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Marlin und die eisernen Schmetterlinge

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15.03.2008
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Marlin und die eisernen Schmetterlinge

Marlin und die eisernen Schmetterlinge

Marlin

Marlin zog eine Kippe aus seiner platt gesessenen Schachtel und steckte sie zwischen die Lippen, entzündete die Spitze mit einem Streichholz und inhalierte tief.
Er stand an eine Säule gelehnt am Bahnhofsplatz, zwischen Steindamm und dem Eingang zur U1.
Der vorbeihastende Menschenstrom umflutete ihn, als wäre er ein Stein im Flussbett. Niemand beachtete ihn.
In der Luft hingen Streicherklänge: eine Ouvertüre, die den Alltagslärm durchwirkte.
Interessiert versuchte er an den Störgeräuschen vorbei zu lauschen und das Stück zu erraten, das gerade gespielt wurde- es könnte Smetanas Moldau sein.
Die klassische Musik vermischte sich mit Gesprächsfetzen und den Geräuschen der Zugmaschinen.
Während er rauchte, befingerte Marlin in seiner Tasche die Scheine, das Ergebnis der heutigen Geschäfte.
300 an einem Nachmittag, überlegte er, 200 bleiben für mich.
Das konnte sich sehen lassen.
Marlins Füße wurden von zerfetzten Adidas notdürftig verborgen, die aussahen, als hätte Adi Dassler noch persönlich Hand angelegt.
Über der weiten beigen Hose und einem labberigen Kapuzenpullover trug er einen abgetragenen Militärparka. Seine Montur war von Rissen und Löchern durchzogen, speziell die Hose schien nur noch nicht gemerkt zu haben, dass sie längst auseinanderfallen müsste.
Er war angemessen gekleidet für seine Klientel, niemand scherte sich darum, wie er aussah, das Einzige was zählte transportierte er in seiner Mundhöhle.
Kokain, den Stoff aus dem die Albträume der Süchtigen geschneidert waren, in kleinen Zellophantüten verpackt.
Das Zeug war im Mund bestens aufgehoben, denn bei einer polizeilichen Untersuchung konnte er es einfach runterschlucken.
Auf das spätere Wühlen in seiner Scheiße, wenn er die Kügelchen wieder herausfischte, konnte er verzichten.
Aber immerhin konnte er aus Scheiße Gold machen, wer vermag das schon von sich zu sagen?
Die Dunkelheit hatte vom Leben Besitz ergriffen, die Zeiger der Kirchturmuhr zeigten die 20. Stunde.
Eine gute Stunde, eine Stunde, in der er die Unternehmungen in Angriff nehmen konnte, die seinen Neigungen entsprachen.
Die Nacht war sein Revier, seine bevorzugte Fick , Sauf und Jagdzeit.
Marlin zog noch einmal an der Zigarette und warf sie dann auf den Boden, wo er sie mit seinen Adidas austrat.
Er wollte gerade losgehen, als er auf eine ungewöhnliche Unruhe aufmerksam wurde, die von den Leuten ausging, die gerade die Straße überquerten.
Irgendein Junk - Marlin kannte ihn vom Sehen – bahnte sich einen verzweifelten Weg zwischen den Menschen hindurch, verfolgt von zwei anderen.
Rücksichtslos schubste er die anderen Fußgänger zur Seite, von der gegenüberliegenden Straßenseite rief ihm eine schockierte Frau hinterher, deren Kinderwagen er umgestoßen hatte. Er rannte, als wären ihm Dämonen auf den Fersen. Doch es sah nicht aus, als würde er entkommen können. Die Verfolger johlten freudig und holten zusehends auf.
Marlin verfolgte die Jagd. In seinem Magen breitete sich ein wohliges Gefühl aus.
Offensichtlich planlos und panisch rannte der Verfolgte die Stufen zur U1 hinunter.
Er schaffte nur ein paar Stufen, bevor er über seine eigenen Füße stolperte und die Treppe hinab fiel.
Marlin folgte dem Rumpeln um das Geländer herum, um besser sehen zu können. Die Streicher begannen eine bewegtere Spielart und lenkten ihn kurz ab - vielleicht war es auch Rachmaninoff.
Mittlerweile waren die Verfolger - zwei Kleindealer der Russen - bei dem Gestürzten angekommen.
Es hatte sich eine Lücke in dem Menschenstrom gebildet, in deren Mitte der Gestürzte auf einer steinernen Kompassrose lag, die in den Fußboden eingelassen war.
Ohne ihren Lauf zu bremsen drängelten sich die beiden durch den Kordon aus Gaffern und potenziellen Helfern.
Dann begannen sie schnell und präzise den am Boden Liegenden zu treten.
Der Menschenstrom geriet ins Stocken, ein paar Leute blieben wie erstarrt stehen, andere drehten sich auf der Stelle um und gingen oder liefen davon. Aus dem Ring löste sich jetzt auch die Spreu vom Weizen, die Gaffer liefen sofort davon, ein hektischer Kahlkopf rief nach der Polizei und holte ein Handy raus.
Er wollte eben anfangen zu sprechen, als eine Faust wie nebenher gegen Kopf und Handy preschte, sein Schädel fiel ruckartig in den Nacken, das Handy zu Boden.
Trotz des Lärms konnte Marlin ein dumpfes Knirschen hören - vielleicht kam es nur von dem zerschlagenen Handy - als der verhinderte Helfer zusammenbrach.
Marlin verzog sein Gesicht, das hatte wehgetan.
Nach diesem Versuch Hilfe zu holen schien es den beiden zu heiß zu werden.
Sie verständigten sich kurz auf Russisch und liefen die Unterführung entlang zum Steindamm.
Marlin, der mittlerweile die Stufen hinuntergegangen war, ging auf den Zerschlagenen zu und drehte ihn mit dem Fuß um.
Anscheinend bewusstlos rollte der wie ein nasser Sack auf die Seite. Der Typ kam ihm sehr bekannt vor. Klebrige blutige Speichelfäden verbanden sein Gesicht mit dem dreckigen Boden. Ansonsten sah er noch gut aus, sie werden ihm wohl nur ein paar Rippen gebrochen haben.
Jetzt fiel ihm ein, woher er ihn kannte, der Typ schuldete ihm zehn Tacken. Marlin schüttelte bedauernd den Kopf.
Ach, dass die Leute ihre Schulden nie bezahlten! Er versuchte immer gut mit den Menschen auszukommen, aber manchmal schienen sie ihm keine Wahl zu lassen ... unvermittelt trat er ihm ins Gesicht. Dann knüllte er eins seiner Gedichte zusammen, auf A4 geschrieben, und stopfte es ihm in den Mund.
Das sollte ihm eine Lehre sein.
In der Ferne waren Sirenen zu hören. Es wurde Zeit den Tatort zu verlassen, nur wohin? Nach diesem belebenden Ereignis einfach zur Tagesordnung überzugehen erschien ihm unmöglich. Aus so einer Nacht ließ sich erfahrungsgemäß mehr herausholen. Er schaute noch einmal zurück auf den Informationsträger, der seine Lyrik gefressen hatte, zu dem wohligen Bauchgefühl gesellten sich jetzt noch kribbelnde Eier.
Einem Impuls folgend, ging er den Tätern hinterher.
Er gelangte rechtzeitig wieder an die Oberfläche, um die beiden in einem Hotel verschwinden zu sehen. Marlin lief eilig hinterher.
Der Weg war nicht lang, bald war er in der Lobby des Hotels.
Hinter einem alten speckigen Kassentresen saß ein unglaublich dicker Kerl, dem fettige halblange Haare vor dem Doppelkinn hingen. Er guckte Fernsehen. Ein alter Ventilator, der nicht mehr tat als die verbrauchte Luft umzurühren, flappte monoton.
Der Portier schaute kurz zu Marlin, der nickte ihm zu.
Sie kannten sich, Marlin war schon oft hier gewesen, je nachdem, welche Neigung mit entsprechender Gelegenheit zusammenfiel. Zumeist fickte er die professionellen Ladys auf den räudigen Laken, aber die traurigen Zimmer sind ihm auch immer als passende Kulisse erschienen, um Drogentouristen auszunehmen.
Er kannte den Kerl und wusste, dass der abwesende Blick des Dicken täuschte, der sah viel und wenn es darauf ankam, konnte er unglaublich flink sein.
Marlin ging zu ihm und fragte leise nach zwei Flüchtigen und ob sie vielleicht hier vorbei gekommen wären.
Der Dicke nickte und sagte, das sei schon möglich und nannte die Summe, welche ihm üblicherweise als Schweigegeld gezahlt würde.
Marlin legte noch ein paar Scheine dazu, bedankte sich höflich und ging die Treppen hinauf zu dem Zimmer, von dem der Portier meinte sie hätten es gemietet, wären sie denn da gewesen.
Als er davor stand, lauschte er kurz, dann trat er unvermittelt die Tür auf.
Es war nicht schwer die nötige Kraft aufzubringen, die Hausverwaltung baute keine besonders guten Schlösser ein, damit nicht mehr Zerstörung angerichtet wurde als unbedingt nötig war.
Als die Tür gegen die Wand knallte, starrte ihm ein erschrockener Russe entgegen. Der andere floh über die Dächer, das Fenster stand offen.
Marlin ging lachend auf ihn zu. Von der Musik und dem Schauspiel im U-Bahn Schacht beflügelt machte er ein paar grazile Tanzschritte, die ihn in überraschender Wendigkeit durch den Raum trugen.
Sein Gegenüber erholte sich schnell und zog ein kleines Butterfly-Messer, das er mit einem metallischen Geräusch hervorschnappen ließ. Sofort ging er auf Marlin los, der den Stich mit einer leichten Drehung ins Leere gehen ließ und seinem Widersacher einen spielerischen Tritt gab.
So ging es eine kurze Weile hin und her, Marlin fand zunehmende Freude an dem Kampf.
Er spürte die Euphorie von Stärke, die in Bewegung war.
Die Bewegungen des anderen schienen ihm langsam und unbeholfen.
Marlin spielte noch ein bisschen mit ihm, bevor er tanzend engere Kreise um den Messerstecher zog und zu einer Mischung aus Wirbelwind und Derwisch wurde.
Nachdem er dem Russen das Messer aus der Hand gewirbelt hatte, schlug er in immer kürzeren Abständen auf ihn ein. Er überließ sich der Raserei und brach seinem Gegner den Kieferknochen, der nun in einem unnatürlichen Winkel hervorstach. Nun versuchte er ihn wieder gerade zu schlagen und hörte durch den Nebel seiner Wut einige Male fernes Knacken. Marlin kam erst wieder zu Bewusstsein, als ihm ein paar Blutstropfen ins Gesicht spritzten.
Keuchend brach er neben seinem Opfer zusammen.
Wenig später kam der Rezeptzionist ins Zimmer und reichte ihm ein Stofftaschentuch.
"Wisch dir das Blut aus dem Gesicht, ich mach mal sauber"
Marlin faltete das Taschentuch auseinander – Weichspüler-Blütenduft stieg ihm in die Nase - und säuberte sein Gesicht.
"Ich wusste gar nicht das ihr den russischen Clans hier Unterschlupf gewährt."
"Unterschlupf? Hey Marlin, wir doch nicht." Er machte eine obszöne Geste und grinste. "Ein bisschen Ficki-Ficki, mehr war nicht abgemacht. Wir halten alte Seilschaften in Ehren."

Marlin nickte zum Abschied und ging in die Nacht hinaus. Er hatte noch einen kleinen Job zu erledigen, wer wollte noch mal Stoff haben?
Ah ja, die alte Hilde. Hilde Kaputsky, wie ihr szeneninterner Name lautete. Aus dem Meer von Kaputten ragte sie durch die Originalität ihres Schadens heraus, manche nannten den Persönlichkeit. Marlin kicherte leise.
Das alte Ungeheuer! Wenn er Glück hatte, würde sie ihm ein paar unterhaltsame Albträume bescheren. Nach Kämpfen war sein Unterbewusstsein besonders aufnahmefähig, und ihr Anblick war wunderbar schrecklich.
Er schob die übrigen Kokskügelchen in seinem Mund mit der Zunge herum, es waren noch drei, und machte sich auf den Weg zu ihr.
Mit schiefem Lächeln schlenderte er die Einkaufsstraße entlang, Richtung Hilde.
Vorbei an den Filialen der Großketten, die in übergroßen Lettern ihre Marken in die Köpfe der Menschen implantierten.
Jahrelang hatte er sich das Gerede über den Kapitalismus angehört, und versucht ein bisschen Begeisterung gegen das Geld und die großen Firmen zu aufzubringen.
Auf der steten Suche nach irgendetwas, wogegen es sich zu leben lohnt.
Im Gegensatz zu seinen Freunden, denen es gelang wütend zu werden, konnte Marlin nur Verachtung aufbringen.
Doch selbst diese war lau und kühlte bald ganz ab.
Übrig geblieben war eine gewisse Verbundenheit mit schmutzigen, kaputten Dingen und Menschen.

Hilde wohnte ein paar Straßen weiter, im dritten Stock eines der alten Bürgerhäuser mit direktem Alsterblick.
Er hatte sie irgendwo kennengelernt, und ihre Wohnung war jetzt irgendwie ihr Treffpunkt geworden.
Ihr Mann hatte ihr die Wohnung vererbt, der alte Seeger war Industrieller und Großwildjäger gewesen.
Sie selbst war ihr Leben lang nur die Frau an seiner Seite gewesen, als Beiwagen der alten Maschine Seeger, von der sie rücksichtslos durch die Welt geschleift wurde.
Auf den abenteuerlichen Wegen hatte sie dauerhaften Schaden genommen.
Sie hatte sich die einzige Gesellschaft gesucht, die für sie in erreichbarer Nähe war - andere kaputte Gestalten. Denen stellte sie ihre Wohnung als Treffpunkt zur Verfügung und freute sich daran, nicht alleine zu sein. Wenn sie in Stimmung war, konnte sie die abenteuerlichsten Geschichten erzählen, die mit erstaunlich viel Fantasie zusammengelogen waren. Dass sie gelogen waren, davon ließ sich keiner täuschen- außer ihr Selbst vielleicht.
In Stimmung war sie, wenn sie getrunken hatte. Sie trank immer, wenn kein Kokain da war.
Gelegentlich brachten ihre Besucher ihr ein paar Kurze mit und benutzten sie wie eine Jukebox: Die Gäste gaben ihr Schnaps und es kam eine Geschichte heraus.
Hilde war ein eigenartiges Wesen, Marlin hatte mal gesehen, wie sie einem Bettler am Abend einen Zehner zugesteckt hatte.
Über sich selbst erstaunt hatte er festgestellt, dass ihn das gerührt hat. Um dem Gefühl entgegen zu treten, hatte er den Alten schnell verprügelt, danach ging es wieder.
Aber eine gewisse Verunsicherung konnte er seit dem damaligen Abend nicht abschütteln, schließlich konnte man nicht wissen, wann solche Gefühle wiederkamen.
Hilde hatte ellenlange Buchregale, voll mit Lyrik, Philosophie und alten Bildbänden.
Manchmal, bei Kerzenschein und stürmischer Nacht, schien es, als würden die Buchrücken zu ihm sprechen. Als würden sie ihn einladen, zu ihnen zu kommen.
Ein Stück Weg gemeinsam zu gehen.
Besonders das trockene Flüstern machte es ihm schwer, zu widerstehen. Die fast stimmlose, überlegene Gefühllosigkeit von zerrissenen Geistern, die fälschlicherweise als Menschen geboren worden waren und ihr Leben damit verbracht hatten geniale Labyrinthe anzulegen, in denen sich die Nachfolgenden verlaufen sollten.
Das machte ihm Angst, Angst machte ihn neugierig.
Es war so weit, er war da. Marlin klingelte zweimal kurz bei Seegers und drückte gegen die Eingangstür, als der Summer ertönte.
Während er die Treppe hinaufstieg, wurden die Bässe, die das Treppenhaus erfüllten, immer lauter.
Die Wohnungstür stand sperrangelweit offen.
Marlin ging in den langen Flur und schloss die Tür hinter sich. Der Chic, den der Flur einst besessen haben musste, war von der Unordnung begraben worden.
Die aufwendig verzierten Möbel verschwanden unter Unmengen von Kleidern. Abendkleider in prächtigen Farben lagen zwischen alten ausgebeulten Männerhosen und meterlangen Stoffbahnen. Eine elektrische Weihnachtsgirlande verbreitete rotes Dämmerlicht.
An der Wand hingen die Trophäen ihres Alten, ausgestopft und auf Schilder gesteckt.
Der Tiger trug einen breitkrempigen Hut mit Pfauenfeder, direkt daneben hing das Wildschwein, über dessen Hauer sie auf der letzten Party seidene Handschuhe gezogen hatten.
Er überlegte kurz, ob er dem Steinbock den Lampenschirm über die Hörner stülpen sollte, da hörte er Hilde rufen: "Marlin Süüüßer, wo bleibst du denn?"
"Hey Hilde. Bin gleich bei dir, setze dem alten Steinbock nur eine Krone auf." Es quietschte aus Richtung Wohnzimmer, als würde jemand aus einem alten Sessel aufstehen.
Hilde kam schnaufend in den Flur gestampft und hielt sich ächzend an dem Türrahmen fest. "Och Marlin mein Hübscher. Müsst ihr immer die armen Tiere verunstalten? Das ist respektlos!"
Marlin wappnete sich, bevor er sie anblickte, ihre Hässlichkeit ließ ihn bei jedem Besuch erschauern, als würde er sie das erste Mal sehen.
"Du hast doch letztens dem Schwein die Handschuhe über die Hauer gezogen" sagte er um sie abzulenken, während er ihre Gestalt musterte.
Das beherrschende Element ihres Äußeren war die Fettleibigkeit. Ihr Bauch wellte sich dreimal, die letzte Welle reichte weit auf den Oberschenkel hinab.
Die Arme waren dicker als Marlins Oberschenkel und endeten in beringten Fingern, die jeder für sich aussahen wie ein erigierter Penis, der kurz vorm Platzen war.
Heute trug sie einen weißen Kittel und ein Basecap.
"Oh tatsächlich? Dann nehme ich alles zurück" Kichernd versetzte sie ihren Fleischberg in hypnotische Wellenbewegungen.
Mit einem Ruck löste er sich aus dem Bann der Hässlichkeit, stülpte den Lampenschirm über den Steinbock und ging an Hilde vorbei ins Wohnzimmer.
In ihr Refugium, wie sie es nannte.
Dort setzte er sich in einen muffigen alten Lehnsessel und spuckte die Kokakugeln aus. "Drei Kugeln hab' ich noch, du wirst dir dein Glück heute gut einteilen müssen"
Sie stapfte zurück, legte ihm kommentarlos einen Fünfziger hin und nahm sich die Kugeln. Dann ging sie zum Schrank, um andere Musik aufzulegen und ihre Pfeife zu holen. Unterwegs hielt sie an und drehte sich noch mal um. "Was hast du eigentlich schon wieder gemacht? Da ist ja überall Blut in deinem Gesicht!"
Marlin fluchte leise. "Habe einen vom Tscherkesoff-Clan vermöbelt und ... " Hilde unterbrach ihn, spielerisch mit dem Finger drohend.
"Ich will nichts weiter hören, hier, wisch es dir weg." Sie reichte ihm ein zusammengefaltetes Stofftaschentuch.
Marlin roch wieder Blüten, sie schien denselben Weichspüler zu benutzen wie der Typ aus dem Hotel.
Hilde hingegen roch Kokain und gierig zog sie an der kleinen Metallpfeife. Die Verbindung von Kokain und Ammoniaklösung knisterte, als sie mit dem Feuer reagierte.
Nachdem die Rauchgeräusche verklungen waren, begannen die ersten Breakbeats den Raum mit wummernden Klängen zu füllen.
Nun wurde es Zeit für Hilde. Zeit, die originelle Seite zu leben. Kokain ist Dramazeit.
"Guten Morgen Deutschland" schrie Hilde ekstatisch, hüpfte zu ihrem Panoramafenster und drehte an der Rollostange, bis die Strahlen der untergehenden Sonne den Raum zu fluten begannen.
Marlin lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er hatte diesem Theater schon oft genug zugeschaut, gleich würde sie sich auf den Sessel neben ihm setzen und in zunehmender Hektik den kleiner werdenden Kokainvorrat verbrauchen. Immer das gleiche Theater, nur die Kulisse veränderte sich.

Er nahm sich einen kleinen Band mit Versen von Rilke, zündete sich eine Zigarette an und überließ Hilde ihrer Sucht.
Zeile für Zeile schlich sich die Müdigkeit an ihn heran, jetzt, da die Anspannung des Tages von ihm abgefallen war und er sitzen konnte, fand sie in ihm ein wehrloses Opfer. Marlin wollte nur für einen Moment die Augen zumachen und schlief doch bald ein, die Zigarette fiel ihm aus den Händen und glühte auf dem Boden weiter. Hilde nahm sie, drückte sie im Aschenbecher aus, und legte eine Decke über Marlin.
Einen kurzen Moment lang schaute sie ihn mit einer Zärtlichkeit an, die sie wachen Menschen nicht zu zeigen gewagt hätte.
Doch dieses Gefühl konnte nicht lange bestehen, die Unruhe setzte ihr zu.
Hilde warf sich ein paar Beruhigungsmittel und rauchte ihre letzte Kugel, ein paar Sekunden wurde alles groß und weit in ihr, bevor die Leere umso stärker zurückkehrte.
Sie ging noch einmal zum Fenster und schaute auf die abendliche Alster, bis die Lichter auf ihr zu verschwimmen begannen.
Jetzt begannen die Pillen zu wirken. In leichter Schräglage schwankte sie zu ihrem Sessel zurück. Sie blickte durch das große Panoramafenster in den Sternenhimmel, bis ihr Kopf auf die Brust fiel, und sie leise zu schnarchen begann.

Marlin schreckte jäh aus dem Sessel hoch. Irgendetwas verfolgte ihn, ein gesichts- und namenloses Geschöpf schwamm unter ihm. Marlin fühlte dessen Anwesenheit.
Es zog seine Kreise unter ihm, wissend, dass er wusste, und weidete sich an seiner Angst fett.
Immer wieder der gleiche Traum.
Nach einigen tiefen Atemzügen fand Marlin in die Realität des Bewusstseins zurück.
Diese verfluchte Angst, er versuchte ihr auf den Grund zu kommen, aber je weiter er hinabstieg desto tiefer schienen seine Abgründe zu werden.
Am Tag war ihm das alles scheißegal, aber jetzt, und in jeder anderen Nacht, wurde er vor Angst fast wahnsinnig.
Der Rilke Band lag aufgeschlagen auf dem Boden. Er hob ihn auf und sah, was er zuletzt gelesen hatte.
›Ohne Rücksicht was die Nächsten dächten
die er müde nicht mehr fragen hieß,
ging er wieder fort, verlor, verließ,
denn er hing an solchen Reisenächten...‹
Mit einer schnellen Bewegung steckte er den Band in eine der geräumigen Parkataschen und stolperte hektisch zur Tür.
Die Wohnung war voller Schatten, Angst hatte tiefen Eindruck in seiner Seele hinterlassen.
Jetzt war jeder Schatten ein mögliches Versteck, die Dunkelheit selbst könnte zu dem Wesen werden, das er in sich trug.
Marlin rannte hinaus, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und schauderte, als das stille Treppenhaus vom Echo erschüttert wurde.
Er musste hier weg. Das einzige Gegenmittel suchen.
Die Nacht begrüßte ihn mit windstiller, eisiger Kälte.
Marlin setzte sich die Kapuze auf, zog unwillkürlich die Schultern zusammen und vergrub seine Hände in den Taschen.
Seine Schritte führten automatisch zu Irina.
Erst als er in ihrem Zimmer stand, seine Sachen ausgezogen hatte und sich neben sie legen wollte, beruhigte er sich wieder. Marlin schaute aus dem Fenster ihres kleinen Zimmers auf den silbernen Mond. Unter dem Fenster, auf einem schmalen Tischchen, lag ein Klumpen Hasch, vom Mondlicht in Silber getaucht. Ein paar Fotografien von verschneiten Wäldern, der Taiga, wie Irina sagte, standen um die Droge aufgereiht wie eine Wachmannschaft.
Marlin legte sich zu Irina, atmete den Duft ihres Körpers tief ein und klammerte sich an ihre Wärme, bis die Stärke in ihn zurückkehrte.
Die Kreatur zog sich in ihre Abgründe zurück, von Irinas Lebensenergie abgestoßen.

Irina

Es wurde zu warm unter der Decke, Irina rollte sich von Marlin weg und guckte auf die Uhr. 04:30.
Verträumt legte sie eine Hand auf seinen Rücken und schaute auf den Mond. Der Erdtrabant war der Verbindungspunkt zu dem verlorenen Paradies ihrer Kindheit, zu Erinnerungen voller Sonne und Lachen. Einer Zeit, in der es noch kein Warum gab. Als sie das Schöne gelebt und das Schwere ertragen haben. Vielleicht war es das, was Heimat bedeutete.
Müde lächelte sie über ihre Gedanken, nahm das Hasch vom Tisch und setzte sich hin. Ihr Seelentröster, ihr Traumverstärker.
Sie hielt den kleinen Klumpen zwischen Auge und Mond.
Dann warf sie es durch das geöffnete Fenster auf den Hof. Sie kicherte und kuschelte sich wieder an.
Vielleicht würde sie es später suchen, doch im Moment bedeutete es Freiheit, loszulassen.
Irina presste ihren Körper so fest an Marlins, dass der im Schlaf aufstöhnte.
Wenig später fielen ihre Lider zu und sie träumte, bis der Wecker klingelte.
Es wurde Zeit für den Autopiloten.
Mechanisch setzte sie ihre Füße auf den eiskalten Boden, ihr erster Weg führte zum geöffneten Fenster, sie machte es zu.
Danach duschte sie, zog sich an und lauschte mit einem Ohr den Nachrichten, um vielleicht etwas Neues über diesen Bahnstreik zu hören.
Nichts Neues, die Züge fuhren.
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Ärger nahm sie ihre Tasche und küsste Marlin auf den Mund. Er erwiderte ihren Kuss und zog sie an sich.
"Verdammt Marlin, ich muss los." Sie entzog sich seinen Armen und schaute ihn kurz an.
"Du solltest auch aufstehen, deine Schicht beginnt bald."
Er schlug die Augen auf und grinste. "Ich werde dich vermissen. Du tust mir gut."
Irina lachte. Sie küsste ihn noch einmal, es war wie ein flüchtiger Hauch, und ging zur Tür hinaus.
Der kühle Morgenwind schlug ihr böig ins Gesicht, Regen lag fast waagerecht in der Luft. Sie ging 1223 Schritte bis zum Bahnsteig der U3, zehn mehr als gestern. Gesellschaft leisteten ihr dort die vertrauten Silhouetten. Frauen in Kostümen, die Haare meist zu einem Pferdeschwanz gebunden, und Männer mit gegeltem Haar, in Anzug und Krawatte. Menschen, die Irinas Augen keinen Anhaltspunkt gaben, Gesichter, die sie einen Moment nach Betrachtung vergaß.
Die Bahn kam, sie stieg ein.
Diesen Morgen bekam sie einen Sitzplatz. Sie schaute sich die Menschen in der Scheibe an, die durch die dahinterliegende Dunkelheit wie ein Spiegel wirkte.
Zuletzt sah sie auf sich selbst und fragte sich, was Marlin in ihr sah. Sie wusste gar nichts über ihn. Nicht mal, was er den Tag über machte. Allerdings wusste sie auch wenig über sich, wenn sie es genau betrachtete. Zum Beispiel was sie von ihm wollte.
Die Monitore zeigten die neuesten Nachrichten und den Spruch des Tages: ›Ein Präsident ist wie ein Friedhofswärter. Du hast eine Menge Leute unter dir, aber keiner hört dir zu. - Bill Clinton

Sie hatte mal ein kleines Gerät in einem Überraschungsei gefunden, mit dem sie aus verschiedenen Grundwörtern, die zufällig neu kombiniert wurden, witzige Wörter konstruieren konnte. Anscheinend gab es für Aphorismen auch solche Geräte. Sie stellte sich ein Fließband vor, das am laufenden Band Informationsmüll produzierte.
Ihre Überlegungen wurden von der Ankunft an der Haltestelle unterbrochen. Sie verließ Bahn und Gedanken und ging 321 Schritte bis zu ihrer Arbeit.
Genauso viele wie gestern. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen stieg sie die Stufen hinauf und öffnete die Tür. Dann legte sie ihren Mantel an der Garderobe ab, bevor sie sich an ihren Schreibtisch setzte. Ohne besonderes Interesse arbeitete sie sich durch Anträge, führte Telefongespräche und beantwortete E-Mails. Zwischendurch blickte sie aus dem Fenster, ihre Aussicht über den unordentlichen Hinterhof endete an einer fleckigen Backsteinwand, es nieselte den ganzen Tag.
Acht Stunden später war die Arbeit des Tages getan, Irina ging mit zwei Kolleginnen zur Bahn und hörte zu, wie die beiden sich über die Arbeit unterhielten. Bald kam die Bahn.
Auf der Rückfahrt stieg sie am Hauptbahnhof aus, um Marlin zu treffen. Er stand an eine Säule gelehnt zwischen Steindamm und dem Eingang zur U1. Inmitten menschlicher Zielstrebigkeit wirkte er auf sie wie eine Statue. Wie eine Blase in der Zeit. Das war es wohl, was sie in ihm sehen wollte: einen Halt.
Manchmal zog das Leben so schnell an ihr vorbei, dass sie Angst hatte, es würde sie allein zurücklassen.
Sie ging zu ihm und lehnte den Kopf auf seine Schulter. Marlin legte ihr den Arm um die Taille, der feste Druck seiner Hand strafte seinen abgewandten Blick Lügen.
"Schön dich zu sehen." Seine Stimme drang leise zu ihrem Ohr, er lächelte.
"Du schaust doch ganz woanders hin." Sie lachte, leise. "Wie war die Arbeit?"
Er zuckte mit den Schultern. "Ganz gut"
"Was machst du eigentlich?" Er schüttelte den Kopf. "Geld verdienen, wie alle.“

Andrej

Marlins Lächeln verschwand aus seinen Augen, seine Lider verengten sich zu Schlitzen. "Lass uns gehen." Seine Stimme verriet, dass er es eilig hatte.
Überrascht folgte Irina seinem Blick.
Ein kahl rasierter Mann mit kaukasischen Gesichtszügen und Lederjacke drängte sich durch die Passanten, direkt auf sie zu.
Sein Blick war zielgerichtet wie der eines Jagdhundes.
"Heyh, da ist Andrej, mein Bruder." Irina klang erfreut.
Marlin schaute sie prüfend an, für einen kurzen Augenblick wurden seine Züge weich und traurig zugleich.
Dann stand Andrej schon vor ihnen. Er spuckte vor Marlin aus, es war wie ein Warnschuss. "Wir werden dich zur Verantwortung ziehen." Seine Stimme war rau vor mühsam unterdrückter Wut.
Marlin blickte ihn an, langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. So kalt wie eine Felsspalte im Hochgebirge.
Irina drängte sich zwischen die beiden. "Was wird hier gespielt? Wer hier das größere Arschloch ist? Was soll das?"
Andrej hatte sie bis jetzt nicht bemerkt. Ihre Anwesenheit schien ihn völlig aus der Bahn zu werfen. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und tauchte in der Menge ab.
"Andrej!" Irina lief ihm hinterher. Doch nach ein paar Schritten gab sie es auf, er war verschwunden.
Wütend kehrte sie zu Marlin zurück.
"Was war das denn?"
Marlin blickte weg. "Wir haben Ärger."
Irina lachte freudlos. "Das habe ich gesehen. Ein bisschen mehr müsstest du schon erklären."
"Erklären? Dein Bruder und seine Freunde wollen unsere Kunden haben. Sie wollen Geld mit Seelenvernichtung verdienen und wir wollen das nicht.
Es ist unser Geld, unser Geschäft. So einfach ist das."
Er schaute ihr in die Augen. Suchte in ihnen nach Zeichen einer Veränderung. Er mochte diese Augen sehr.
Sie erwiderte seinen Blick ungerührt.
"Verkauft ihr Drogen oder Waffen oder was?"
Nun schaute er weg.
"Kokain."
Sie schüttelte den Kopf.
"Seelenvernichtung, dass ich nicht lache. Du bist ein mieser kleiner Straßendealer, mehr nicht." Blitzschnell holte sie aus und schlug ihm mit der flachen Hand schallend ins Gesicht. Danach drehte sie sich um und ging.

Marlin schaute ihr nach, bis er sie im Gewühl nicht mehr erkennen konnte. Ohne Rücksicht, was die Nächsten dächten ...
Er hatte nicht das Gefühl eine Wahl zu haben.
Sie mussten dem Tscherkessoff-Clan geballte Härte entgegen setzen, alles andere würde als Schwäche verstanden werden.
Unbewusst ballte er seine Hand zur Faust und presste seine Nägel in das weiche Fleisch, bis das Blut floss.
Andrej hieß er also. Es gefiel ihm nicht, seinen Namen zu kennen.
In dem Moment spürte er es das erste Mal ein leichtes Ziehen im Magen. Oder eine Leere irgendwo in ihm. Ein unangenehmes Gefühl, vor allem weil es ihm fremd war, er wusste nicht, was er dagegen tun konnte.
Marlin konzentrierte sich auf den Schmerz in seiner Hand und ging zu Hilde.
Im Hausflur stolperten ihm zwei Typen entgegen, er drückte sich an die Wand um sie vorbeizulassen.
Sein Bauch machte ihm zu schaffen, es war, als drückte eine eiserne Faust seinen Magen auf Rosinengröße zusammen.
Tomas begrüßte ihn grinsend. Seine zwei Meter wurden von fahlgelbem Haar gekrönt, das in sein unablässig grinsendes Gesicht hing.
Marlins Blick wanderte über Tomas' Gestalt. Nun grinsten beide.
"Ayeh Marlin! Wasnlos auf der Straße?" Tomas breitete seine Arme aus und machte einen Schritt auf ihn zu. Dabei wäre er fast über die Schleppe seines Kleids gestolpert.
Kopfschüttelnd betrachtete Marlin seine Aufmachung. "Was geht denn hier ab?"
Tomas versuchte sich an beleidigtem Tonfall. "Was soll sein Mann? Wir feiern ein Kostümfest. "Danach sprach er zwei Tonlagen höher weiter "ich bin heute eine Prinzessin!" In normalem Tonfall: "worauf wartest du? Komm rein, Hilde macht gerade nen Bauchtanz."
Ohne Antwort abzuwarten, zerrte er Marlin in die Wohnung.
Zwischen den Kleiderbergen im Flur standen dreiarmige Leuchter, dessen Kerzen unstet flackerten, und in dicken Wachstropfen auf die herumliegenden Kleider fielen.
Tomas war schon wieder in Hildes Refugium verschwunden. Marlin suchte vorsichtig einen Weg hinterher. Sein Blick fiel auf das Buchregal.
Direkt zu Anfang, neben dem Schwein mit den Handschuhen über den Hauern, stand ein zerfledderter Veteran langer Lesenächte. Auf dem Einband stand in Gebrochenen
Lettern "gestatten, Trakl, geisteskrank und inzestuös".
Marlin spürte wieder seinen Magen, die Rosine verdichtete sich in Richtung Neutrinostern. Aber zu diesem beschissenen Gefühl gesellte sich jetzt die Erregung, bald Trakls Gift auf die offenen Wunden seiner Seele träufeln zu können. Trakl verschwand in seinem Parka.
Doch zuerst wollte er feiern und vergessen. Marlin zog sich bis auf die Unterhose aus, fischte Rock und Bluse aus den Kleiderbergen und lieh sich den Pfauenfederhut vom Tiger.
Es gab wenig Schlimmeres als unangemessen gekleidet zu sein.
Für einen kurzen Augenblick drängte sich Irinas wütendes Gesicht vor sein inneres Auge. In seinem Magen schlugen eiserne Schmetterlinge mit messerscharfen Flügeln.
Marlin gestattete sich ein sardonisches Lächeln und tanzte in das Refugium hinein.

Der Traum

Durch dichte Rauchschwaden erkannte er die Schemen von zehn Gestalten, die einen Kreis um die tanzende Hilde schlossen. Einige hatten Neonröhren in der Hand und zogen mit ihnen Leuchtspuren durch die Dunkelheit.
Völlig enthemmt, von den Röhren in verschiedenfarbiges Licht getaucht, drehte sich Hilde im Kreis.
Grob drängte Marlin sich in den Kreis hinein und überließ seinen Körper der Musik. Und tanzte, bis er die Schmetterlinge nicht mehr fühlte.

Seine nächste Empfindung war der Qualm, an dem er fast erstickt wäre.
Hustend brach er aus dem Kreis seiner Freunde aus und ging auf den Balkon, um die kalte Nachtluft gierig in seine Lunge zu ziehen.
Sein Kopf drehte sich, die Lichter der nächtlichen Stadt schienen zu wandern.
Das lag nicht mehr an dem Tanz des Derwischs. Wahrscheinlich war in der Zigarette, die er während des Tanzes bekommen hatte, ein Rauschmittel gewesen.
Marlin schaute in den Himmel, die Sterne schwankten.
Benommen setzte er sich hin. Marlin spürte, dass etwas gegen seinen Bauch drückte. Umständlich zog er den Band von Trakl raus und schlug zögerlich die erste Seite auf.
Seine Welt drehte sich, die Seiten aber lagen stille. Die Versdichtung des verstorbenen Österreichers überwand sein Zögern bald.
In zunehmender Erregung las Marlin Vers um Vers, Seite um Seite. Der Lärm aus dem Refugium erreichte ihn nicht mehr. Es war, als hätte ihn eine teuflische Energie mit der Kraft ausgestattet, all die Trauer und Verzweiflung in sein Herz zu lassen.
Als er fertig war, kotzte Marlin über das Geländer. Die Welt drehte sich nicht mehr, eine Schwäche überkam ihn. Die Tiefen griffen nach ihm, haltlos gab er sich hin, und fiel wie in einen tiefen Brunnen.
Dann stand er in einem traumlogischen Treppenhaus, es war schief und ineinander verschachtelt. Er stand vor einer Tür, öffnete sie und ging hindurch. Marlin fand sich in einem langen Flur wieder, der voller Kisten und Regale stand, nackte Glühbirnen tauchten ihn in Licht. Ohne das Gerümpel genauer betrachtet zu haben, spürte er, hier barg jede Kiste ein Geheimnis, und trotz des scheinbaren Chaos hatte alles seinen Platz. Manche Bereiche waren von Schatten verdunkelt, andere flackerten in dunstigem Licht. Wie in Trance folgte er den Windungen des Flurs, und kam erst wieder zu sich, als er an dem Ausgangspunkt des Traumgangs stand. Die Tür stand noch immer offen. Aber etwas anderes nahm seine Aufmerksamkeit gefangen: Ein uralter Fernseher stand an der Wand gegenüber der Tür und zeigte ein rauschendes Störungsbild von schwarzen und weißen Punkten, die ineinander fielen. Auf dem Fernseher lagen Kopfhörer. Marlin wusste, sie waren für ihn bestimmt und setzte sie sich auf. Der Fernseher veränderte sein Bild - es erschien ein pochendes Herz in anatomischer Genauigkeit. Marlin spürte, dass es sein Herz war, das er betrachtete, und im Moment der Erkenntnis sprach es zu ihm: "Iss mich."
Dann verschwamm das Bild, und die Räume krachten in sich zusammen, als würde in den Traumlanden die Erde beben. Jemand rüttelte ihn an der Schulter. Als er aufwachte, sah er Tomas neben sich hocken und ihn besorgt anschauen.
"Komm rein, wir wollen in einer Stunde los. Außerdem ist es hier schweinekalt." Schaudernd zog Tomas sein Kleid enger.
Mühsam stemmte sich Marlin hoch und ging wieder hinein. Das Kostümfest war vorbei, die Leute waren entweder gegangen oder lagen in Ecken und auf Stühlen verteilt. Er schaute die Schlafenden fragend an. "Mit wem wollen wir die Russen nachher eigentlich fertigmachen?"
Tomas folgte seinem Blick. "Och ... eine Stunde Schlaf und dann ein bisschen Koka, das wird schon. Den Schlaf gönne ich mir jetzt auch." Tomas schlurfte auf einen Kleiderberg zu und fiel in ihn hinein, kurze Zeit später schnarchte er leise.
Nun war Marlin alleine, der Einzige bei Bewusstsein und ihm gefiel die Stille.
Er setzte sich auf den Sessel, auf dem er gestern, als er Hilde das Zeug gebracht hat, schon mal gesessen hatte.
Auf dem Beistelltischchen lag weißes Pulver. Marlin pustete es weg, holte sich Stift und Papier aus seinem Parka und fing an zu schreiben. Er hatte eine Entscheidung getroffen, er wollte versuchen diese Schmetterlinge loszuwerden, die ihm so zusetzten, auch wenn das bedeutete, Irina zu verlieren.
Zuerst schrieb er Zeilen von Trakl. Danach ein paar eigene, dazu gedacht, seine Jungs und sich selbst zu motivieren.
Zu der verabredeten Stunde knipste er das Licht an. Erbarmungslos strahlte es auf die Partyleichen hinab. Dazu legte er eine Scheibe auf, die mit harten, queren Klängen unbarmherzig auf die Trommelfelle einschlug. Er rüttelte diejenigen wach, die selbst diese Kulisse ignorieren konnten, und reichte ein Tablett mit Koka rum.
"Eyh Marlin, Mrs. Krankenschwester! Ich will auch." Tomas rief in den Kleiderberg hinein. Es klang als hätte er den Mund voll Wolle. Nach ein paar Minuten, in denen das Nervengift seine Wirkung entfalten hatte können, stellte Marlin die Musik aus, den Beistelltisch auf eine halbwegs freie Fläche und stieg hinauf. Zehn Gesichter musterten ihn aufmerksam. Die Männer waren geschminkt und trugen Kleider. Die Frauen hatten sich alte Anzüge genommen, trugen Melonen auf den Köpfen und Charlie Chaplin Schnurrbärte auf den Oberlippen. Eine rief aus einer Ecke heraus: "Das Dichterlein will eine Rede halten! Nur zu, wir merken heute eh nichts mehr." Mit schiefem Lächeln verbeugte sich Marlin und begann mit Trakls Zeilen:
>Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel, schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen.<
Dies ist als kleine Einstimmung auf die heutige Auseinandersetzung gedacht. Ich wünschte, ich könnte schreiben wie Trakl, dann ... würde ich es tun. Aber seis drum, ich hab ja nicht mal eine Schwester. Also: Ladys, steckt die Messer in eure Strumpfhosen! Gentlemen, vergesst die Keulen nicht! Alle kreativ Begabten freuen sich doppelt: Wir werden heute einen kaukasischen Blutkreis malen!"
Tomas hatte sich mittlerweile aufgerappelt und rief dazwischen. "Dass du immer auf deren Nationalität anspielen musst ... " Er sprach das Nationalität, als hätte es ein sch statt einem t am Anfang und blickte in gespielter Traurigkeit zu Boden. "Wir sind doch keine Rassisten."
Begeistert griff Marlin Tomas' Anmerkung auf.
"Nein, keine Diskriminierung! Wir würden sie auch verprügeln, wenn sie aus China kämen. Jeder, der unsere Geschäfte stört, hat ohne Unterschied ein Recht auf unsere Fäuste. Zu den Wagen, es geht los." Die euphorisierte Bande brach in Jubel aus und machte sich auf den Weg zu ihren Bussen.

Bei Andrejs Wohnung

Fast lautlos fuhren die Busse durch die Nacht. Unterbrochen wurde das eintönige Motorengeräusch von fernen Autohupen und der plötzlichen Beschleunigung eines Sportwagens.
Marlin blickte sich um. Jetzt, da sie auf dem Weg waren, hatten sich die Gefühle gewandelt und seine Gefährten starrten wie verloren vor sich hin. Niemand bot einen Haltepunkt, jeder war in seiner eigenen Welt versunken. Marlin dachte an sein Herz. Die Vibration seines Handys schreckte ihn aus seinen Träumereien. Automatisch nahm er es heraus und sah auf dem Display Irinas Namen. Nach einer Weile hörte die Vibration auf und Marlin steckte das Handy wieder in die Hosentasche.
Eine Möwe rief durch die Nacht.

Irina stand vor einer prächtigen Jugendstilvilla. Ungläubig schaute sie die Fassade hinauf, während sie das Telefon an ihr Ohr hielt. Das Freizeichen endete nicht, ihr Ruf blieb unbeantwortet.
"Mist." Sie klappte es zusammen und hielt es in der Hand, während sie überlegte, ob sie es gleich noch einmal probieren sollte. Sie musste versuchen Klarheit in die Angelegenheiten zu bringen. Ihre warnenden Gefühle trieben sie an.
Vor ihrem inneren Auge sah sie Marlin unwillkommene Anrufe ignorieren. Da würde sie nichts erreichen.
Sie fluchte noch einmal leise und ging die Wendeltreppe hinauf. Auf dem Weg nach oben las sie die Namensschilder, ihr eigener Familienname stand an einer Flügeltür im zweiten Stock, die mit aufwendigen Schnitzereien verziert war. Hier waren sie also untergekommen, die Geschäfte mussten gut laufen. Sie wusste immer noch nicht, was sie Andrej sagen wollte. Irina klingelte schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Andrej stand lachend auf, als er das Klingeln hörte und ging an die Tür. Nachdem er sie aufgemacht hat, schwand das Lächeln, der Schreck seine Schwester zu sehen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er murmelte eine russische Verwünschung. "Was tust du hier?"
"Diese Frage dir stellen. Du scheinst ja gut zu verdienen, wenn du dir so eine Wohnung leisten kannst."
Andrej sah aus als hätte er auf eine Zitrone gebissen. "Was soll das heißen? Du weißt gar nichts."
"Ich weiß, dass du Marlin angesehen hast wie diese arme Seele in Russland, ehe wir geflohen sind. Dass du dieselben Augen und den selben Gesichtsausdruck hattest. Wie damals, bevor du ihm den Schädel eingeschlagen hast."
Er schaute ihr in die Augen. Sein Gesicht war in ihren Pupillen zu sehen. Die Erinnerungen an Russland überfluteten ihn, an Jahre voller Wald und den Tieren des Waldes, die er beobachtet hatte wenn er alleine spazieren gegangen war. Und an die Tage die er mit seiner Schwester geteilt hatte, Tage voller Lachen und Sonne.
Es war eine gute Zeit gewesen. Sie hatten ihre Erinnerungen so oft ausgetauscht, nun hatten sie fast dieselben Bilder vor ihrem inneren Auge, wenn sie von Russland sprachen. Nur der Anblick des toten Obdachlosen, dem er in einer frostigen Nacht mit dem Boden einer Wodkaflasche den Kopf eingeschlagen hat. Darüber hatten sie nie gesprochen. Aber er sah es vor sich, als wäre es gestern gewesen. Er erinnerte sich auch an das trockene Knirschen des Schädels, und den erschrockenen Blick des alten Mannes, als er begriffen hatte, dass alles vorbei war. Danach waren sie geflohen. Die ganze Familie hatte die Koffer gepackt und war mit einem eilig ausgestellten Visum, damals waren fast die gesamten Ersparnisse für das Schmiergeld drauf gegangen, über viele Grenzen hinweg nach Deutschland gekommen.
Hier war er nun, im reichen Exil.
Irina schaute ihn an, sie wusste, was er dachte, sie erkannte seinen Blick. Sie hatten oft darüber gesprochen und es war immer das Gleiche, nichts hatte sich verändert. Sie schüttelte ihren Kopf. "Du musst darüber hinwegkommen." Dann, wütend werdend: "Wir haben unsere Heimat aufgegeben, damit du ein Leben hast, lass das nicht umsonst sein!"
Aus Andrejs Wohnung wurde nach ihm gerufen. "Andrej, was ist los? Gibt’s Probleme?"
Er drehte sich halb zur Wohnung, es hatte den Anschein als wollte er wieder hineingehen. Irina hielt ihn am Arm fest.
"Wenn du jetzt gehst ... " sie überlegte kurz" ... kann ich dir nicht mehr helfen. Komm mit mir, wir gehen ein Stück. Lass uns reden, bitte." Sie schaute ihn eindringlich an. Er fühlte Heimat durch ihren Blick, spürte die Verbindung zu den guten Zeiten in seinem Leben, und wusste, wenn er diesen Blick ignorieren würde, hätte er das schmale Band endgültig getrennt. Er traf eine Entscheidung.
"Ich hole nur meine Jacke" Andrej ging in die Wohnung zurück, holte seine Jacke, und redete schnell und leise auf jemanden ein. Dann stand er auf einmal neben Irina, hakte sich bei ihr ein und ging schwungvoll, wie in alten Zeiten, mit ihr die Treppe hinunter in die Nacht.

Sie verpassten Marlin nur knapp. Marlins Bande hatte die Busse ein paar Straßen weiter geparkt. Er ging voraus um die Lage einzuschätzen, die anderen versteckten sich in einem Park, der dem Haus gegenüber lag. Er schlenderte langsam um das Haus herum, seine Hand schloss sich um den Schlagring, als er vor dem Fenster im zweiten Stock stand. Harter französischer Rap drang gedämpft zur Straße hinunter. Auch in anderen Wohnungen war Licht an, die Straße war gut ausgeleuchtet. Marlin schaute kurz die Straße entlang und sah keinen Menschen. Diese ganze Idee war Wahnsinn- und jetzt schien die beste Gelegenheit zu sein, ihn wahr werden zu lassen. Er pfiff zweimal kurz und ging ins Haus. Wie Gespenster kamen die anderen aus den Büschen, hasteten über die Straße und folgten ihm in den Hausflur. Im zweiten Stock, vor einer Flügeltür, blieben sie stehen. Marlin klingelte.
Ein Mann mit nacktem Oberkörper öffnete die Tür. Fragend schaute er Marlin an. Bevor es zur Artikulation kommen konnte, klärte Marlin die Frage mit dem Schlagring. Das Nasenbein knirschte, als Metall auf weiche Knorpel traf. Schnell fing er den bewusstlosen Russen auf und ließ ihn leise zu Boden gleiten. Die anderen schlichen in die Wohnung. Marlin durchsuchte die Taschen des Bewusstlosen, fand einen Wohnungsschlüssel und schloss die Tür von innen ab. Dann brauchten sie nur noch der Musik folgen. Wie böse Geister kamen sie über ihre Konkurrenten, die nichts ahnend um einen Glastisch saßen. Sie rauchten, redeten und lachten als der Erste von Marlins Leuten ins Zimmer stürmte.
Die Überraschung auf den Mienen wandelte sich schnell zu Schrecken. Dann war es wie eine grausige Pantomime. Begleitet von französischen Worten.
Die Russen, in Unterzahl und überrascht, hatten dem Überfall nichts entgegenzusetzen. Zwischendurch fiel der Fernseher herunter und implodierte. Ansonsten war es erstaunlich ruhig.
Als ein Nachbar das implodierende Gerät hörte, stellte er seinen eigenen Fernseher lauter. Er war Lärm aus der Wohnung gewohnt und hatte vor ein paar Wochen, als er Andrej wegen des andauernden Lärms angegangen war, den Eindruck gewonnen, es wäre besser, sich nicht zu beschweren oder die Polizei zu rufen. Es müsste sich ja bald eine neue Wohnung finden lassen.

Marlin lachte und schlug mit Begeisterung auf einen Widersacher ein, dessen Gesicht die Konturen seines Traumherzens annahm. Er würde es seinem Lebensmuskel schon zeigen. Diese verdammte Zuneigung aus seinem Leben tilgen. Schlag für Schlag verschwand das Herz, zurück blieb eine formlose Masse, die nur noch wenig Ähnlichkeit mit einem Gesicht hatte. Tomas rüttelte an seiner Schulter und brachte Marlin zu ächzendem Bewusstsein. "Es ist alles kaputt. Wir können gehen."
Der kam schnell wieder zu sich. Sprach zu seiner wartenden Gang: "Ab, Geister. Verschwinden wir."

Die Flucht verlief entgegen aller Erwartung und Wahrscheinlichkeit erfolgreich. Während Marlin im Wagen saß, blickte er aus dem Fenster über die spiegelglatte Alster. Die Sonne ging auf, sein Mut sank. Bald würde sie wieder untergehen und der Schlaf, der kleine Tod würde ihn holen. Er dachte an den Feind aus seinen Träumen, und daran, dass er ihm nun ausgeliefert war. Weiß Gott was dann passiert, ging es ihm durch den Kopf. Oder der Teufel.
Er hatte seine Irina verloren, das spürte er. Ansonsten spürte er nichts, die verdammten Schmetterlinge verhielten sich ruhig.

 

Hallo Kubus,

thematisch gut, krankt deine Geschichte leider an Einigem. Zunächst an der Grammatik. Alle vereinzelt in den Details aufgeführten Fehler ziehen sich durch den ganzen Text und wiederholen sich ständig, ohne, dass ich sie jedes Mal aufgelistet habe. Häufig hat man den Eindruck, du kennst dich mit den Präpositionen nicht aus, oder außer den Grundartikeln kaum welche. Dadurch gehen oft die Bezüge zu den handelnden Personen verloren, erst recht, wenn du die Perspektiven wechselst.
Vielleicht lag es daran, dass mir die Geschichte trotz des Actionthemas schleppend vorkam. Jedenfalls hatte ich, bevor ich sie las, gedacht, so lang sei sie nicht, Aber während des Lesens wurde sie immer länger.
Dabei finde ich es deutlich gut, dass du detailreich erzählst, verschieden Figuren einführst, wie etwa Hilde, verschiedene Stränge, wie etwa Irina und Andrej, deren Geschwisterschaft, und diese Stränge auch miteinander verbindest. Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, du könntest straffen oder müsstest sprachlich eines drauflegen, damit man die Geschichte auch über diese Länge gern liest.
Details:

Er stand an einer Säule gelehnt am Bahnhofsplatz
Akkusativ. An wen oder was gelehnt stand er? An einer Säule gelehnt.
Der vorbeihastende Menschenstrom flutete um ihn herum
umflutete ihn wäre mE kürzer und schöner.
Während des rauchens
wenn so, dann während des Rauchens, aber belasse es bei der Tätigkeit, dann ist auch die Perspektive klarer: Während er rauchte, befingerte Marlin
Einen schönen Feierabend wünsche ich ihnen
in der Anrede Ihnen groß
Und sie schienen sich fürs übersehen entschieden zu haben
auch hier: Wenn du aus einem Verb ein Nomen machst, wird dieses auch groß geschrieben: "Übersehen". Hier bringt die Variante ja auch tatsächlich mal eine Verkürzung des Satzes.
Dieses Lachen hallte im Kopf eines Polizisten nach, und ließ ihn seine Stirn runzeln
Perspektivwechsel deutlicher machen, Komma weg. Dieses Lachen hallte im Kopf eines Polizisten nach und ließ diesen die Stirn runzeln.

Ich bin im Moment nicht sicher, ob die Beschreibung für mich zu ungenau ist, weil ich die Region kenne. Jedenfalls irritiert mich, dass nicht davon die Rede war, dass die Polizisten wohl die Treppe hinunter zur U-1 genommen haben, der eine jetzt aber diese Treppe wieder hochgeht. Auch überlege ich gerade, ob an dieser Stelle die klassische Musik überhaupt noch zu hören ist. Mir fällt sie immer eher an den Eingängen beim Reisezentrum und den anderen U-Bahnen auf. Marlin müsste ja aber irgendwo an diesen überdachten Gängen außerhalb des Bahnhofsplatzes gestanden haben, wenn er zwischen Steindamm und U-1 war.

von einem Gefühl gewarnt das er zu weit gegangen war.
gewarnt, dass
Die oberste Priorität lautete keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Vorschlag: Die oberste Priorität lautete: keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Wenn man sich zu sicher fühlte saß man schon mit einer Backe auf der Wache
fühlte, saß
fiel ihm ein dass er der alten Hilde noch eine Lieferung versprochen hatte
ein, dass
er konnte sich nicht erinnern wie sie ihn herumgekriegt hatte.
erinnern, wie (dringend die Kommasetzung noch mal anschauen)
Vorbei an den Filialen der Großketten, die in Übergroßen Lettern ihre Marken in die Köpfe der Menschen implantierten.
übergroßen (klein)
Sie selber hatte eine kriminelle Vergangenheit
Sie selbst
Den Eindruck, den sie mit ihrer selbststellerischen Tour schinden wollte
meinst du selbstdarstellerischen? Oder meinst du mit ihrer Tour, sich zu stellen?
und es ihr leid tat das sie gelogen hat.
tat, dass
Marlin hatte mal gesehen wie sie einem Bettler am Abend einen zehner zugesteckt hatte.
Zehner
Sie hatte sich vorher noch schnell umgeschaut als würde sie etwas verbotenes tun und sich dann sofort aus dem Staub gemacht
umgeschaut, als ... Verbotenes tun, und
einen Moment hatte Marlin die Vorstellung von einem gutgelaunten, türkisen Elephant
türkisfarbenen Elefant
der sich einen Weg durch die Savanne bahnt und tanzenden Flamingos zuwinkt.
im Tempus bleiben: bahnte, zuwinkte
Die Musik würde sich ändern wenn sie ihr erstes Kügelchen geraucht hat.
im Tempus bleiben: geraucht hätte
direkt daneben hing das Wildschwein, dem sie auf der letzten Party seidene Handschuhe über seine Hauer gezogen hatten
Der Genitiv hätte den Vorteil, eine umständliche Beschreibung direkter auszudücken: Wildschwein, über dessen Hauer sie auf der letzten Party seidene Handschuhe gezogen hatte.
Er überlegte kurz ob er dem Steinbock, oder was immer das für ein Vieh war, den Lampenschirm über seine Hörner stülpen sollte
über die Hörner (wessen sonst?)
"Marlin Süüüßer, wo bleibst du denn" hören ließ
denn?"
erschauern als würde er sie das erste mal sehen.
erschauern, als; das erste Mal
"Oh tatsächlich? dann nehme ich alles zurück" sie kicherte wie ein verknallte 14jährige
"Oh tatsächlich? Dann nehme ich alles zurück." Sie kicherte wie eine verknallte Vierzehnjährige
Marlin hörte die Verbindung von Kokain und aufgekochter Ammoniaklösung knistern, als sie mit dem Feuer reagierte.
Das liest sich für mich in sich nicht stimmig. Die Verbindung ist ja die Reaktion, sie kann also nicht mit dem Feuer reagieren. Oder bestehen die Kugeln aus Koks und aufgekochter Ammoniaklösung?, warum sind sie dann fest? Oder wird die Ammoniaklösung erst durch das Feuer aufgekocht?
Er nahm sich einen kleinen Band mit Versen von Rilke, zündete sich eine Zigarette an und überliess sie ihrer Sucht.
überließ Hilde ihrer Sucht (sonst überlässt er die Zigarette ihrer Sucht)
wissend das er wusste
wissend, dass
Die Nacht begrüßte ihn mit einer windstillen, eisigen Kälte.
besser: mit windstiller, eisiger Kälte (da es nicht zwei oder drei Kälten gibt, bedarf es keinen zählenden Fürworts.
zog wegen der Nachtkälte unwillkürlich die Schultern zusammen
hast du ja gerade im Satz zuvor schon geschrieben, dass es kalt ist.
Ohne weiter auf die Umgebung zu achten führten ihn seine Schritte automatisch zu Irina.
"führten ihn seine Schritte" ist eine stehende Redewendung, also okay, problematisch ist die Einleitung, weil dadurch nicht Marlin, sondern dessen Schritte nicht weiter auf die Gegend achten.
vom Mondlicht in silbernes Licht getaucht
um die Wortwiederholung zu vermeiden
Ohne Rücksicht was die nächsten dächten...
hat Rilke "die Nächsten" auch klein geschrieben? nach neuer RS jedenfalls groß. Und ein Leerzeichen vor "dächten"
zu Erinnerungen voll Sonne und Lachen
voller
Sie hielt den kleinen Klumpen zwischen ihr Auge und den Mond.
auch hier würde ich für die Sprachmelodie auf den besitzanzeigenden Artikel verzichten.
und sie träumte bis zum Klingeln des Weckers.
Hier bringt die Substantivierung des Verbs rein gar nichts, außer schlechtem Deutsch. sie träumte bis der Wecker klingelte.
Danach duschte sie sich
wen sonst?
um vielleicht etwas neues über diesen Bahnstreik zu hören
Neues
Nichts neues, die Züge fuhren
same
"Ich vermisse dich bis wiedersehen."
Häh?
Männer mit dezent gegelten Haaren
Haar im Sinne von Frisur im Singular. Männer mit gegeltem Haar.
Sie hatte mal ein kleines Gerät aus dem Überraschungsei gehabt, damit konnte sie aus verschiedenen Grundworten, die zufällig neu kombiniert wurden,
witzige Worte konstruieren.
Zeilenumbruch unlogisch; Ich würde eher schreiben: Sie hatte mal ein kleines Gerät in einem Überraschungsei gefunden, mit dem sie aus verschiedenen Grundworten, die zufällig neu kombiniert wurden, witzige Sorte konstruieren.
Sie trug ihren Teil dazu bei während sie die vor ihr liegenden Unterlagen sortierte.
bei, während
Sie wusste, was sie tun musste um die Probleme
musste, um
Inmitten der zielstrebigen Feierabendfans wirkte er wie eine Statue
Feierabendfanatiker?
Von diesem, diesem oder diesem Feierabend?
Das war es wohl, was sie in ihm sehen wollte: einen Haltepunkt.
wenn du hier nur schreibst: einen Halt, hast du es gleich viel stärker und allgemeingültiger.
Marlin legte ihr den Arm um ihre Taille
um die Taile
"Freue mich über wiedersehen" seine Stimme drang leise zu ihrem Ohr, er lächelte.
Hey, er liest Rilke, sie ist Russin, warum spricht er so gebrochen? Hat er bei Hilde doch auch nicht getan. Im Übrigen: Punkt nach Wiedersehen und Seine groß
"Du schaust doch ganz woanders hin" sie lachte, leise
Punkt nach hin und Sie groß
Seine Stimme war rauh vor mühsam unterdrückter Wut
rau
Er setzte sich auf den Sessel, auf dem er vor zwei Tagen, als er Hilde das Zeug brachte, schon mal saß
Tempus: das Zeug gebracht hat, schon mal gesessen hatte.
es war immer das gleiche
das Gleiche
"Wir haben unsere Heimat aufgegeben
damit du ein Leben hast, lass das nicht umsonst sein!"
unsinniger Zeilenumbruch; Komma nach aufgegeben

In der Kommasetzung: vor "um" gehört immer ein Komma, vor dass (das/dass Verwechslungen sind auch häufig) und "während" auch. Lass den Text am besten durch ein Korrekturprogramm laufen, um das Gröbste schon mal zu erwischen.
Tempusfehler schafft leider kein Korrekturprogramm. Wenn du aber die Geschichte in der Vergangenheit erzählst, müssen die Rückblenden natürlich in der vollendeten Vergangenheit erzählt werden.

Soweit erstmal.
Lieben Gruß
sim

 

Hey sim,
danke erst mal für die umfangreiche Rückmeldung. Im grammatikalischem Bereich
sind meine Fähigkeiten wohl optimierungswürdig :D
Ich saug mir das mal runter und werde mir die Story nochmal vornehmen.
Vielleicht findest du ja noch mal die Zeit eine nächste Version zu lesen.
Noch mal Dank und Gruß,
Kubus

 

Hey sim,
als eine Zwischenmeldung:

Die Polizisten: ich lasse sie jetzt erst die Treppe hinunter gehen bevor der eine die Stufen wieder hoch kommt. :)

Zu den Kokakugeln: Diese Kugeln, umgangssprachlich als Crack bezeichnet, bilden sich wenn man Koka mit einer niedrigprozentigen Ammoniaklösung mischt (beispielsweise auf einem Löffel) und dann solange erhitzt bis das Ammoniak verdampft. Zurück bleibt die Kugel, die dann geraucht werden kann. Die Reaktion findet bei der Zubereitung statt, beim Konsum reagiert sie mit dem Feuer.

Das gebrochene Deutsch von Marlin: ich habe das als rau charmant empfunden.

So, jetzt habe ich deine Vorschläge hinsichtlich der Grammatik und Orthographie meistens befolgt. Mal schauen was sich inhaltlich noch rausholen lässt, übers Wochenende setz ich mich ran.
Ich brauche im Moment ein bisschen länger. (kein Netz zuhause und viel um die Ohren) Ich werde alles auf einmal hochladen.

Ab und zu musste ich lächeln. Das Verbessern hat Spaß gemacht, aber auch die Fehler hatten teils ihre Komik. Trotzdem werde ich die Kommasetzung studieren. Erst einmal nehme ich bei kurzen Sätzen Zuflucht. :)
Korrekturprogramm?- Wo versteckt sich eins?
Danke für die Zeit und das Eindenken.

Bis dann,
Kubus

 

Hallo sim,
ich habe die Geschichte noch mal überarbeitet, ein bisschen Gewalt am Anfang hinzugefügt, versucht zu kürzen und deine Vorschläge größtenteils in die Tat umgesetzt.
Nach meinem Empfinden habe ich nicht besonders viel herausholen können.
Vielleicht noch ein Statement von dir?
Ich würde die Geschichte gerne ad acta legen.
Beste Grüße,
Kubus

 

Hallo Kubus,

ich bin zur Zeit beruflich sehr eingespannt, bitte dich also um etwas Geduld. Ich hoffe, ich komme in dieser Woche zu der Geschichte. :)

Lieben Gruß
sim

 

Hi Kubus,

jetzt bin ich endlich fertig geworden, hat zwar etwas länger gedauert, ist aber dafür sehr ausführlich. Ad acta legen kannst du die Geschichte wohl noch nicht. Deine inhaltlichen Veränderungen finde ich gelungen. Die innere Motivation kommt besser heraus.
Damit das hier nicht zu lang wird und für dich übersichtlich bleibt, habe ich dir ein Dokument hochgeladen.

Achja, da KG eine Seite des Gebens und Nehmens ist, wäre es grundsätzlich schön, wenn du dich auch als Kritiker einbringen würdest.

Lieben Gruß
sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Hey sim!,
Mist! Da muss ich wohl noch mal ran, dabei macht es viel mehr Spass, neue verbesserungswürdige Geschichten zu schreiben. Aber ich bin auch gespannt, was Du noch für Ideen hast... mal gucken, es wird vielleicht schnell gehen.
Demnächst lasse ich auch ein paar Komms auf die Menschheit los.
Liebe Grüße,
Kubus

 

Hey sim, ich werde nicht müde dir für die Mühe zu danken! Ich bin beeindruckt. Nun habe ich gekürzt, verbessert, viele Vorschläge übernommen, einige nicht. Die Geschichte gewinnt an Profil.
Mittlerweile bin ich auch stolzer Besitzer von Word und habe eine eigene Rechtschreibprüfung!
Bis denne,
Kubus

 

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