Marja
Es war nicht besonders dunkel in dieser Nacht, da der Vollmond hoch über der Stadt stand.
Die Laternen in der sanierten ehemaligen Zechensiedlung waren noch nicht erneuert worden.
Einige funktionierten nicht, andere flackerten oder brummten so laut, dass sich selbst die ansonsten darunter kreisenden Insekten in andere Teile der Stadt verzogen hatten.
„Nichts, ist mehr wie es war und noch weniger, wie es sein sollte.“ dachte sich Tom jedes Mal, wenn er seine einsamen Spaziergänge durch die Nacht unternahm. Alle Häuser waren umsäumt von Rasenflächen und unzähligen kleine Schrebergärten, die eigentlich gar nicht mehr wegzudenken waren. Und doch mussten sie dem „Fortschritt“ und den „Ideen“ neuer Eigentümergesellschaften weichen und wurden ersetzt, durch Einheitswohnmodule auf Einheitsgrünflächen mit Einheitsgeräteschuppen aus Blech.
Letztere aber immerhin überzogen, mit einer stilistischen Version von aufgedruckter Holzmaserung auf Kunststofffolie!
Tom kam an einem Haus vorbei, vor dem jede Menge Möbel ungeordnet herum standen.
Alte Couchen mit verschnörkelten Holzgestellen und grün-braun gestreiften Polsterauflagen mit Federkern. Optisch mehr als abstoßend, aber scheinbar für die Ewigkeit gemacht. Eine Ewigkeit, die ein unendlich langes und ereignisloses Rentnerdasein überdauert, bis sie eines Tages, nach einer eintönigen aber soliden Existenz in einer muffigen Seniorenwohnung, plötzlich aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden, um ihnen ihre hölzernen alten Knochen zu brechen und ihre drahtigen Eingeweide heraus zu reißen, um sie zu Putzlappen und Pressspanplatten zu verarbeiten. Oder schlimmer! Sie enden auf einer modrig, stinkenden, versumpften Müllkippe als Landeplatz für Möwen.
„Wollte der Erfinder von Ikea vielleicht der Grausamkeit Einhalt gebieten, dass nach dem Ableben alter Menschen, arme, verwaiste Möbel aus richtigem Holz, einsam und verlassen, ihre, viel zu lange, Lebensdauer als verrottende Gebilde in der Landschaft fristen?“
dachte sich Tom und folgte weiter seinem durch viele nächtliche Spaziergänge vorgezeichneten Weg.
Seine Gedanken über die armen Möbel wurden durch einen Anblick gestört, mit dem er nicht gerechnet hatte. Nicht in dieser Nacht und überhaupt.
Auf der Wiese vor einem der Häuser stand einer der Blechschuppen, der offensichtlich noch nicht einmal von seiner Transportverpackung befreit worden war, in Flammen. Der Schuppen stand gefährlich nahe an einer der ältesten Bewohner der ganzen Stadt. Die versengten Äste der alten Kastanie zischten und zogen sich in der glühenden Hitze zusammen. Es sah aus, als wolle sie sich aus eigener Kraft, vor dem Flammentod bewahren.
Keine Menschenseele war auf der Straße und alle umliegenden Häuser waren bereits wegen Umbau geräumt. Also, bemerkte niemand das Drama, das sich dort abspielte.
Tom lief zum Ende der Straße, in der Hoffnung an der nächsten Straße, außerhalb der Siedlung, auf jemanden zu treffen, der ein Handy dabei hat oder einfach Hilfe holen könnte.
Er sah sich, etwas außer Atem, nach links und rechts um, doch niemand war da.
Dann plötzlich „ein Auto!“ Tom lief auf die Straße und stoppte es. Der Fahrer fühlte sich durch diese Nächtliche Attacke wohl bedroht, knallte krachend den Rückwärtsgang in das Getriebe seines alten Golf und fuhr mit voller Kraft zurück. „Weg ist er!“ dachte sich Tom, als er die Sirenen mehrer Feuerwehrfahrzeuge hörte.
Er lief zurück. Ein Leiterwagen und ein Tankfahrzeug hatten den Ort der Folter bereits erreicht, als Tom völlig außer Atem ankam.
Der Einsatz war voll im Gange. Allerdings mit mäßigem Tempo, da der Schuppen schon fast ausgebrannt war. Er sah aus, wie ein Lebkuchenhaus, dass mit Verpackung gebacken wurde. Eine übelriechende schwarze Rauchwolke stieg auf und trübte die Sicht auf die Geschehnisse.
Tom stand einfach da und dachte über den Vergleich mit dem Lebkuchenhaus nach, als ihn Jemand ansprach:
>>Hallo du! Hey, bist du ansprechbar oder brauchst du einen Arzt?<<
Tom zögerte und musste über die Frage schmunzeln. Sie war wohl das Produkt von Dämpfen der verbrannten Kunststofffolie. Er lies sich die Frage immer wieder durch den Kopf gehen: „bist du ansprechbar oder brauchst du einen Arzt…? Was für eine Frage? Selbst wenn es so wäre! Wie soll ich die Frage verstehen, wenn ich nicht ansprechbar bin? Und überhaupt! Braucht jetzt jeder, aus welchen Gründen auch immer, einen Arzt nur weil er grad mal nicht ansprechbar ist? Demnach bräuchte ich jeden Morgen kurz nach dem Aufstehen einen Arzt!“
>>Hallo! Ich habe gefragt, ob du in Ordnung bist!<<
>>Nein, ja – alles in Ordnung!!<<
>>Hast du den Notruf gewählt?<<
>>Ich hatte es vor, aber es scheint mir Jemand zuvor gekommen zu sein!<<
>>Was tust du überhaupt so spät hier draußen?<<
>>Spazieren gehen!<<
>>Aha!<<
>>Was heißt Aha?<<
>>Aha heißt Aha. Aber ich könnte auch soso sagen, wenn es dir besser passt!<<
>>Mhm!<<
>>Würden du mich bitte kurz zum Einsatzfahrzeug begleiten? Ich müsste deine Personalien aufnehmen.<<
Jetzt löste Tom seinen Blick von der qualmenden Hütte und sah den Feuerwehrmann an, der gar kein Mann war, sondern eine Frau.
Tom war sichtlich überrascht und blickte ihr, für ihren Geschmack etwas zu lange in die strahlend grünen Augen, deren Farbe selbst im kalten Licht der brummenden Straßenlaterne zu erkennen war.
>>Was ist jetzt, kommst du?<<
>>Oh, ja klar! Äh, ich war nur...<<
>>Ja, ist schon klar, das ist in solchen Situationen meistens der Fall! Also, was ist jetzt?<<
>>Ja OK!<<
Tom tapste, durch das Gewirr von Einsatzkräften und Schläuchen, hinter der Feuerwehrfrau her und studierte dabei ihre Konturen. Er versuchte sich vorzustellen, welche Kurven sie wohl unter diesem eigentlich viel zu weiten Overall versteckte, als er erneut von einer Frage überrascht wurde:
>>Was machst du hier?<<
>>Wo?<<
>>Na hier!<<
>>Das wüsste ich auch gern!<<
>>Was?<<
>>Na warum ich hier bin!<<
>>Kann es sein, dass du unter Schock stehst?<<
>>Ich verstehe nicht, du hast doch damit angefangen.<<
>>Womit?<<
>>Ja mit der Philosophiestunde! Aber wenn dich das weiter bringt; um mir über solche Sachen Gedanken zu machen, gehe ich nachts spazieren.<<
Die Feuerwehrfrau sah ihn etwas erstaunt an:
>>Und?<<
>>Was und?<<
>>Wer hat die Hütte angezündet?<<
>>Diese Frage habe ich mir noch nicht gestellt.<<
>>Soso!<<
>>Soso was?<<
>>Weis auch nicht. Es brennt und du bist der Einzige, der in der Nähe ist. Das wirft doch Fragen auf, oder?<<
>>Stimmt! Und mit welcher fangen wir an?<<
>>Warst du es?<<
>>Diese Frage ist langweilig.<<
>>Was?!<<
>>Da gibt’s doch bessere!<<
Die junge Feuerwehrfrau sah ihn verdutzt an. Tom glaubte zu erkennen, dass sie überlegte, ob das Gespräch überhaupt in die Richtung ging, wie geplant. Tatsächlich überlegte sie aber, ob man so eine Behauptung einfach so aufstellen dürfe. Doch sie lies nicht lang auf sich warten:
>>Zum Beispiel?<<
>>Ich gehe hier jeden Abend spazieren. Niemals ist hier jemand, weil die Häuser leer stehen. Ich habe den Brand gesehen, bin aber nicht dazu gekommen, die Feuerwehr anzurufen, weil mir Jemand zuvor gekommen ist.<<
>>Und was ist jetzt die bessere Frage? Wer außer dir lief hier herum und hat den Brand gesehen, oder was?<<
>>Kann sein. Es gibt aber noch eine Frage, die vielleicht noch besser ist.<<
>>Welche den? Sag mal geht’s dir wirklich gut?<<
>>Das ist jetzt nicht die Frage. Die Frage könnte lauten: Wer läuft von mir unbemerkt hier herum? Der Jenige, der das Feuer gelegt hat, oder der Jenige, der die Feuerwehr angerufen hat? Und jetzt kommt die, meiner Meinung nach, beste Frage.<<
>>Welche? Wann die Männer im weißen Kittel kommen, um dich abzuholen?<<
>>Nein, die Frage muss lauten: Was, wenn beide ein und dieselbe Person sind?<< fragte Tom mit scherzhaft geheimnisvoller Stimme.
Sie blickte ihn etwas länger schweigend an. Dann sah sie auf ihr Klemmbrett, auf dem noch nicht eine Angabe eingetragen war. Sie sah ihn wieder an und sagte:
>>Fragen über Fragen. Zumindest habe ich schon mal eine Antwort.<<
Tom sah sie erstaunt an:
>>Ach ja, welche denn?<<
>>Ich weis jetzt schon mal, warum du nachts allein draußen rum läufst. Bist du irgendwie einsam, oder so?<<
Tom grinste und sah verlegen zu Boden:
>>Nein, ehrlich gesagt, ganz im Gegenteil.<<
>>Oh, ach so. Na dann ist doch alles halb so schlimm.<<
>>Was?<<
>>Na ja, es ist doch besser, die Einsamkeit suchen zu müssen, als ständig vor ihr auf der Flucht zu sein!?<<
Tom konnte nicht mehr antworten. Ein Feuerwehrmann kam angelaufen:
>>So, hier ist alles soweit unter Kontrolle!<<
Sein Blick fiel auf Tom:
>>Haben sie den Notruf gewählt?<<
>>Nein<< antwortete Tom >>Jemand anderes ist mir zuvor gekommen. Als ich hier vorbei kam und den Brand bemerkte, wahren sie kurz darauf schon hier.<<
>>OK, wir haben ja jetzt ihre Personalien. Wir kommen möglicherweise noch mal auf sie zurück.<<
Tom sah die beiden Firefighter abwechselnd an:
>>Also, bisher hat mich noch Niemand nach meinem Namen gefragt.<< sagte Tom.
Der Feuerwehrmann, der anscheinend der Einsatzleiter war, wandte sich genervt an seine junge Kollegin:
>>Marja! Warum fährst du überhaupt nachts mit raus, wenn du gar keine Lust hast dich nützlich zu machen?!<<
Tom sah verwundert von einer Person zur anderen.
Der Feuerwehrmann fuhr fort:
>>Jetzt nimm gefälligst die Personalien des jungen Mannes auf und dann kann er gehen! Was ist denn los mit dir?<<
Mit diesen Worten verschwand er wieder im Gemenge seiner Kollegen.
Tom sah die Feuerwehrfrau, die jetzt deutlich jünger wirkte als vor ein Paar Sekunden, fragend an. Sie wirkte peinlich berührt und hatte Schwierigkeiten, ein Wort heraus zu bringen. Tom unterbrach die Stille:
>>Wie es scheint, stehen jetzt noch einige ungeklärte Fragen im Raum, wie?<<
Sie nahm den Helm ab und warf ihn wütend in das Einsatzfahrzeug. Ihr etwas zerzaustes rotes Haar kam zum Vorschein, das sie sogleich mit einem Gummi zusammen band.
>>So was macht er gerne!<< sagte sie wütend.
>>Was?<<
>>Vor anderen den Chef raus hängen lassen!<<
>>Er ist doch dein Chef, oder?<<
>>Viel schlimmer! Er ist mein Vater!<<
>>Oh, dann ist seine Reaktion wohl verständlich.<<
>>Was?!<<
>>Na wir stehen hier schon eine ganze Zeit und du hast noch kein Wort geschrieben.<<
>>Du sagst ja auch nichts!<< entgegnete sie genervt.
>>Dafür dass wir uns gar nicht kennen, habe ich schon ganz schön viel gesagt. Wir waren außerdem noch nicht bei den Antworten, wir waren erst bei den Fragen.<<
>>Jetzt geht das schon wieder los!<<
>>Was?<<
>>Du hältst mich schon wieder von der Arbeit ab!<<
>>Tut mir leid, das mit den Personalien hättest du auch einfacher haben können.<<
>>Na toll! Wie denn?!<<
>>Du hättest mich einfach nach meinem Namen fragen können, statt mich zu fragen, ob ich die Hütte angezündet habe.<<
>>Da, du tust es schon wieder!<<
>>Was?<<
>>Du willst mir schon wieder sagen, welche Fragen ich stellen soll! Dadurch ist der ganze Ärger doch erst entstanden!<<
>>Tut mir Leid.<<
Sie sah ihm fasziniert dabei zu, wie er einfach da stand und die Feuerwehrtruppe dabei beobachtete, wie sie mit Schaumlöschern um das verkohlte Lebkuchenhaus liefen, um es mit weißen, zuckergussartigen Wolken zu verzieren. Vielleicht als Ablenkung für die arme, alte Kastanie, die sich möglicherweise grade die Frage stellte, warum just in diesem Moment eine Kettensäge gestartet wurde.
Dann trafen sich ihre Blicke wieder und er sah ihr in ihre glänzenden Augen.
Dann kam die Frage:
>>Also, wie ist dein Name?<<
>>Tom.<<
>>Tom. Und weiter?<<
>>Nobi.<<
>>Nobi?<<
>>Ja.<<
>>Tom Nobi?<<
>>Ja.<<
>>Eigenartiger Name.<<
>>Kann sein, danke.<<
Eine dieser berühmten peinlichen Pausen versuchte sich grade auszubreiten, als sie erneut ausholte:
>>Warum fragst du mich nicht nach meinem Namen? Tom!<<
>>Ich dachte, ich stehe hier, um Antworten zu geben. Marja!<<
Zum ersten Mal lächelte sie:
>>OK, dann gib mir mal deine Adresse.<<
>>Ich dachte schon du würdest nie fragen!<< sagte Tom erleichtert.
Beide lachten.
Während Tom seine Adresse selbst aufschrieb, stand Marja einfach da und sah ihm zu.
Es muss so gegen halb drei Morgens gewesen sein, als Tom leise die Wohnungstür aufschloss und sich durch den langen Korridor in sein Zimmer schlich.
Die Feuerwehr kam zu dem Ergebnis, dass jemand unachtsam eine Zigarette weg geworfen haben muss und entlies Tom, den bekennenden Nichtraucher, nachhause.
Ein dumpfes Klopfen riss Tom aus dem Schlaf. Eine Frauenstimme auf der anderen Seite der Zimmertür:
>>Tom steh auf, es ist schon halb zehn! Auch wenn Ferien sind musst du nicht den ganzen Tag verschlafen!<<
Tom hievte sich langsam aus dem Bett und verlies sein Zimmer in Richtung Küche.
Um ihn herum war es ziemlich laut. Drei seiner vier Geschwister spielten, sehr zum Ärgernis der Mutter, Fangen in der Wohnung, die für eine sechsköpfige Familie deutlich zu klein war. Er setzte sich an den Küchentisch.
>>Jetzt raff dich auf!<< sagte Toms Mutter >>auch wenn Ferien sind musst du hier nicht so herum gammeln. Geh mal etwas früher schlafen, dann bist du auch morgens nicht so gerädert!<<
>>Danke für den Tipp. Letzte Nacht hat es gebrannt.<<
>>Wo denn?<<
>>Zwei Straßen weiter im Hülsloh. Da wo alle Häuser leer stehen.<<
>>Ich hoffe, dass du nichts damit zu tun hast, Tom!<<
>>Natürlich sind deine Sorgen berechtigt. Ich laufe ja schließlich ständig durch die Gegend und zünde irgendwas an.<<
>>Ja, ja schon gut! Tom sieh mal bitte im Wandschrank nach. Vorhin hat es geklingelt und die Kurzen haben aufgemacht.<<
Tom stand auf und ging wieder den langen Korridor entlang, wo er vor einer hohen Holzlamellentür zum stehen kam. Er öffnete sie und ein zunächst dunkler, scheinbar unendlicher Raum tat sich vor ihm auf. Als sich ein Moment später seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah Tom zwischen Winterjacken und jeder Menge anderem Kram einen kleinen Jungen in Unterwäsche sitzen, der ihn aus der Ecke, in die er sich verzogen hatte, mit großen Augen ansah. Tom kniete sich zu ihm auf den Boden. Der Kleine sechs jährige Junge sagte nichts.
>>Hallo Philip.<< sagte Tom >>Warum sitzt du denn schon wieder in unserem Schrank? Wenn es dir zuhause zu langweilig ist, kannst du doch genauso gut mit den anderen Nervensägen spielen.<<
>>Nein, nein! Hier ist besser. Hier ist schön, glaub ich.<<
Tom sah den Jungen abschätzend an. Obwohl er selbst grade erst achtzehn geworden war, kam er sich vor, wie eine Vaterfigur. Er war der große Bruder in der Familie und wenn er seiner Mutter glauben durfte, der Mann im Haus, seit sein Vater, irgendwann, auf nimmer Wiedersehen das Haus verlassen hatte.
>>Möchtest du nicht rüber zu deiner Mama?<< fragte Tom den Kleinen.
>>Die glaubt ich spiele in meinem Zimmer. Und das schon seit zwei Stunden! Noch Fragen?<<
>>OK, ich lasse dich jetzt wieder in Ruhe. Brauchst du irgendwas?<<
>>Ich weis nicht. Vielleicht ein rotes Blatt Papier?<<
>>Brauchst du jetzt ein Blatt Papier oder nicht?<<
>>Ich weis nicht!<<
>>OK, dann.<<
Tom stand auf, schloss die Lamellentür und ging zurück in die Küche. Seine Mutter stand dort mit einem großen Sack Kartoffeln in der Hand und sah ihn erwartungsvoll an:
>>Und?<<
>>Ne, ist nicht drin.<<
>>Gut. Aber ich hätte schwören können, dass er wieder da ist. Ich möchte wissen, was da drüben los ist, das der Kleine immer hier rüber flüchtet.<<
>>Warum fragst du dann nicht?<<
>>Weis auch nicht. Vielleicht, weil sich die Frage so blöd anhört.<<
Tom grinste:
>>Welche Frage meinst du genau?<<
>>Na die: Guten Tag Frau Schmidt! Sagen sie mal, können sie mir vielleicht sagen, warum ihr Sohn die hälfte seines bisherigen Lebens in unserem Wandschrank verbracht hat?<<
>>Und was glaubst du würde sie antworten?<<
>>Bin mir nicht ganz sicher, aber wohlmöglich so etwas wie: Ach ehrlich, hat er das?<<
>>Eine unzulässige Gegenfrage!<< wandte Tom ein.
Beide lachten.
>>Tom würdest du bitte mal eben rüber in den Laden laufen und mir ein Paket von diesem Soßenpulver von Letztens holen?<<
>>Klar, ich ziehe mich eben an.<<
Tom ging in sein Zimmer, zog sich an und warf auf dem Weg zur Wohnungstür ein rotes Blatt Papier durch die Lamellen der Wandschranktür.
Die Glocke läutete, als Tom die Tür des kleinen Kaufladens öffnete. Eine ältere Frau mit Brille und verschlissenen Haushaltskittel begrüßte ihn:
>>Hallo Tom, was darf es denn heute sein?<<
>>Einmal Letzten`s Soßenpulver bitte!<<
>>Letzte Nacht hat es gebrannt Tom.<<
>>Ich weis. Hab’s gesehen…<<
Auf dem Weg nachhause ging Tom noch einmal durch die verlassene Siedlung. Die Kastanie hatte es ziemlich hart erwischt. Einige große Äste lagen am Boden. Teilweise verbrannt und Teilweise mussten sie abgesägt werden, weil sie sonst womöglich jemanden auf den Kopf gefallen wären. „Sei nicht traurig, schöner alter Baum. Du wirst noch hier stehen, wenn die Häuser schon lange aussehen, wie der olle Schuppen“ dachte sich Tom, als er schon längst die verkohlte Hütte betrachtete. „Fast schon schön. Hat was erdiges oder so.“ dachte sich Tom als er weiter ging und noch einige mehr dieser Einheitshütten zu sehen bekam, die alle plangerecht an immer der gleichen Stelle der Grundtücke platziert waren. Aus der Luft war zu erkennen was die irdische Perspektive nicht erfassen konnte. Ein alter Baum, eingekesselt von einer Arme aus getarnten Lebkuchenhäusern. Formiert in Reih und Glied.
Als Frau Nobi hörte, dass ihr Sohn die Wohnung betrat, fing sie an, von der Küche aus zu erzählen:
>>Tom da war grade Besuch für dich da!<<
>>Wer denn? Die sind doch alle im Urlaub!<<
>>Es war niemand aus der Schule!<<
>>Wer denn?!<<
>>Keine Ahnung, aber sie hat etwas für dich hier gelassen!<<
>>Sie?<<
Tom rannte in die Küche:
>>Was, wer war’s denn?<<
>>Na, ich würde mal sagen: ein hübsches, rothaariges Mädchen. So in deinem Alter, vielleicht etwas älter. Mit strahlend grünen Augen. So was habe ich echt noch nicht gesehen. Und sehr nett!<<
„Alles klar Tom. Du bist im Bilde.“
>>Und hast du mit ihr geredet?<<
>>Nein, ich hab sie noch nicht mal rein gebeten! Natürlich habe ich mit ihr geredet! Sie hat bestimmt eine halbe Stunde auf dich gewartet, aber du hast ja immer alle Zeit der Welt!<<
>>Und was hat sie gesagt?<<
>>Was soll sie gesagt haben? Das ihr euch vor kurzem kennen gelernt habt und so weiter.<<
>>Und so weiter?!<<
>>Ja, da nimm! Sie hat dir einen Brief da gelassen.<<
Tom hatte einen sehr kleinen roten Umschlag vor Augen. Er nahm den Umschlag und lief damit in sein Zimmer.
Hallo Tom Nobi!
Das ist also wirklich dein Name! Warum hast du gesagt, dass du nicht den Notruf gewählt hast? In der Zentrale haben sie mir gesagt, dass ein Herr Nobi den Notruf abgesetzt hat. Hättest mich nicht anlügen müssen! Also, was ist jetzt mit der „alles entscheidenden“ Frage?!
Marja
„Ich glaube, die nächste Frage sollte erst einmal: He?! lauten.“ dachte Tom.
>>Hey Mama, hat sie sonst noch irgendwas gesagt?!<<
>>Nein eigentlich nicht!<< tönte es aus der Küche.
>>Was heißt eigentlich?!<<
>>Nein hat sie nicht!<<
Als Tom grade seine Zimmertür schließen wollte sah er, wie sich die Lamellentür des Wandschranks im Korridor langsam öffnete und eine kleine Hand dahinter hervor kam, die Tom zu sich dirigierte. Tom ging zum Wandschrank und kniete sich zu dem kleinen Jungen auf den Boden und schloss die Tür von innen:
>>Was ist los Philip?<<
>>Sie hat einen roten Brief hier gelassen.<<
>>Ja und Philip? –Ja, stimmt Kleiner.<< fügte Tom noch schnell hinzu.
>>Genau wie mein rotes Boot hier.<<
>>Ja schön Philip. Ich geh dann mal wieder.<<
>>Sie hat nich nur den Brief da gelassen.<<
>>Was meinst du Philip?<<
>>Sie hat noch was gesagt.<<
>>Ach wirklich, was denn?<<
>>Steht alles hier drauf.<<
Der Kleine reichte ihm ein rotes Papierboot. Tom nahm es in die Hand und öffnete es vorsichtig. Die kindlichen Versionen von Wolken, Sonne, Vögel und einem See waren darauf zu sehen. Bevor Tom überhaupt fragen konnte, sagte ihm der Kleine:
>>Da ist sie.<<
>>Was meinst du?<<
>>Na da am See. Sie hat gesagt, dass sie zum See geht...<<
Es waren mehr als fünfunddreißig Grad an diesem Tag. Die umliegenden Uferstrände waren, bis auf den letzten Quadratzentimeter, mit auf Decken und Badetüchern liegenden Menschen übersät, die damit beschäftigt waren, ihre Epidermis von der Sonne grillen zu lassen.
„Ich muss verrückt sein, hier rumzustiefeln und jemanden zu suchen, der mich grad noch als Lügner bezeichnet hat!“ dachte sich Tom, als er über die wenigen freien Sandflächen stakste.
Plötzlich stand sie vor ihm. Sie stand da, in mitten von zahlreichen Rot- und Brauntönen und funkelte ihn mit ihren grünen Augen an:
>>So, der kleine hat Wort gehalten.<<
>>Wie Wort gehalten?<<
>>Er hat gesagt wenn ich ihm aus einem Blatt Papier ein Schiff falte, dann sagt er dir wo ich bin.<<
>>Warum sollte er es mir sagen?<<
>>Das macht die Sache irgendwie spannender.<<
>>Welche Sache?<<
>> Na, die ganze Sache.<<
Tom stutzte.
>>Und das mit dem Anruf? Ich habe nicht die Feuerwehr gerufen!<<
>>Aber es wäre schön gewesen, wenn du es gewesen wärst!<<
>>Warum?<<
>>Dann wärst du so was wie ein Held.<<
>>Wie, ein Held?<<
>>Na, dann hättest du die Kastanie gerettet!<<
>>Hauptsache sie wurde gerettet!<<
>>Stimmt.<<
Als sich am Abend die Menschenmassen verzogen hatten, saßen Tom und Marja noch immer am See und starten Löcher in den Himmel.
>>Warum bist du hier Tom?<<
>>Hier? Ich weis nicht ich...<<
>>Ich meine nicht hier. Ich meine hier, so allgemein!<<
>>Zunächst mal wegen meinen Eltern.<<
>>Na toll! Und die sind wiederum wegen ihren Eltern hier und so weiter und sofort.<<
>>Ich weiß es nicht genau. Außerdem kann man das in meinem Alter noch gar nicht wissen. Oder?<< sagte Tom trotzig.
>>Ich bin jeden Tag wegen etwas anderem hier.<< sagte Marja überzeugt.
>>Wo?<<
>>Na hier.<<
>>Wo jetzt hier oder hier?<<
>>Sowohl als auch. Ich bin heute hier, um hier zu sein. Und morgen bin ich hier, um woanders zu sein.<<
>>Und wo?<<
>>Woher soll ich wissen wo ich morgen bin, wenn ich noch nicht einmal weiß, wo ich heute Abend bin? Währst du nicht gekommen, wäre ich schon längst nicht mehr hier.<<
>>Da ist was dran.<<
>>Aber ich habe irgendwie Vertrauen in die Sache.<<
>>In welche Sache?<<
>>So in die allgemeine Sache.<<
>>Die allgemeine Sache?<<
>>Ja, das Prinzip an sich. Ich bin heute hier, weil Etwas entschieden hat, das wir uns treffen.<<
>>Redest du jetzt vom Schicksal?<<
>>Nein vom Zufall. Wir haben uns durch Zufall getroffen. Und dann wurde entschieden, dass wir uns wieder treffen.<<
>>Wer hat das entschieden? Das waren doch wir. Oder täusche ich mich da?<<
>>Nein, es war der Junge in eurem Schrank.<<
>>Jetzt bin ich etwas überfordert, Marja.<<
>>Ich habe deiner Mutter nicht gesagt, dass ich dich wiedersehen möchte. Also hat der Zufall entschieden, dass ich, als ich im Flur eurer Wohnung stand, ein Paar wache Augen durch die Lamellen in der Wandschranktür entdeckte, die mich beobachteten. War etwas unheimlich nebenbei gesagt! Also hat er mir einen Handel angeboten, der Kleine.
Eine Hand wäscht die andere so zu sagen. Entweder er hält sein Versprechen und sagt es dir, oder er sagt nichts, du erfährst nicht wo ich bin, ich hätte nicht gewusst, warum du nicht kommst, wäre vor Scharm im Erdboden versunken und hätte mich nie wieder bei dir gemeldet!<<
>>Und jetzt bin ich hier.<< sagte Tom erstaunt.
>>Und jetzt bist du hier. Irgendetwas hat entschieden. In Form eines kleinen Jungen in einem Wandschrank.<<
>>Ein Junge in unserem Schrank entscheidet über mein Leben?! Nur gut, dass ich immer freundlich zu ihm war!<<
>>Nein, nicht der Junge hat entschieden. Er wurde nur als Werkzeug benutzt!<<
>>Und von wem?<<
>>Keine Ahnung. Vielleicht, war es die Kastanie. Vielleicht aber auch der Jenige, der den Schuppen angezündet hat. Oder auch keiner!<< sagte Marja genervt.
>>Vielleicht war es auch einfach nur etwas.<< sagte Tom.
>>Etwas, was denn?<<
>>Möglicherweise ein rotes Stück Papier?<<
>>Wieso?<<
>>Ich gab es ihm, bevor ich ging.<<
>>Du hast es ihm gegeben und er hat den roten Brief bei mir gesehen. Sympathiebonus!<<
>>Aber ich glaube nicht, dass er ein Werkzeug ist.<<
>>Klar, wer würde schon gerne zugeben, das seine liebsten nur Wergzeuge sind.<<
>>Nein, dass ist es nicht. Frag mich mal, warum er das rote Blatt Papier hatte.<<
>>Also, warum?<<
>>Weil er mich darum gebeten hat, bevor ich ging. Und er ist nicht mit mir verwandt!<<
>>Nicht? Aber warum sitzt der in euerm Schrank?<<
>>Hm, wenn er also mein Bruder wäre, würdest du dir keine Gedanken darüber machen, warum er im Schrank sitzt?<<
>>So oder so nicht! Komm lass uns schwimmen gehen!<< rief sie plötzlich. Sie sprang auf, zog ihre Klamotten aus, sodass ein grüner Badeanzug zum Vorschein kam. Sie nahm das Gummiband aus ihren roten, schulterlangen Haaren, streifte es über ihr Handgelenk und lief ohne zu zögern in den kühlen See.
Sie ließ sich einfach auf dem Rücken treiben, streckte die Arme weit von sich und sah in den rot blauen Himmel, der sich wie eine schützende Kuppel über die Welt legte.
Auch Tom sprang kurz darauf hinterher und trieb auf dem Rücken auf sie zu.
Einige Minuten vergingen in angenehmer Stille. Keiner der beiden sprach oder tat irgendetwas, außer den Blick in den Himmel zu richten und dem Atem der Welt zu lauschen.
Völlig unerwartet stellte Marja eine Frage:
>>Sag mal Tom. Würdest du mich retten, wenn ich in diesem See ertrinken würde?<<
>>Ja.<<
>>Und wenn dir vorher jemand sagen würde, dass du mich nur tot aus dem See ziehen wirst?<<
>>Dann würde ich es trotzdem machen, weil ich nicht glauben könnte, dass schon fest steht wie es ausgeht, bevor ich es überhaupt versucht habe. –Würdest du mich retten?<<
>>In jedem Fall! Erst der Zufall, dann die Entscheidung. Sollte ich die jenige sein, die in diesem Moment zur Stelle ist, liegt es daran wie ich mich entscheide. Auch wenn ich von etwas anderem beeinflusst werde, treffe ich eine Entscheidung.<<
>>Aber nur in dem Rahmen in dem der, die, das entscheidet.<<
>>Diese Möglichkeiten kenne ich in diesem Moment ja nicht. Also ist es meine Entscheidung.<<
Tom sagte nichts mehr.
In den folgenden Nächten lag er in seinem Bett und schlief tief und fest. Alles war sonnenklar. In einer besonderen Art und Weise war alles in Ordnung. Und der Wandschrank leer.
>>Marja<<
>>Ja?<<
>>Möchtest du meine Freundin werden?<<
>>Was bleibt mir anderes übrig?<<
>>Das Gegenteil natürlich!<<
>>Wenn du möchtest, dass ich deine Freundin werde, dann muss ich es werden um es zu bleiben, ist doch klar!<<
>>Das eine ist doch nicht von dem anderen abhängig! Sind wir Freunde?<<
>>Ich würde sagen ja!<<
>>Also hast du dich entschieden.<<
>>Ich hab ja keine Wahl!<<
>>Aber du hast Zeit!<<
>>Zeit, wofür soll ich mir Zeit nehmen? Es hat doch schon begonnen! Es wurde entschieden, dass du nicht der Held der Geschichte bist. Und das ist auch gut so!
>>Was hast du gegen Helden?<<
>>Die meinen ständig, etwas tun zu müssen, wozu nur sie berufen und geeignet sind! Möchtest du ein Held sein?!<<
Tom dachte kurz nach.
>>Es ist grade entschieden worden, dass ich keiner bin und auch keiner sein will.<<
>>Dann kannst du mich auch nicht vor dem ertrinken retten!<<
>>Ich sagte doch, dass ich es trotzdem versuchen würde, weil es erst einmal getan werden muss!<<
>>Würdest du es auch tun, wenn du anschließend damit leben müsstest ein Held zu sein?<<
>>Wenn es dich retten würde? Ja.<<
Tom schreckte mitten in der Nacht auf, als die Sirenen laut ertönten.
„Großalarm! Die Lebkuchenhausarmee zieht in den Krieg gegen ihre hölzernen Feinde.“ dachte er sich und öffnete das Fenster. Die Straßen waren vollkommen leer und es regnete leicht. Der Wind wehte ihm den Sprühregen ins Gesicht und er schloss die Augen. Er stellte sich vor, am See zu stehen. Mit Marja zusammen die Sterne zu beobachten und ihr dabei zu zuhören, wie sie laut über deren Sinn in der Ordnung der Himmelskörper nachdenkt. „Für sie hat immer alles einen Sinn.“ dachte er „Es ist egal worum es geht, sie hat immer eine Theorie parat. Ich glaube, dass sie mir in einer Nacht am See die ganze Welt erklären könnte.“
Es war grade mal acht Uhr in der Früh, als es an Toms Zimmertür klopfte. Er schreckte auf und hörte die Stimme seiner Mutter hinter einem Schleier aus Schlaftrunkenheit:
>>Tom, aufstehen! Ich gehe zum Markt! Du musst auf die kleinen aufpassen! Du weist was die sonst in der Zwischenzeit anstellen! Tom, hast du gehört?!<<
>>Ja, ich hab es gehört!<< „Wer sollte das überhört haben?“ fügte er in Gedanken hinzu.
Halb angenervt stand er auf und verlies sein Zimmer in Richtung Küche. Es war eine Hektik, wie auf einem leckgeschlagenen Marinekreuzer. Die kleineren seiner Geschwister rannten den Korridor entlang; und dies mit einer Lautstärke, die Niemand am frühen Morgen unbeschadet übersteht.
>>Könnt ihr euch nicht mal wie normale Menschen verhalten?! Das hält doch keiner aus!<<
>>Guten Morgen Tom!<< sagte seine Mutter >>mit dem falschen Fuß aufgestanden, wie? Du warst auch nicht anders in dem Alter. Obwohl? Vielleicht ein bisschen. Wie auch immer; ich muss los. Geh Frühstücken – es sind noch Brötchen da.<<
Mit diesen Worten zog die Mutter die Wohnungstür hinter sich zu.
Kurz darauf klingelte es an der Tür.
„Wohl den Schlüssel vergessen was?“ dachte sich Tom und öffnete die Tür. Vor ihm stand Philip, der Nachbarsjunge und Schrankbewohner, wie immer kaum bekleidet und etwas in der Hand haltend.
>>Hallo Philip, was ist denn?<<
>>Hab hier was für dich.<<
Philip streckte Tom einen kleinen roten Umschlag entgegen. Als Tom ihn ergriff, lief Philip an im vorbei in die Wohnung und versteckte sich, von den anderen Kindern unbemerkt, im Wandschrank.
Tom achtete nicht weiter auf Philip. Er hatte nur den Umschlag vor Augen. Er schloss die Wohnungstür und setzte sich an den Küchentisch. Als er den Umschlag öffnete rieselte etwas Sand heraus. Im Umschlag war eine Postkarte mit einem Foto von Marja am Strand. Sie stand da, winkte in die Kamera und lächelte. Ihre grünen Augen, wirkten wie Edelsteine in einer Statue aus weißem Marmor. Ihr Haar war so leuchtend rot, wie der Briefumschlag. In seinen Augen war sie ein Geschöpf vollkommener Schönheit, dessen Glanz Nichts und Niemand in den Schatten zu stellen vermochte. Und doch war er Weltmeister darin es zu verbergen.
Er ging ins Wohnzimmer. Dort saßen seine vier Geschwister vor dem Fernseher und stritten lautstark um das Programm. Tom versuchte dazwischen zu kommen. Keine Chance!
Er ging den Korridor entlang und machte am Wandschrank halt:
>>Philip?<<
>>Ich bin hier drin.<<
Tom öffnete die Schranktür und setzte sich zu Phillip in den Schrank.
Als er die Tür wieder schloss, war es fast dunkel. Nur ein Paar Lichtstrahlen leuchteten durch die Lamellen der Tür.
>>Philip, woher hast du diesen Brief?<<
Tom kam sich bei dieser Frage vor, als würde er ein mystisches Orakel befragen, das inmitten eines dunklen Tempels hockt.
>>Du weist doch von wem.<<
>>Ja, aber wie hast du ihn bekommen?<<
>>Sie hat ihn mir gegeben.<<
>>Wann denn?<<
>>Als sie einmal hier war.<<
>>Aber warum hast du ihn mir nicht sofort gegeben?<<
>>Sie hat gesagt, ich soll ihn dir geben, wenn ich Morgens bei euch schelle und du die Tür auf machst.<<
>>Das hat sie gesagt?<<
>>Ja. Und ich soll es so lang versuchen, bis es klappt. Dafür krieg ich eine Überraschung!<<
>>Was für eine?<<
>>Das weiß ich nicht, ist doch ne Überraschung!<<
>>Jetzt verstehe ich gar nichts mehr!<<
>>Warum nicht?<<
>>Warum nicht? Verstehst du etwa, was hier vor geht?<<
>>Nein.<<
>>Na also, das habe ich auch nicht anders erwartet.<<
Das waren die letzten Worte die er zu Philip sagte, bevor er wieder in die Welt außerhalb des Schrankes tauchte. Insgeheim hatte er doch gehofft, der Kleine könnte ihm sagen was vor sich geht. Warum auch nicht? Im Grunde kann es doch Niemand erklären.
Als am Nachmittag Toms Mutter gut gelaunt die Wohnung betrat, staunte Tom nicht schlecht, weil Mutter ansonsten zwar redselig, aber niemals wirklich ausgelassen war. Sie scherzte herum, spielte mit den Kleinen und war noch nicht einmal sauer, als sie Phillip im Wandschrank entdeckte. Alles war eigenartig gut.
>>Wo geht’s denn hin?<< fragte sie, als Tom die Wohnungstür öffnete.
>>Ich fahre zum See.<<
>>Aha, du hast eine Verabredung, wie?<<
>>Ich weiß auch nicht genau. Wird sich noch zeigen.<<
>>OK Sohn. Ich wünsche dir viel Spaß!<<
>>Danke. ?<<
Es freute ihn, seine Mutter so zu sehen. Auch wenn er den genauen Grund dafür nicht verstand. Aber die Erfahrung hat in dieser Familie immer wieder bewiesen, dass man auch nicht alles verstehen muss, was so vorgeht. Wichtig ist, dass es allen gut geht.
An diesem Tag war das Wetter nicht so schön. Es war nicht kalt, aber der Himmel war den ganzen Tag von Wolken verdeckt. Darum war am See wohl nicht viel los. Er konnte sie schon von weitem erkennen, als er sein klappriges Fahrrad an der Uferböschung an einen Baum kettete. Sie stand barfuss im Sand und warf kleine Steine ins Wasser.
Tom war von ihrem Anblick immer wieder begeistert. Auch wenn sie irgendwie geheimnisumwittert war, strahlte sie immer etwas Friedliches und unbeschwertes aus, sodass Tom in ihrer Gegenwart immer das Gefühl hatte, als gebe es in diesem Moment nur noch zwei Menschen auf der Erde.
>>Gefällt dir das Bild?<< fragte sie ihn, ohne mit dem Steinewerfen aufzuhören.
>>Woher weist du…?<<
>>Woher ich es weiß? Woher ich weis, dass du den Brief bekommen hast, oder woher ich wusste, dass du hier her kommen würdest?<<
>>Beides.<<
>>Wusste ich doch gar nicht.<<
>>Ach nein?<<
>>Ne.<<
>>Und warum bist du hier?<<
>>Ich bin ständig hier. Dass hat nichts zu bedeuten. Und wenn du auch herkommst, wirst du wohl den Brief bekommen haben, oder?<<
>>Ja, ich hab ihn bekommen.<<
>>Ja dann sag doch schon!<<
>>Was denn?<<
>>Wie dir das Bild gefällt?!<<
>>Es gefällt mir gut.<<
>>Gut?<<
>>Schön!<<
>>Ah, dass klingt doch schon besser!<<
Tom setzte sich neben Marja in den Sand, während sie weiter kleine Kiesel in den See warf.
>>Was meinst du, wie tief der See ist?<< fragte sie ihn, als sie mit aller Kraft einen Stein so weit auf den See hinaus warf, dass das Plätschern auf der Wasseroberfläche etwas verzögert das Ufer erreichte.
Tom sah auf die Wasseroberfläche:
>>Ich habe keine Ahnung.<<
>>Komm, schätz mal!<<
>>Ich weiß es doch nicht! Vielleicht so zwanzig oder dreißig Meter?<<
>>Ganz falsch!<<
>>Ich hab doch gesagt, dass ich es nicht weiß!<<
Marja sah ihn stirnrunzelnd an:
>>Ist ja schon gut, ich verrate es dir! Der See ist genau einen Steinfall tief.<<
>>Einen Steinfall?<<
>>Genau!<<
>>Was bedeutet denn, bitte schön, ein Steinfall?<<
>>Na das ist die Zeit, die der Stein braucht, um von der Oberfläche zum Grund zu gelangen!<<
>>Ja und wie lange ist das?<<
>>Von Fall zu Fall verschieden!<<
Tom lachte.
Dunkle Wolken zogen auf und es wurde kühl. Der Wind rauschte über die Wipfel der Bäume und es hatte den Anschein, als wollten sie einen neugierigen Blick auf die kleinen Menschen werfen, als sie ihre Kronen dem See zu neigten.
Tom stand auf und späte in die Ferne.
>>Gleich regnets.<< sagte er.
>> Es regnet schon. Der Regen ist nur noch nicht hier.<<
>>Wollen wir gehen?<<
>>Warum? Wir werden doch sowieso nass!<<
>>Dann bleiben wir halt hier?<<
>>Dann bleiben wir halt hier.<<
Sie legten sich nebeneinander in den Sand und sahen die herannahenden Regenwolken, deren grau von einem Blitz erhellt wurde. Wie ein durchsichtiger Vorhang flog der Regen über den See und prasselte auf seine Oberfläche. Tom und Marja hörten, wie der Regen den Sandstrand erreichte. Es waren große, warme Regentropfen, die ihre Kleidung durchnässten. Es fühlte sich an, als würde man langsam eins mit dem Erdboden. Als würden alle Fasern des Körpers allmählich in die Erde gespült.
Der Regen war nur von kurzer Dauer und es wurde wieder heller. Der Wind lies nach und Marja griff nach Toms Hand. Tom war überrascht, versuchte aber möglichst gelassen zu wirken.
>>Philip ist mein Bruder.<< sagte sie.
>>Dein Bruder sitzt in unserem Schrank?!<<
>>Ja.<<
>>Schon komisch.<<
>>Was ist komisch?<<
>>Es kam zwar etwas überraschend, aber irgendwie macht jetzt alles Sinn.<<
>>Was meinst du?<<
>>Na diese ganzen Zufälle und so. Das mit dem roten Blatt Papier und Schicksal und so weiter.<<
>>Kein Schicksal, vielleicht so was wie Bestimmung!<<
>>Und wo ist da bitte die Entscheidung?<<
>>Ich wollte wissen, wer die Frau ist, mit der sich mein Vater trifft.<<
>>Und wer ist sie?<<
Marja sah Tom vorwurfsvoll an:
>>Deine Mutter natürlich!<<
>>Meine Mutter trifft sich mit dem Ex Mann ihrer Nachbarin? Das klingt ganz und gar nicht nach meiner Mutter!<<
>>Das glaub ich dir sogar.<<
>>Und was jetzt? Ich meine, was wolltest du jetzt damit sagen?<<
>>Ich wollte es dir einfach nur sagen.<<
>>Was sagen?<<
>>Das ich mir echt mies dabei vorkomme, dass ich mich in den Sohn der Frau verknallt habe, mit der mein Vater meine Mutter betrügt!<<
>>Wieso betrügen? Ich dachte, sie hätten sich getrennt.<<
>>Willst du das ganze jetzt auch noch verteidigen?!<<
>>Was heißt hier verteidigen? Ich hab doch bis jetzt noch nicht einmal eine Meinung dazu!<<
>>Das hörte sich aber ganz anders an!<<
>>Ich hab doch nur gesagt, dass sie geschieden sind?<<
>>Sie sind nicht geschieden, sondern leben getrennt!<<
>>Ja, also! Was ist dann jetzt so schlimm an der Sache?<<
>>Das Schlimmste ist, dass du es nicht verstehst!<<
Marja stand auf, versuchte sich kurz den Sand von ihrer durchnässten Hose zu schütteln und lief hoch zur Straße.
>>Marja! Marja, bleib doch hier!<<
Marja lief weiter. Tom sprang auf und suchte denn Schlüssel für sein Fahrradschloss. Als er ihn fand, war Marja außer Sichtweite.
„Also, soll das jetzt die Bestimmung unserer Freundschaft sein? Wir treffen uns, wir trennen uns? Wer hat das entschieden, oder ist das alles nur Quatsch?!“
Auf dem Weg nachhause kam Tom an einem alten verwitterten Bushaltestellenhäuschen vorbei. Dort saß Marja auf einer alten Holzbank, starrte den Boden an und tat so, als hätte sie Tom nicht bemerkt.
>>Sind wir Freunde?<< fragte Tom flüsternd.
Marja sah weiter zu Boden und atmete laut aus. Dann griff sie in ihren Rucksack und zog einen roten Briefumschlag hervor. Sie warf noch einen nachdenklichen Blick darauf und streckte ihn Tom entgegen. Tom öffnete den Brief.
Hallo mein lieber Tom.
Während Du das hier liest, passiert an einem anderen Ort grade etwas Unausweichliches.
Ich habe die Polizei informiert. Sie ist wohl schon bei euch zuhause eingetroffen und hat meinen Bruder aus eurem Schrank befreit. Das wird einige Fragen aufwerfen und deine Mutter von meinem Vater ablenken. Es tut mir Leid...
Marja
Tom sah sie fassungslos an:
>>Ist das dein Ernst?<<
>>Ja.<<
>>Sag mal ist dir klar, was du da gemacht hast?<<
>>Weis ich nicht.<<
>>Du ziehst da unschuldige Menschen in etwas rein, dass...<<
>>Tom, du bist kein Held! Also rede auch nicht wie einer!<<
Tom sprach nicht weiter. Er setzte sich neben Marja auf die Bank.
Marja sah ihn traurig an:
>>Was willst du jetzt tun, Tom?<<
>>Ich fahre nach hause.<<
>>Und dann?<<
>>Werde ich versuchen, alles grade zu biegen!<<
>>Wirst du mich verraten?<<
>>Ich werde versuchen dich zu retten, verdammt noch mal!
>>Schade.<<
Marja stand auf und ging. Tom hielt sie nicht zurück.
Dass war nicht das Letzte Mal, dass sie einander begegneten, aber Tom ist ein Held.