Marion
MARION
Meine Eltern starben wenige Tage nach meiner Geburt bei einem Verkehrsunfall, noch bevor ich getauft werden konnte. Im Alter von wenigen Wochen kam ich zu Tante Henriette nach Norddeutschland, die in einem kleinen Ort ein wunderschönes, altes Haus bewohnte. Sie lebte nicht allein in diesem Haus, sondern gemeinsam mit einer Freundin, die ich, als ich sprechen gelernt hatte, der Einfachheit halber "Tante Inge" nannte.
Tante Henriette und Tante Inge tauften mich auf den Namen Marion. Sie waren sehr besorgt um meine Gesundheit. Ich durfte nicht mitspielen, wenn die anderen Mädchen am Strand nach Muscheln suchten. Sie machten sich dabei immer sehr naß und schmutzig, und meine Tanten befürchteten, ich würde mich erkälten. Auch auf den Bäumen durfte ich nicht herumklettern. "So etwas schickt sich nicht für ein Mädchen" pflegte Tante Henriette zu sagen. "Das überläßt man besser den Jungs." Dabei rümpfte sie jedesmal die Nase.
Ich hielt mich oft im Haus auf und las viele Bücher. Es gab bei uns sehr viele Bücher über die Geschichten, die in der Bibel stehen. Abends hörten sich meine Tanten an, was ich tagsüber gelesen und gelernt hatte.
Mit sechs Jahren kam ich in die Schule. Ich kann mich an den Tag noch gut erinnern. Ich trug ein weißes Kleid und weiße Kniestrümpfe. Ganz aufgeregt ging ich an Tante Henriettes Hand den Weg zum Schulhaus. In der anderen Hand trug ich meine Schultüte aus glänzendem Stanniolpapier. Ein paar Jungen standen schon vor dem Eingang und stießen sich gegenseitig an, als sie mich sahen. Meine Tante packte meine Hand fester und zog mich weiter. Auf meine Frage, was das Gelächter hinter meinem Rücken zu bedeuten hatte, antwortete sie nicht.
Der Lehrer war ein freundlicher Herr mit einem grauen Pullover, unter dem sich ein Spitzbauch wölbte. Als wir alle in der Klasse vor ihm saßen, ließ er seine Blicke über uns schweifen. Gewiß lag es nur an meiner Aufgeregtheit, daß ich mir einbildete, er betrachtete mich einen Moment länger als die anderen. Wir bekamen Papier und Bleistifte und verbrachten den ersten Tag damit, ein Haus zu zeichnen.
Abends kam Herr Weber - so hieß der Lehrer - zu Besuch. Tante Henriette schickte mich hinaus und so konnte ich nicht verstehen, worüber sie sprachen. Ich hörte nur ihre lauten und erregten Stimmen. Nach einer Weile kamen Herr Weber und meine Tante heraus. Herr Weber sah mich seltsam an und meine Tante sagte zu mir:" Marion, Herr Weber und ich haben uns geeinigt, daß wir - Tante Inge und ich - dich unterrichten werden. Sag Herrn Weber ade."
Herr Weber war schon aus der Tür, bevor ich ihm die Hand reichen konnte, und meine Tante war puterrot im Gesicht. Über diesen Vorfall wurde danach nie mehr gesprochen. Ich war sehr traurig, nicht zur Schule gehen zu dürfen. Draußen mit den anderen zu spielen hatte man mir ebenfalls verboten. Infolgedessen hatte ich keine einzige Freundin, ich hatte niemanden meines Alters, mit dem ich mich besprechen kannte.
Wenn ich durchs Dorf ging, pflegte ich die Leute höflich zu grüßen. So hatten meine Tanten es mir beigebracht. Doch als ich älter wurde, reagierten die Leute auf meinen Gruß immer abweisender. Oft erlebte ich, daß Eltern ihre Kinder an der Hand nahmen und fortzogen, wenn ich mich näherte. Ein Mädchen sagte mir einmal, daß ihre Eltern ihr verboten hätten, mit mir zu sprechen.
Es gab lediglich ein Mädchen in der Nachbarschaft, daß mich nicht mied. Zwar wollten auch ihre Eltern eine Freundschaft mit mir verhindern, aber Gabi, so hieß das Mädchen, kam heimlich zu Besuch. Im Sommer saßen wir oft draußen im Garten und sprachen miteinander. Tante Henriette brachte uns Apfelkuchen und anschließend eine große Glaskanne Orangensaft mit Eis. Gabi war ein hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren und blauen Augen. Als sich unter ihrem Pullover zwei Höcker zu wölben begannen, spürte ich den unwiderstehlichen Drang, diese Höcker zu berühren. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir eines Sommernachmittags im Garten saßen und ich sie fragte, was das für Dinger unter ihrem Pullover seien. Gabi wurde rot im Gesicht und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Als sie sich einmal zu mir herüberbeugte und einer dieser Höcker meinen Arm berührte, konnte ich mich nicht länger beherrschen und legte meine Hand auf diesen wundervoll
prallen und weichen Hügel. Gabi schrie auf und rannte fort.
Am Abend kam ihre Mutter. Wieder wurde ich hinausgeschickt und hörte aufgeregte und zornige Stimmen. Dann kam Gabis Mutter heraus, herrschte mich an:" Du bist ja ein nettes Früchtchen" und verließ unser Haus. Tante Henriette verprügelte mich danach furchtbar. Dabei schrie sie immer wieder, sie werde mir den Teufel schon austreiben.
Gabi kam nie wieder. Ein anderesmal gab es großen Ärger, als das Dach unseres Hauses repariert werden mußte. Die Handwerker kamen natürlich auch oft herein, und jedesmal runzelte meine Tante die Stirn. Als ich sie abends nach dem Grund ihres Ärgers fragte, sagte sie bloß: "Die Männer sind alle gleich. Sie wollen nur das eine."
Lediglich der Pfarrer unseres Ortes, ein alter Herr mit einem weißen Haarkranz, war willkommen in unserem Hause. Er kam gelegentlich, um mit uns zu beten. Dabei legte er mir manchmal die Hand auf den Kopf und ermahnte mich mit eindringlicher Stimme, nicht abzuweichen vom rechten Weg, was das Leben mir auch noch bringen möge.
Als ich achtzehn wurde, starben kurz nacheinander beide meiner Tanten. Ich erbte das Haus und eine Summe Geldes, die es mir erlaubte, einige Jahre ohne Sorgen zu leben. Ich entschloß mich, die Enge des Dorfes zu verlassen und mit dem Zug in die Stadt zu fahren. Ich zog mein schönstes Kleid an und kaufte am Bahnhof unseres Ortes eine Fahrkarte.
Nun stehe ich hier in dieser fremden Stadt und bin ganz betäubt von dem Lärm der vielen Autos und dem Hasten und Drängen um mich herum. Leute gehen an mir vorbei und sehen mich mit großen Augen an. Als ich vorhin durch den Park gegangen bin, haben mich ein paar Burschen angerempelt. Ich bin fortgelaufen, und jetzt bin ich durstig. ich gehe in ein Lokal und bestelle einen Orangensaft. Der Wirt erscheint und weist mir einen Platz im hinteren Teil des Lokals zu. Meine Blase ist voll, ich stehe auf und gehe zur Toilette. Viele Blicke folgen mir.
Ich schließe ab, erleichtere mich. Dann ziehe ich mein Kleid zurecht und gehe zum Waschbecken, um mir die Hände zu waschen. Was will diese dicke Frau dort in der Tür? Warum schreit sie mit zornrotem Gesicht und zeigt dabei auf mich? Und warum fallen die Leute über mich her? Alle schreien: „Schmeißt diesen verdammten Kerl aus der Damentoilette!!"