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Marie Antoinette
Sie heißt Marie Antoinette und sie ist schön.
Wenn sie lacht, sehen ihre Augen aus wie strahlende Halbmonde und ihre fast unweltlich süße Stimme hallt in den Ohren wider wie tosendes, harmonisches Glockengeläut. Sie wirft ihre langen Haare über ihre Schulter nach hinten und es ist, als lachte sie mit ganzem Körper. Alles an ihr ist harmonisch und weich. Ihre Haut hat einen natürlich samtigen Sandton und weist außer kleinen Muttermalen keine Unebenheiten auf. Ihre Wangen tragen, obwohl ungeschminkt, einen Hauch von frischem Rot und selbst ihre dunklen, ja sogar fast schwarzen Augen funkeln im dämmrigen Kerzenlicht wie geschliffene Rubine. Ihre Fingernägel sind rund auf gleichmäßige Länge gestutzt und nougatbraun lackiert worden.
Auf mich wirken sie wie vertrocknete Krallen.
Ihre Finger fahren rhythmisch über den Rand ihres Weinglases, während sie Elwen mit dunklen Blicken leise amüsiert beim Sprechen beobachtet. Ich weiß nicht genau, wovon er redet, doch ich bin mir sicher, dass sie ihm auch nicht zuhört. Das sanfte Lächeln, das ihre bräunlich betonten Lippen umspielt, wirkt nur auf den ersten verschleierten Blick wirklich aufrichtig. Sie sieht aus wie eine Porzellanpuppe, wie sie weiß und erdfarben in immergleicher Position auf ihrem Stuhl sitzt und Elwen engelsgleiche, verliebte Blicke zuwirft.
Er fragt sie, ob er ihr Wein nachschenken sollte, doch sie lehnt mit einem wortlosen Augenaufschlag ab. Er redet weiter und erst jetzt nehme ich seine Stimme wirklich wahr. Sie klingt verzückt, leidenschaftlich und in ihr schwingt etwas, das mir nie vorher aufgefallen ist. Ich kann nicht sagen, was es ist, doch ich bin sicher, es ist neu.
***
Er hat sie an diesem Abend von der Arbeit mitgebracht. Zumindest ist es das, was er mir gesagt hat.
Sie war an dem Tag in seinem Büro aufgetaucht und stellte sich ihm mit Marie Antoinette vor. Einen Nachnamen nannte sie nicht. Als Elwen mir die Geschichte erzählte, war ich überzeugt davon, dass sie ihn auf den Arm genommen hatte. Ich war sicher, ihr wahrer Name musste irgendetwas in der Art von Anna Müller sein. Oder Maria Schmidt.
Er sagte, sie habe sich gegenüber von ihm in den Lehnstuhl sinken lassen und die dünnen, spitzen Finger vor ihren geschwungenen Lippen verschränkt. Sie hätte ihn angelächelt, bestimmt eine halbe Minute lang, bevor sie ihm zumindest ihren Namen genannt hatte.
Was sie von ihm wollte, hatte sie nicht gesagt.
Sie war in sein Büro gekommen, als seine Schicht schon fast zuende war, und hatte danach nicht von ihm abgelassen. Er hatte sich nicht gewehrt und sie mit nach Hause gebracht – zum gemeinsamen Abendessen, wie er sagte. Ich glaube, die beiden haben noch kein einziges Wort miteinander gewechselt.
Jedenfalls abgesehen von Marie Antoinette.
***
Elwen hat aufgehört zu reden und nippt nun schon eine Weile stumm an seinem Wein.
Ich drehe mein eigenes Glas zwischen den Fingern und betrachte ihn. Seine Wangen sind gerötet. Seine Ohren auch. Auf seinen Augen liegt ein merkwürdiger Glanz, der nicht von zuviel Alkohol stammen kann, denn er hat bisher kaum ein halbes Glas getrunken.
Sein Blick wandert immer wieder hinüber zu Marie Antoinette, bleibt auf ihr haften, als zöge er sie aus. Nur manchmal wendet er ihn verlegen ab, wenn ihm die Intensität ihres eigenen Starrens zuviel wird. Denn im Starren ist sie gut.
Mich hat sie seit ihrer Ankunft noch nicht eines Blickes gewürdigt, ich frage mich wirklich, ob sie mich überhaupt wahrgenommen, ob sie registriert hat, dass ich anwesend bin.
Ich fühle mich wie ein Stalker, ein Eindringling in ein ganz privates Candle-Light-Dinner, dessen Ausgang uns allen so wohlbekannt ist. Doch das ist ein Bild, das mir nicht ganz gefällt, denn ich sehe in Elwen keinen Menschen, der sich für One-Night-Stands interessiert. Er ist aufrichtig und treu und so furchtbar lieb. Aber er verrennt sich immer, er findet immer die Falschen oder die Falschen finden ihn. Ich schaue zu Marie Antoinette.
Noch immer spielt sie mit ihm, mit ihren Blicken, ihren Augen, ihrem Wimpernschlag und ihren Lippen.
Es ist, als wollte sie ihn verführen auf eine unheimliche, perverse Art von Distanz. Ihre Wangen glühen und ihr ganzes Wesen glitzert und strahlt – tatsächlich bin ich überzeugt davon, dass es ihre Ausstrahlung ist, mit der sie Elwen unterworfen hat. Er nähert sich ihr nicht, nein, er nähert sich ihr überhaupt nicht an. Beide verbleiben sie auf ihren Seiten des Tisches, von ebendiesem Tisch voneinander getrennt, und doch scheint es mir, als teilten sie die intimste Art der Nähe gleich hier vor meinen Augen.
Fast drängt es mich dazu, den Blick abzuwenden, nicht hinzuschauen, zu ignorieren, welche Blöße Elwen sich gibt, doch ihre Anziehungskraft nimmt auch mich in ihren Bann.
Ich schaue sie an, merke ich, schon den ganzen Abend. Ich finde sie nicht sympathisch, ganz im Gegenteil. Ihre Sprachlosigkeit ist mir unangenehm, sie wirkt arrogant und herablassend und dennoch bin ich außerordentlich begeistert von ihr.
Ich möchte sie anfassen, glaube ich. Und sei es nur um festzustellen, ob sie wirklich echt ist, ob man sie anfassen kann oder ob sie verschwindet, wenn man es versucht... Nein, das ist natürlich Unsinn, und ich weiß das.
Dennoch verspüre ich das Bedürfnis, meine Hand nach ihr auszustrecken und ihre weiche Haut zu streicheln. Das ist ein Bedürfnis, das ich nicht kenne, niemals habe ich solche Gefühle einer Frau gegenüber gehegt.
Doch sie kommen mir nicht unnatürlich vor. Einen Moment lang frage ich mich sogar, ob ich in Marie Antoinette wirklich eine Frau sehe oder nicht vielleicht etwas anderes. Ich kann nicht sagen, was, doch ich fühle eine kalte Unsicherheit, als ob diese surreale Situation vollkommen in Ordnung wäre und doch irgendwie gespenstisch.
Elwen hat mittlerweile sein Glas geleert und fragt Marie Antoinette noch einmal, ob er ihr nachschenken könne. Wieder antwortet sie in ihrer eigenen, ruhelosen Stille und Elwen versteht sie genau. Ich tue das auch, ich sehe Worte und Gefühle sich in ihren Augen verstecken, als wären sie eine lange vergessene Erinnerung, die sich in Worten nicht wiederfinden kann. Vielleicht ist es Mitleid, was ich in diesem Moment empfinde.
Elwen gießt sich selbst noch Wein ein und fragt mich mit nichts als einem Blick, ob ich auch noch etwas möchte.
„Nein, danke“, sage ich leise und ohne Emotion. Trotzdem liegt ein Lächeln auf meinen Lippen, das ihm all das vermitteln soll, was ich jetzt gerade fühle.
Ich bemerke die Anspannung, die in der Luft liegt, und ich weiß, dass jetzt der Zeitpunkt wäre, Taktgefühl zu beweisen und Elwen mit Marie Antoinette allein zu lassen – um was-auch-immer zu tun. Tatsächlich entzieht sich dieses was-auch-immer meinem Vorstellungsvermögen, denn ich weiß nicht, ob Marie Antoinette zu mehr Gefühl fähig ist, als sie uns im Moment zeigt.
Ich bleibe sitzen. Mein Körper sträubt sich dagegen, aufzustehen und den Raum zu verlassen, Elwen zu verlassen, Marie Antoinette zu verlassen...
Ich fühle mich zittrig und voll angespannter Erwartung, als wüsste ich, dass etwas im Begriff ist zu geschehen, doch ich weiß natürlich nicht, was.
Ich blicke wieder zu Marie Antoinette, mustere sie im Ganzen. Zu sein wie sie muss so vieler Menschen Traum sein, denn sie ist die Perfektion, davon bin ich überzeugt.
Ich wundere mich, wie etwas so Perfektes auf mich so falsch und unecht wirken kann.
Elwen steht auf. Mühsam wende ich den Blick von Marie Antoinette ab und beobachte, was er tut. Er stellt das unbenutzte Geschirr zusammen. Tatsächlich, fällt mir auf.
Vor unseren schweigenden Körpern warteten leere Teller darauf, gefüllt und wieder geleert zu werden, doch wir haben nichts gegessen.
Ich frage mich, ob Marie Antoinette schon jemals etwas gegessen hat.
Bin ich die Einzige, der dieser Abend merkwürdig vorkommt? Und wieso empfinde ich diese Unsicherheit nur so dumpf, wie durch dicke, kaum durchdringbare Glasscheiben?
Und wieso bemerkt Elwen es gar nicht?
Die wenigen Sekunden, die Elwen mit dem Geschirr in der angrenzenden Küche verbringt, sind wenig aufschlussreich. Sie sind eiskalt.
Marie Antoinettes dunkle Augen folgen seiner Gestalt auf Schritt und Tritt. Sie lässt nicht von ihm ab, lässt ihn nicht los, auch nicht, als er die Küchentür hinter sich schließt.
Ich glaube, sie kann hindurchsehen. Sie reißt die Tür aus ihren Angeln und sieht, was immer sie sehen möchte, sie sieht ihn nackt, sieht jeden einzelnen Knochen, jedes Organ und jede Zelle und sie sieht die Abgründe seiner Seele. Muss sie schockiert sein?, frage ich mich. Ich glaube nicht, dass Marie Antoinette eine Seele hat.
Elwen kehrt zurück und setzt sich.
Neben Marie Antoinette, dieses Mal. Er muss ihr nahe sein, sie berühren, das weiß ich. Denn ich muss es auch.
Ich fühle mich, als kämpften wir einen wortlosen Kampf, einen Kampf ohne Emotionen, ohne die kleinste Gefühlsregung und als ob wir nicht einmal wüssten, worum und weswegen wir eigentlich kämpfen.
Er legt seine Hand auf ihren Arm. Noch immer schaut sie ihn an. Ihre Blicke machen mich krank, doch ich lechze danach, auch einmal so angesehen zu werden. Ich möchte sie dazu zwingen, mir die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie Elwen und bin einen Augenblick lang schockiert darüber, zu welcher Gewalt ich bereit wäre, um dieses Bedürfnis erfüllt zu bekommen.
Sie legt ihre linke Hand auf seine, eine erste, wirkliche Regung. Ich glaube, Elwen ist kurz vor einem Herzstillstand, denn ich kann seinen Puls beinahe fühlen.
In seinen Augen wabert etwas, das mir unangenehm ist, das ich nicht kenne. Es ist dunkel und wirkt bedrohlich, doch Elwen scheint es zu gefallen. Ich möchte es schmecken, davon kosten...
Ich sehe zurück zu Marie Antoinette. Ich muss sie berühren, ich muss sie spüren. Ich glaube, ich muss sterben, wenn ich nicht bald ihre Hand berühren darf, oder ihre Wange, ihr Haar.
Nun ist es mein Herz, das beinahe stehen bleibt, denn sie schaut mich an.
Zum ersten Mal überhaupt. Aus den Augenwinkeln wirft sie mir einen Blick zu, der es mir eiskalt den Rücken hinunterlaufen lässt. Es ist kein boshafter Blick, nur ein Blick voller Tatsachen und mit einem Schlag kehre ich zur Wirklichkeit zurück.
Jetzt ist mir kalt. Marie Antoinette wendet sich wieder an Elwen und fährt fort, ihn anzuschauen. Mein Verstand ist wieder da, merke ich, und er schreit mich an. Tu etwas!
Doch ich sitze nur vor einer Art Fernseher, zwischen mir und Elwen und Marie Antoinette ist eine unsichtbare Mauer, die ich nicht durchdringen kann. Meine Hände zittern.
Mein ganzer Körper beginnt zu zittern und die kalte Einsicht ist wieder da.
Etwas geschieht hier.
Doch ich bin gebunden an meinen toten Stuhl und sehe wie aus unendlicher Ferne, wie Marie Antoinette aufsteht, Elwen bei der Hand nimmt und ihn mit sich trägt. Er folgt ihr ohne Worte, ohne einen Blick zurück zu mir, sondern lässt sich vollkommen auf sie ein.
Es ist die Schlafzimmertür, die ich ins Schloss fallen höre, und in diesem Moment kehrt mein Reaktionsvermögen zurück.
Doch ich bin völlig ruhig und mein Verstand ist benebelt.
Ich möchte gar nichts mehr tun. Was sollte ich auch tun? Elwen kann Spaß haben, wenn er möchte. Wer bin ich denn, ihn daran hindern zu wollen?
Die Gleichgültigkeit treibt ein dümmliches Lächeln auf meine Lippen. Ich seufze tief und beschließe, schlafen zu gehen.
Ich gehe an Elwens Schlafzimmer vorbei, doch ich höre keinen Laut. Etwas verwundert bin ich schon, doch ich zucke die Achseln und gehe weiter in mein eigenes Schlafgemach.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war der Abend doch ganz nett. Marie Antoinette ist bestimmt auch sehr nett, wenn man sie erst einmal kennen gelernt hat.
Die Ruhe, die in meine Glieder gekehrt ist, ist für mich wie eine Katharsis. Ich bin gelöst, vollkommen frei und es gibt keinerlei Grund zur Sorge.
Elwen hat etwas Aufmerksamkeit verdient, finde ich.
Und mit diesem Gedanken schlafe ich ein.
***
Ich wache auf um halb fünf in der Früh. Ich bin ein Langschläfer und diese gottlose Stunde ist für mich mehr als ungewöhnlich.
Ich drehe mich auf die andere Seite und versuche, wieder einzuschlafen, doch ein dünner Lichtstrahl fällt auf mein Gesicht. Ich öffne die Augen.
Mein ganzer Körper fährt in sich zusammen, mir wird heiß und kalt und die Angst beißt mir in den Nacken.
Die Tür meines Schlafzimmers ist einen Spaltbreit geöffnet. Das Licht vom Flur, das ich gestern Abend ganz bestimmt ausgeschaltet habe, fällt durch den dünnen Spalt in meinen Raum.
Doch Marie Antoinette steht in der Tür. Ich sehe nur das linke ihrer schwarzen Augen, doch sie sieht mich ganz genau an. Sie bemerkt, dass ich wach bin, und lächelt mir zu.
Dies ist eine völlig andere Person als die, die ich gestern Abend kennen gelernt habe. Ihr Lächeln ist mitfühlend, aufmunternd und unglaublich aufrichtig.
Sie wendet sich ab, lautlos, als schwebte sie über den alten Dielenfußboden, der bei jeder Bewegung laut knarzen müsste.
Ich weiß jetzt, dass etwas nicht stimmt. Ich bin auch nicht mehr müde.
Bevor ich überhaupt dazu komme nachzudenken, liegt meine Bettdecke auch schon am Fußende des Bettes und ich stehe nacktfüßig vor Elwens Zimmertür.
Auch sie ist nur angelehnt.
„Elwen?“, flüstere ich. Ich bekomme keine Antwort. „Elwen, ich komme rein...“
Ich schiebe die Tür mit einem Quietschen auf. Der Raum ist stockdunkel, also schalte ich das Licht ein.
Elwen liegt mit dem Rücken zur Tür in seinem Bett. Erleichterung durchströmt mich.
Ich gehe auf ihn zu. „Du hast mich vielleicht erschreckt, ich hätte schwören können, hier ist irgendwas faul.“ Ich setze mich zu ihm auf die Matratze. „Wo ist Marie Antoinette denn hin, so mitten in der Nacht?“ Elwen regt sich nicht.
„Elwen?“ Ich halte inne. „Elwen, bist du...“ Ich sehe sein Gesicht und ich weiß Bescheid.
Er ist so weiß. So weiß wie Schnee. Und so kalt wie Schnee. Und so weiß wie Puppenporzellan...