendlicher Weite und Zeitlosigkeit drängte sich ihm auf.

Etwas kroch fröstelnd über seinen Rücken. Schnell schüttelte er diese beklemmende Empfindung ab.

,,Ich habe etwas für Sie", fuhr der Fremde fort. Starr fixierten seine Augen den alten Mann, und Karl sah sich selbst in den Pupillen des Mannes gespiegelt, klein und verwaschen.

Karl fühlte sich benommen, und die Wirklichkeit schien ihm ferner denn je. Etwas Irreales lag in der ganzen Situation, doch er war nicht in der Lage, herauszufinden, was es war.

,,Nehmen Sie", sprach der seltsame Unbekannte. "Es wird Ihnen helfen. Früher oder später..." Damit überreichte er Karl ein unbeschriftetes, dünnes Kuvert.

Mechanisch nahm dieser es entgegen. Wieder wurde der alte Mann von dem befremdenden Gefühl beschlichen, nur ein winziges Staubkörnchen zu sein in der ewigen Drift des Universums.

Stumm stand er da und starrte den weißen Umschlag an.

Ich glaube, langsam werde ich verrückt, schoß es ihm durch den Kopf.

Dieser beunruhigende Gedanke riß ihn zurück in die Wirklichkeit. Entschlossen hob er den Blick und sprach den Fremden an. "Hören Sie, was..."

Verwirrt ließ er den Blick über die Grabreihen schweifen.

".. soll das?", beendete er ungläubig den Satz.

Der seltsame Fremde war spurlos verschwunden.

***

Noch immer wie betäubt schloß er die Tür zu der kleinen Altbauwohnung auf. Mit schlurfenden Schritten trat er ein, zog den Mantel aus, hing ihn an die rustikale Garderobe. Deprimiert stand er in dem kleinen Flur und starrte auf die braunen Teppichfliesen hinab. Wattige Stille herrschte in den Räumen, nur unterbrochen vom eintönigen Ticken der Wohnzimmeruhr. Die Wohnung wirkte leer, kalt, bar jeder menschlichen Wärme. Sogar das Licht, das durch die Fenster fiel, wirkte auf unwirkliche Weise gedämpft. Es schien nicht mehr zu sein als die bloße Abwesenheit von Dunkelheit.

Unbewußt, mit mechanischen Schritten, stakste er ins Wohnzimmer.

Auch dort verharrte er für eine kurze Weile und sah sich um, als stünde er das erste Mal in diesem Raum. Unstet ließ er seine Blicke durchs Zimmer schweifen.

Schließlich ließ er sich mit einem resignierendem Stöhnen in einen antiquierten Sessel fallen und barg schützend den Kopf zwischen seinen Händen.

Schwer atmend und mit geschlossenen Augen saß er da.

Erneut überfielen ihn die Erinnerungen mit vehementer Wucht, überwanden mühelos seinen Widerstand und tanzten in wirrem Reigen durch das tiefste Innere seines Selbst.

Dort drüben, in der linken Ecke des Sofas, hatte sie immer gesessen und gestrickt, während er die Tageszeitung überflog. Manchmal hatte er ihr einen kurzen Blick zugeworfen, und er hatte sich immer wieder darüber gewundert, wie wenig ihr der Lauf der Jahre hatte an haben können. Noch immer besaß sie das fein geschnittene, mädchenhafte Gesicht, in das er sich damals verliebt hatte; die wenigen Falten schienen sie nur noch attraktiver zu machen, und auch ihr Lachen war noch immer so glockenhell und klar wie damals.

Stets hatte sie ihm das Gefühl gegeben, noch lange nicht alt zu sein, doch nun wurde ihm klar, daß sein Leben nur noch aus einer tristen Aneinanderreihung von noch tristeren Tagen bestehen würde.

Er bemerkte nicht die Tränen, die auf den schwarzen Stoff seiner Hose tropften, von der sie sofort aufgesogen wurden. Eine tiefe Sehnsucht nach etwas Unwiederbringlichem füllte ihn aus und ließ ihn schmerzhaft aufstöhnen.

Oh Gott, ich werde noch verrückt, hallte es hinter seiner Stirn.

Er beschloß, sich zusammenzureißen. Plötzlich fiel ihm etwas ein.

Das Kuvert, das der Fremde ihm gegeben hatte!

Er erinnerte sich genau, es irgendwann eingesteckt zu haben. Er erinnerte sich auch daran, was der Fremde ihm versprochen hatte. Es würde ihm helfen... Aber wie? Und warum? Eine unausgegorene, irrwitzige Hoffnung schoß durch sein Hirn, und er wunderte sich selbst über die Heftigkeit seiner Bewegungen, mit denen er sich aus dem Sessel stemmte und in den Flur eilte. Hastig durchsuchte er die Taschen seines Mantels.

Wo war es? Er hatte es doch...

Plötzlich hörte er das Rascheln von Papier, und schon hielt er den Umschlag in den Händen. Aufgeregt eilte er ins Wohnzimmer, schaltete das Licht ein und fetzte das Kuvert auseinander. Mit zitternden Fingern zog er einen gefalteten Brief hervor.

Mein lieber Karl, stand dort geschrieben, hiermit sende ich Dir einen letzten Gruß.

Trauere nicht zu sehr. Wir werden uns wiedersehen. So, wie ich es Dir auf meinem Sterbebett versprach.

Verwirrt starrte er auf den Bogen Papier in seiner Hand. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, daß ihm irgend jemand einen makabren Streich spielte.

Aber was hätte damit bezweckt werden sollen? Er war sowieso schon am Boden zerstört! Und vor allem: Wer hätte davon wissen können, was sie zu ihm gesagt hatte?

Er starrte auf die feinen, geschwungenen Linien. Karl war sich sicher, Marias Handschrift zu erkennen. Leicht flimmerte es vor seinen Augen, und bevor ihn der Schmerz erneut überkommen konnte, schob alle Fragen in einen entlegenen Winkel seines Bewußtseins. Aufgewühlt las er weiter.

Bestimmt wunderst Du Dich über diesen Brief. Aber Karl, liebster Karl ... -"Liebster Karl" - so hatte sie ihn immer genannt, wenn er ungehalten war - ...ich versichere Dir, es handelt sich bestimmt nicht um einen bösen Scherz.

Nein, es soll Dich daran erinnern, was wir uns versprochen hatten. Weißt Du noch? Nichts soll uns trennen, Karl, nichts! Wenn Du dazu noch nicht bereit bist, vernichte dieses Schreiben, verbrenne es oder tu sonst etwas damit, aber vernichte es! Wenn uns aber nichts mehr trennen soll, so lies auf der Rückseite weiter, denn dann...

Hier endete die Seite. Eine dumpfe Ahnung überkam ihn. Schnell wendete er das Blatt.

...wirst Du sterben!

Scharf stach ihm die schwarze Schrift ins Auge. Auch die zarte Handschrift nahm den Worten nichts von ihrem bedeutungsschweren Inhalt.

Kalter Schweiß brach ihm aus, und langsam verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen zu einer schlierigen Fläche, lösten sich auf, drehten sich in verwirrenden Wirbeln unter seinem starren Blick.

Schwindel überkam ihn. Eine eigenartige Schwäche kroch seine Beine hinauf, breitete sich aus, lähmte jeden Muskel seines Körpers. Kraftlos brach er auf die Knie nieder.

Etwas schnürte ihm die Kehle zu, und ein heftiger Schmerz wühlte in seiner Brust. Dann zerbarst etwas in ihm, und eine große Schwärze erfaßte sein Bewußtsein, hüllte es in dunkle Schwingen, sog ihn hinab in einen wirbelnden Strudel.


Irgendwann kam er wieder zu sich.

Er war verwirrt. Was war geschehen?

Langsam kam die Erinnerung zurück, und jäh erschreckte er vor der Intensität des Erlebnisses. Mühsam stemmte er sich in die Höhe. Kalter Schrecken durchfuhr ihn, als er die Stimme hörte.

,,Hab keine Angst, Karl. Ich bin jetzt bei dir." Ungläubig starrte er sie an.

"Maria, was. . ."

Doch eine plötzliche Erkenntnis ließ ihn verstummen. Er sah an sich herab.

Und er stand in seinem Körper ...

Das war unmöglich!

Bleich und mit gebrochenem Blick sah er sich auf dem alten Teppich liegen, die knotigen Finger vor seiner Brust ineinander verkrallt.

,,Schon gut, Karl", sprach Maria ihn an. "Hab keine Angst. Ich bringe dich nun fort, an einen Ort, wo wir immer zusammen sein werden. Sieh nur, dort, wo das Licht ist..."

Er folgte mit seinem Blick ihrer ausgestreckten Hand. Und tatsächlich - weit in der Ferne gleißte ein helles Licht am Ende eines langen, dunklen Korridors.

Plötzlich stand sie neben ihm. Behutsam nahm sie seine Hand.

"Komm, Karl", flüsterte sie und sah ihn an.

Ihr Blick bestätigte, was auch er immer schon gewußt hatte: Nichts konnte sie trennen.

Dann zog sie ihn mit sich. Ins Licht.

***

Ein großer, hagerer Mann stand unten auf der Straße vor dem renovierungsbedürftigen Altbau. Er schien etwas zu beobachten, wie es vorüberzog ins Irgendwo. Sein Blick verlor sich in der Ferne, und ein leichtes, undeutbares Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dann verschwand er.

 

Die Geschichte hat was von klassischem Grusel ala E. A. Poe. Sie ist zwar nicht wirklich spannend, aber trotzdem ganz gut.

 

ich find die Geschichte echt,gut!
Ich hab oft versucht eine deprimierende und trostlose Atmosphäre in meinen Geschichten aufzubauen,es aber nie geschafft.
Aber du hast das echt gut geschafft!

 

Die Geschichte ist der hammer. Ich hatte tränen in denn augen. :thumbsup:
Sau geil. Hoffe du schreibst noch mehr so Geschichten. Das ende war ja auch mal der hammer. Also ich bin dein Fan. :D

 

Hallo UJ

hat mir gefallen, deine Geschichte. Sie ist zwar weder sonderlich innovativ noch ausnehmend spannend, aber sie besticht durch deine gekonnte Schreibe. Du verwendest geschliffene Formulierungen und bringst den Text damit zum Leuchten. Für mich wurde dein Protagonist sehr lebendig und auch Gevatter Tot hast du anschaulich gezeichnet. Bei einer solch "belasteten" Gestalt immer wieder eine herausforderung, wie ich finde.
Es fügt sich alles wunderbar in den Text ein, genau die richtige Länge.
Was vielleicht ein wenig plump kam, war der Satz auf der anderen Seite des Briefes. Das holpert etwas aus dem Sprachstil.
Schön finde ich auch, dass es dem Leser überlassen ist, ob er der Begebenheit und dem Brief einen realen Anstreich verleiht, oder ob er das alles nur für Einbildung des zurückgelassenen hält.

gerne gelesen

grüßlichst
weltenläufer

 

Tachschön, UJ!

Auf ein Wort: Gut.
Die Geschichte hab ich gerne gelesen. Für die Dauer war ich nett unterhalten von Deinem Stil, Deiner Sprache, dem Ton, den Du anschlägst. Das hat gefallen. An manchen Stellen fand ich es aber der Adjektive und Adverben zu viel, wie hier zB:

Kalter Wind wirbelte raschelndes Laub über den Weg ...
Das fände ich ohne das "raschelnde" zum Beispiel schon schöner, flüssiger, melodischer.

Die Handlung ist natürlich überschaubar, da braucht man nicht viel zu sagen. Für mich lebt die Geschichte von ihrem trist-traurigen Ton, der Dir mE gelungen ist. Der arme Kerl kommt schon gut rüber.

Das war nicht sonders produktiv, aber mehr weiß ich gerade nicht zu sagen. :shy:

Bis denne,
Fisch

 

Hallo UJ,

Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen, vornehmlich aus dem Grund, dass jedes ihrer Elemente sehr glaubwürdig und plastisch erscheint.
Besonders gelungen ist der da der Witwer, ich kann mich wirklich an wenige Fälle erinnern, in denen ich mich so gut in eine Figur hineinversetzen konnte. Obwohl die Rolle des Protagonisten sehr klassisch ist, kommt sie bei dir sehr "echt" rüber.
Auch die Athmosphäre von Tod und Vergänglichkeit, die du anfangs auf dem Friedhof erzeugst ist äußerst dicht. Hier beschreibst du auch noch am meisten, teils auf sehr blumige Art und Weise.
Einzige Kritikpunkte sind für mich die Sache mit der Rückseite des Briefes (wirkt ein Bisschen, als habe die gute Maria ihn erschrecken wollen :D) und die Szene gegen Ende, in der er seinen Körper verlässt. Diese finde ich einfach zu direkt, sie drängt dem Leser zu sehr ein Bild auf, wo doch ein Bisschen Geheimnistuerei nicht schlecht wäre, vor allem, da doch jeder eine sehr eigene Vorstellung vom "Hinübergehen" hat. Da hättest du es auch bei Andeutungen belassen können.

Um es mal mit dem Lieblingsspruch eines eher unappetitlichen Fernsehkochs auf den Punkt zu bringen: Du hast hier gezeigt, wie man mit wenigen Zutaten und viel Phantasie etwas tolles zaubern kann! (So oder so ähnlich... :thumbsup:)


Gruß,
Abdul

 

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