- Beitritt
- 12.10.2005
- Beiträge
- 586
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Marion
Der leise und unauffällige Sturm, der über den Ort gezogen war, hatte Jonas erschreckt und in seinem Sessel erzittern lassen. Für einen Moment sah er sich im Zimmer um, sein Blick fiel auf welke Blumen vor dem Wohnzimmerfenster. Plötzlich surrte es, er hielt sich die Hand an die Stirn. Vor sich auf dem Holztisch standen ein paar Fotographien. Marion und er. Sie umarmten sich und sahen glücklich in die Kamera.
Du musst lernen, weiter zu sehen, als es deine Augen können, hatte seine Marion immer gesagt und ihn dann an die Hand genommen. Jonas hatte sie bis zu ihrem schnellen und so plötzlichen Tod geliebt und es fiel ihm heute noch, nach fast drei Jahren, schwer, sich mit der Tatsache abzufinden, dass sie ihn nicht mehr an die Hand nehmen würde.
Langsam stand er aus dem hölzernen Schaukelstuhl auf und sah aus dem Fenster. Eine Hand streichelte die toten Blumen, griff nach einer Blüte und zerrieb sie, bis feinste Stücke auf den Boden fielen. Der Sturm war kurz gewesen, er hätte ihn vielleicht gar nicht bemerkt, aber das Resultat war umso erschütternder. Der ganze Garten war mit heruntergefallenen Ästen und Blättern bedeckt. Das Gartenmobiliar war mehrere Meter weit geflogen und ein Plastikstuhl war an der Garage zerschellt. Aber viel mehr störten ihn die kleinen, schwarzen Platten, die nach dem Sturm in seinem Garten lagen.
Jonas holte sich seine Schuhe und ging durch die Vordertür hinaus. Er gab immer besonders darauf acht, keine der Blumen zu zertreten. Auch dieses Jahr würden wieder viele Krokusse blühen, alles in ein helles Blau verwandeln.
Er bückte sich und hob eine der schwarzen Platten auf. Es waren Dachpfannen, die infolge des starken und plötzlichen Windes lose in den Garten gefallen waren. Die in seiner Hand war noch heil aber in der Nähe lagen zwei in Scherben zerfallen zwischen Gestrüpp und Gras. Er reckte sich, atmete die frische Luft ein und hob die Scherben auf. Sie waren in einem Dornengebüsch gelandet. Er kratzte sich den rechten Arm dabei auf, sofort begann die Schnittwunde zu bluten. Erst nach drei Versuchen hatte er alle Pfannen herausgeholt und zurück auf die Veranda gebracht.
Sie hatten sich das Haus damals in der festen Überzeugung gekauft, einmal viele Kinder zu haben. Szenarien voller Glück hatten sich vor den Augen von Jonas und Marion wie Festungen aufgebaut und keiner von beiden glaubte daran, dass sich etwas ändern könnte. Aber die Mauern ihrer Burg waren schon beim ersten Angriff zerstört.
Jonas sah auf diesen Garten, den er seit dem Tod seiner Frau nicht mehr richtig genießen konnte. Er war sich sicher, dass das Haus nur Hass für ihn empfand. Es hatte die Dachpfannen absichtlich heruntergeworfen. Er nahm ein Kehrblech aus der Gartenbox und wischte grob über sie. Wieso mach ich mir die Mühe? Es war ihm eigentlich alles so egal, seitdem sie ihn verlassen hatte. Hatte sie nicht kurz vor ihrem Tod noch gesagt, er müsse weiterleben? Aber es hatte gar kein danach mehr gegeben, sein Leben spielte seit drei Jahren in der Vergangenheit. Ihn erinnerte so vieles in diesen Wänden an seine Marion, dass er nicht glaubte, diese Haus aufgeben zu können.
Wohin sollte er schon gehen, wenn es doch eigentlich keinen besseren Ort auf der Welt gab, als dieses Haus. Da konnten ihn die Mauern so sehr hassen, wie sie wollten, er würde den Ort dennoch lieben. Hier, an diesem letzten Platz, wo er Marion spüren konnte.
Als er die Dachpfannen ordentlich aufgestapelt und gesäubert hatte, ging er zurück ins Haus. Jonas suchte in den gelben Seiten nach einer Firma, die ihm das Dach wieder reparieren könnte. Am Apparat meldete sich eine mürrische Stimme und Jonas legte sofort wieder auf.
Er irrte im Haus umher, sah sich alte Farbfotos an, die ihm trotzdem schwarzweiß vorkamen, so wenig Leben war in ihnen. Aus dem Kühlschrank holte er sich das Hähnchen von gestern und stellte es in die Mikrowelle. Es würde sicher nicht gut schmecken, aber das war er gewohnt. Als er den ersten Bissen in das Fleisch tat, schreckte er zurück und warf es in den Mülleimer.
Als er wieder das Haus verließ, war es trocken. In einer großen Birke sangen fröhliche Vögel um eine unheimliche Wette. Ein Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, ging am Gartenzaun vorbei und sah zu ihm herüber.
Auf die oberste Dachpfanne war ein kleines Blatt gefallen. Er sah erneut weg. Ein Auto fuhr auf der nahen Straße und wirbelte restliches Regenwasser auf. Ein einzelner Spritzer landete auf seinem Gesicht. Wie eine Träne lief er sein Gesicht herunter, aber Jonas hatte schon seit langem vergessen, wie man weinte.
Aus dem baufälligen Schuppen holte er sich die lange Leiter. Sie war schwer und nur mit Mühe schaffte er es, sie bis zur Terrasse zu tragen. Und als er da war, brauchte er fast vier Versuche, das Stahlgestell richtig aufzustellen. Erst wollte es nicht halten, dann hatte er Angst, es könnte verrutschen, wenn er es bestieg. Er nahm die erste Dachpfanne und stieg, Sprosse nach Sprosse nehmend, die Leiter auf. Anfangs fühlte er sich ängstlich und obwohl er vielleicht zwei Meter in der Luft war, glaubte er, er könnte in den Tod stürzen. Seine Füße bewegten sich nur noch widerwillig und jede weitere Stange war ein Kraftakt.
Nacheinander und immer nur eine Pfanne nehmend brachte er alle nach oben. Er legte sie vorsichtig aufs Dach. Als letztes stieg auch er von der Leiter hinauf. Dabei hielt er sich an der Regenrinne fest. Jonas musste sich zwingen, nicht nach unten zu sehen. So lange er konnte, hielt er sich an der Leiter fest. Mit einem kräftigen Schwung brachte er sich schließlich aufs Dach
Der Himmel über ihm war wolkenverhangen und nur vereinzelt blickte die Sonne hindurch. Leiser und angenehmer Wind strich durch seine Haare. Jonas machte sich an die Arbeit und legte die Pfannen in die leeren Stellen. Er war überrascht, wie feste die übrigen noch saßen. Das Einsetzen war keine schwere Arbeit, es war fast angenehm und als er die letzte wieder an ihren angestammten Platz legte, fühlte er sich, als hätte er gerade ein schweres und großes Puzzle gelöst.
Der Wind war stärker geworden und pfiff um seine Ohren. Eine schöne Melodie aber, die sich irgendwo zwischen Harmonie und Disharmonie auflöste und wie ein Stein in einen Brunnen fiel. Er konnte dieses Gefühl erst nicht fassen, so erleichtert fühlte er sich mit einem Mal. Dann sah er vom Dach weg, erst auf den kleinen, aber feinen Garten und dann wieder in die Wolken.
Die Sonne war verschwunden. Sie war nicht nur einfach hinter eine großen Wolke getaucht, sie war wirklich weg. Trotzdem war es hell, unglaublich hell. Ein neuer Windhauch fuhr ihm mitten durchs Gesicht und machte das Atmen schwer.
Plötzlich spürte er sich nicht mehr, es war alles nur noch ein einziger glücklicher Moment. Es formte sich ein gewaltiges Bild. Erst blähte sich die Wolke auf und nur annähernd glaubte Jonas zu verstehen, dass diese Wolke die Sonne geschluckt haben musste. Lodernde Flammen, als wäre alle Energie des Weltalls in ihnen vereint. Dann brach alles heraus und formte sich zu einem riesigen Gesicht, dass ihn ansah. Die Melodie wurde zu einer Stimme, die von oben herab auf ihn herunter schwirrte. Er begriff, dass er in diesem Augenblick weiter sah, als es seine Augen konnten und er wollte, dass es nie mehr aufhört. Marion redete mit ihm. Es war alles so wundervoll und warm und das schwarze Dach nahm er schon bald nicht mehr zur Kenntnis.
Die Leute, die in einer ganz anderen Wirklichkeit lebten als Jonas, brauchten drei Stunden und einen Helikopter, um den leblos wirkenden Körper vom Dach zu bekommen. Seine offenen Augen, die irgendwohin zu starren schienen, schlossen sich erst, als ein Arzt mit einer Spritze kam und versuchte, dem Mann zu zeigen, wo es wieder ins Leben ging.
Marburg, 26.10.2004