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Marks Begegnung im Bus
Mark ärgerte sich. Er war nicht oft in Berlin, da er seit ein paar Jahren etwas außerhalb, nahe Straußberg wohnte. Der Vorteil war, dass man in der Natur war, ein Haus hatte und das ruhige Leben jener, die "etwas weiter draußen" wohnen, genießen konnte. Der Nachteil bestand darin, dass man nichts mehr mitbekam. Man wachte morgens auf, ging zum Kiosk und wollte sich eine Zeitschrift kaufen, die frisch erschienen war und der Kiosk hatte sie nicht. Er hatte sie auch zwei Wochen später nicht, genauso wenig, wie jede andere Zeitung, die man stattdessen hätte kaufen können, oder eine ordentliche Tageszeitung. Hier gab es nur den "Straußberger Anzeiger" und der war nichts wert. Dieser Umstand und der, dass man auch sonst nichts bekam in diesem Nest, das nicht mal eins war, sonder verhältnismäßig nah an der Stadt lag, nötigte Mark von Zeit zu Zeit dorthin zu fahren.
Nun stand er also da, mit seinem ABC-Ticket in der Hand und hochrotem Kopf, dicht gedrängt mit den anderen Leuten im Bus zum Einkaufscenter. Das Problem hatte darin bestanden, dass die Stadt Berlin den Schwarzfahrern wohl eins auswischen wollte und entschieden hatte, dass - während das früher erst ab 20 Uhr notwendig gewesen war - man nun immer vorne beim Busfahrer einzusteigen hatte. Das hatte Mark auch getan, er hatte jedoch übersehen, dass man auch brav seine Fahrkarte vorzuzeigen oder gefälligst eine zu erwerben hatte. Der Busfahrer, der sowieso schon Zuckungen am rechten Auge hatte von den vorbeirasenden Fahrscheinen, von denen mindestens ein Drittel gefälscht war, was aber nicht seine Sorge sein sollte, sprang auf und bretterte mit seinen 120 Kilo wie eine Bowlingkugel durch den überfüllten Bus, packte Mark, der die hinterste Sitzreihe schon fast erreicht hatte, am Kragen und zerrte ihn durch die - verdutzt ob der schieren Kraft und Agilität dieses Mannes - starrenden Menge bis nach vorn zum Fahrerhäuschen.
"Du denkst wohl du kannst dir alles erlauben, Bürschchen!", hatte er den völlig verwirrten Mark angeschnauft.
"Äh, was?"
Eine greise Frau schob sich mit aufgeklapptem Portemonnaie durch die Eingangstür und lächelte den Busfahrer an. Sie zeigt ihm ihre Geldbörse und sagte vorwurfsvoll, ohne den Blick auf Mark zu richten:
"Es heißt: 'Wie bitte?', junger Mann!"
"Was?" Er war noch immer konfus.
Der aggressive Fahrer hatte unter starkem Schwingen seines gut gefederten Busfahrersitzes Platz genommen.
"Sie sind wohl nicht von hier!", spekulierte er.
Jemand rief von hinten: "Die Leben doch alle hinterm Mond, da draußen!"
Mark versuchte es zu erklären.
"Ich habe mal hier in der Nähe gewohnt..." Er zeigte mit dem Daumen die Straße runter. "Sind umgezogen, nach Straußberg."
"Die Landluft weicht das Hirn auf. Haben keinen Plan, die da draußen!", kam es erneut aus der Menge der Fahrgäste.
Der Busfahrer seufzte. "Hör mal, Junge", begann er, "du musst entweder einen Fahrschein kaufen oder den, den du hast beim Fahrer vorzeigen. Das haben die letztens eingeführt."
"Ach so." Mark kramte in seinem Rucksack, holte den Fahrschein hervor und zeigte ihn dem Fahrer.
"Na bitte. Wir bekehren sie alle.", brummte der daraufhin.
Mark bahnte sich seinen Weg durch die Menge, doch der Platz, den er vorher angestrebt hatte, war besetzt.
Er stellte sich neben ein Mädchen, das ungefähr in seinem Alter war und von dem er fand, dass es optisch einiges zu bieten hatte, was für Mark nicht gleichbedeutend mit großen Brüsten war. Wie sich herausstellte war sie auch noch ziemlich nett; sie sprach ihn an.
"Ganz schöne Show, die der da abgezogen hat."
"Tja." Mark starrte beharrlich an ihr vorbei, er war von Natur aus schüchtern.
"Wo wohnst du noch mal?" Sie schien das Gespräch fortführen zu wollen.
"Äh... bei Straußberg."
"Ah. Da ist eine Freundin von mir letztens auch hingezogen."
"Die Stadtbevölkerung zieht’s auf's Land.", kommentierte Mark.
Sie lächelte. "Ja, scheint so. Obwohl man da wohl noch nicht so richtig von 'Land' sprechen kann, oder?"
Mark wurde langsam warm. "Oh es ist schon recht provinziell."
"Für mich fängt die Provinz erst in der Uckermark an."
Mark wusste nichts zu erwidern, was zu einer unangenehmen Pause führte. Sein Blick glitt von ihr ab, er versuchte nicht mal, ihr in die Augen zu sehen. Das war typisch. Er konnte gar nicht anders. Es bereitete ihm Unbehagen, obwohl er sich wünschte, sie weiter ansehen zu dürfen.
Die Stationsansage beendete den peinlichen Moment. Mark hatte die Stimme nie leiden können, da sie seiner Meinung nach viele Haltestellennamen falsch betonte und 'P' wie 'B' aussprach.
"Hier muss ich raus...", sagte das Mädchen zu ihm, strich sich das Haar aus der Stirn und richtete ihre Jacke. Dann sah sie ihn an, als fordere sie eine Entscheidung. 'Entweder du kommst mit, oder wir verabschieden uns und du siehst mich nie wieder!', schien dieser Blick zu sagen. Und sie wirkte zuversichtlich.
Mark warf einen kurzen Blick über die Schulter, aber es war egal, die Haltestelle stimmte so oder so.
"Ich auch.", sagte er.
"Gehst du einkaufen?", fragte sie, als sie sich der Bustür zuwendeten.
"Es ist eher so eine Art Bummel. Schauen ob's was Neues gibt.", erklärte er.
"Dann können wir ja zusammen gehen.", schlug sie vor und er stimmte ihr zu.
Als sie ausstiegen, hatten sie Mühe, sich gegen den inzwischen aufgefrischten Wind zu behaupten. Während sie in Richtung Einkaufscenter liefen, beobachtete Mark einen Mann, dem an der Haltestelle der Hut weggeflogen war, als er gerade einsteigen wollte. Nun sprang er um einen Baum herum, der dem Hut einen Unterschlupf in seiner Krone gegeben hatte. Marks Blick wurde vom wehenden Haar des Mädchens abgelenkt.
"Was ist denn?", fragte sie.
Mark sah ihr endlich die Augen, als sie an der Ampel stehen blieben.
"Ich hab noch gar nicht gefragt, wie du heißt."
"Amy. Ich heiße Amy." Sie musste lauter sprechen, weil eine Böe ihre Worte davontrug.
"Ein merkwürdiger Name.", fand Mark.
"Wieso merkwürdig? Ich mag ihn."
Es wurde grün und sie liefen los. "So meinte ich das nicht. Mir gefällt er auch, aber es gibt sicher nicht so viele Deutsche, die Amy heißen."
Sie sah ihn an. "Nein, wirklich!", sagte er. "Ich mag ihn, er ist wunderschön." Er mochte ihn tatsächlich.
"Ach ja?", fragte sie mit einem neckischen Unteron in der Stimme. Mark wurde warm, obwohl es stürmte. Er spürte, dass er rot wurde.
"Ja.", sagte er, grinste sie an. Sie schoben sich durch die Schiebetür des Centers.
Und dann gingen sie bummeln.
...
Sie hatten sich eine ganze Weile im Center aufgehalten. Mark war es zuerst peinlich gewesen, als sie ihn zu den Videospielen begleitet hatte. Doch dann meinte sie, sie würde auch ab und zu spielen, ihr Bruder hätte ein Playstation. Mark eröffnete sich damit ein neues Gesprächsthema, was ihn glücklich stimmte, gleichzeitig machte sich jedoch eine geistige Notiz, dass er ihren Bruder in die Feindfraktion einzuordnen hatte, da dieser ja eine Sony-Konsole besaß.
Danach hatten sie die Buchhandlung besucht. Mark, dessen Lieblingsautoren King und Pratchett hießen, konnte sein Glück kaum fassen, als er von Amy erfuhr, dass sie die selben Autoren mochte. Sie empfahl ihm ein Buch, das er nach kurzem Anlesen sogleich kaufte.
Auf dem Rückweg – beide mussten ja den gleichen Bus nehmen – versäumte Mark es nicht, sein ABC-Ticket stolz dem Fahrer unter die Nase zu halten, doch der nahm gar keine Notiz davon. Etwas enttäuscht fuhren sie bis zum Bahnhof, wo Amy kurz mit ausstieg, um Mark zu verabschieden.
Die Bahn würde gleich kommen, Amys nächster Bus ebenfalls.
„Na dann.“, sagte Mark. Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen können. ‚Also dann’ schien ihm so eine angenehm unterschwellige Form des Verabschiedens zu sein. Er merkte, dass ihr seine Ratlosigkeit auffiel und öffnete schon den Mund um irgendetwas folgen zu lassen. Amy kam ihm zuvor und ersparte ihm somit einen weiteren peinlichen Moment.
„Wir könnten uns ja wieder mal treffen.“, sagte sie.
Mark atmete erleichtert auf. „Klar, gern.“
„Warte, ich gebe’ dir meine Telefonnummer...“ Sie tastete nach ihrem Handy. „Hast du was zum Schreiben dabei?“
Mark hatte aus reiner Zweckmäßigkeit – er war nämlich etwas vergesslich – immer etwas zum Schreiben dabei. „Klar.“
Sie gab ihm die Nummer und als er gerade die letzte Zahl geschrieben hatte, fuhren Bus und Bahn gleichzeitig ein.
„Also gut.“, sagte das Mädchen, sah ihm kurz in die Augen. „Tschüssi!“
„Tschau...“, gab er zurück, da rannte sie schon los.
„Und ruf mich an!“, rief sie ihm mit gespieltem Ernst über die Schulter zu.
Mark hatte die Hand gehoben. „Klar.“, meinte er mehr zu sich selbst. Dann stieg er in die Bahn.
Zuhause saß er auf dem Bett. Die Schreibtischlampe brannte und einige Schreibgeräte, die auf dem Tisch verteilt lagen, warfen seltsame Schatten. Neben ihm lag das Buch, dass er mit ihr gekauft hatte. Er drehte den kleinen Zettel, auf dem ihre Telefonnummer stand, hin und her und überlegte.
Er würde sie anrufen, auf jeden Fall. Doch er war zu introvertiert, um bedenkenlos zum Telefon zu gehen, den Hörer abzunehmen und sie anzurufen. Er würde sie anrufen. Morgen vielleicht.
Mark seufzte, legte den Zettel auf den Tisch und wandte sich dem Buch zu. „Schauen wir mal...“, murmelte er, schlug das Buch auf und begann, zu lesen.