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Marmorsonne
Mich quälen seit Monaten Träume, die an Puzzleteile erinnern, weil sie sich Stück für Stück zu einem Bild fügen. An meinen ersten Traum kann ich mich noch genau erinnern:
Ein alter Mann steht auf einer Anhöhe. In seinen zotteligen, langen Haaren haben sich Grashalme verfangen. Ringsherum stehen Kastanienbäume und Fichten. Er holt unter seinem Lumpengewand eine Schatulle hervor, streichelt über die Runen, die in dem Metall eingelassen sind. Als er das Kästchen öffnet, strahlt ein Licht auf sein zerfurchtes Gesicht. Die Warze auf seiner Nasenspitze erscheint übergroß. Er blinzelt, als er den grell schimmernden Stein aus dem samtenen Bezug nimmt und ihn in seiner Hand wiegt. Der Stein scheint aus Licht geschaffen, ein Stückchen Marmorsonne.
Ein anderer Mann kommt hinter einem Baum hervor geschlichen, eine Art Mönch. Er trägt eine Robe mit Kapuze und hat breite Schultern. Aus seinem rotbackigen Gesicht stechen rubinrote Augen. Er nähert sich dem Alten mit einem Knüppel, den er fest umklammert hält.
Später träumte ich, dass der alte Mann mit dem Gesicht auf dem Waldboden landet, der Knüppel kommt neben seinem Kopf zum Liegen. Der Stein und die Schatulle poltern den Hang hinunter, der Kapuzenträger bleibt oben stehen, mit geballten Fäusten und sieht ihnen missmutig hinterher. Die Schatulle kracht gegen einen Felsen und bleibt im Gras liegen, während der Stein wenige Meter weiter in einen Teich gluckst und das Spiegelbild einer Erle zerreißt. Der Stein sinkt hinab, tastet mit seinem Lichtschein den Teichrand ab, dann leuchtet die Marmorsonne den Grund aus, der zur Hälfte mit den Wurzeln der Erle durchflochten ist.
Langsam steigt der Kapuzenträger den Hang hinab, rutscht weg, fasst vergeblich nach Halt und stürzt hinunter. Mit dem Kopf kracht er dumpf gegen den Felsen und bricht auf der Schatulle zusammen.
Der alte Mann regt sich. Er rührt den Kopf, rappelt sich hoch und sucht unter verwelkten Blättern den Waldboden ab. Schließlich entdeckt er den Kapuzenträger neben dem Felsen liegend, wenige Schritte von einem unnatürlich glitzernden Teich entfernt. Er greift sich den Knüppel und steigt unendlich langsam den Hang hinab. Dem Kapuzenträger nähert er sich mit angehaltenem Atem. Er reißt den Knüppel hoch und schlägt auf seinen Widersacher ein. Einige kräftige Hiebe, dann schleift ihn der alte Mann zum Teichufer und füllt die Taschen der Robe mit Steinen. Er stützt sich an den Knien ab, schwer atmend, und sieht sich nach allen Seiten um, bevor er den Kapuzenträger im Teich versenkt.
Nachdem ich aufgewacht war, brummte mir der Schädel, als wäre ich derjenige gewesen, dem man mit dem Knüppel eins übergezogen hatte. Ich torkelte ins Bad und wusch mir mit kaltem Wasser die flackernden Bilder aus den Augen. Hoffentlich war's das jetzt, dachte ich mir und machte es mir auf der Kloschüssel bequem. Ich lehnte mich zurück, nickte ein und träumte von dem alten Mann.
Er springt in den Teich und taucht nach dem Stein. Er hat nur Augen für die Marmorsonne, nicht für den versenkten Mönch, nicht für das Wurzelwerk der Erle, in der er vielleicht deswegen seinen Fuß verfängt, noch bevor er den Stein zu fassen bekommt. Wild rudert der alte Mann mit den Armen, versucht sich zu lösen. Zahlreiche Blasen steigen empor. Bald aber keine Bewegung mehr, auch keine Blasen. Und da liegt sie nun am Grund, die Marmorsonne, wirft ihr Licht auf den Mönch neben ihr und den alten Mann, der scheinbar auf der Wurzel steht, der Wurzel, in der er seinen Fuß verhakt hat.
In anderen Träumen konnte ich sehen, wie sich das Wasser des Teichs verfärbt, bald in eine dunkle Brühe verwandelt, schließlich in einen Sumpf. Die Rinde der Erle bekommt Risse und die Äste saugen die Laubblätter ein, so dass Sonnenlicht durch die kahle Erlenkrone bricht und den Sumpf bescheint. Ein Stieglitz landet auf einem Ast, pickt sich mit dem Schnabel die Flöhe aus dem Flügeln. Ein Zweig schlängelt sich hinterrücks an, schnappt zu und zieht sich immer enger um den Vogelleib. Die Stieglitzaugen quellen hervor, das Gefieder platzt auf. Später schnuppert ein Reh vor dem Stamm der Erle an bunten Federn und einem zerquirlten Vogelkadaver, bis es der gleiche Tod ereilt wie den Stieglitz: Ein dicker Zweig packt das Reh, drückt es zu Boden. Es windet sich, bis Knochen knacken.
Die Bibliothek wurde daraufhin zu meinem zweiten Zuhause, Bücher über Traumdeutung zu meiner bevorzugten Lektüre. Ich blätterte und suchte, las quer und manches zweimal - doch nirgends fand ich eine Antwort auf die Frage, was die Träume zu bedeuten hatten. Stundenlang wälzte ich Bücher und schlief schließlich über einem ein.
Ein Jäger spaziert durch den Wald. Er stapft mit großen Schritten durch das Unterholz, hat sein Gewehr um die Schulter gehängt und zieht seinen braunen Filzhut gerade. An der Erle bleibt er stehen, blickt hoch zum kahlen Geäst, dann irritiert zu den saftig blühenden Laubbäumen um ihn herum, dann wieder zur nackten Erlenkrone. Er geht in die Knie, stochert mit dem Gewehrlauf an einigen Knochen herum und richtet sich wieder auf. Drei Schritte zur Seite, den Kopf im Nacken, und schon sinkt er ein, im Sumpf. Gerade noch bekommt er einen Zweig zu fassen und zieht sich mit Mühe heraus, robbt zur Erle und lehnt sich gegen den Stamm. Von seiner Hose trieft der Schlick. Der Jäger nimmt den Hut vom Kopf, legt ihn neben sich und wischt mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Die Augen hält er geschlossen. Ein Schatten wächst über sein Gesicht, ein Zweig kommt näher …
Ich fiel vor Schreck fast vom Stuhl. Die Bibliothekarin sah zu mir herüber. Sie gefiel mir, mit ihren hochgesteckten Haaren und dem Muttermal an der linken Wange. Sie sprach mich auf meine roten Augen an und ich erzählte ihr von meinen Träumen und dass ich auf der Suche nach Antworten bin. Vielleicht finde ich sie in der Mythologie, meinte sie. Also büffelte ich die Sagenwelten. Schon nach wenigen Minuten blätterte ich mich tatsächlich durch ein Buch, das von einem Stein erzählte, der der Marmorsonne ähnelte.
Gott weinte dem Satan eine Träne nach, nachdem er ihn aus dem Himmel geworfen hatte und die Legende sagt, dass der Teufel die Träne versteinerte und mit einem Fluch belegte.
Auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, ob es sich überhaupt um einen realen Wald handelte, oder nur um eine Ausgeburt meiner blühenden Phantasie.
Ein Puzzletraum hielt mir eine Antwort parat: Ein kahlrasierter Mann ritzte in die Erle seine Initialen, trat beinahe in den Sumpf und stieg die Anhöhe hinauf. Seine Augenbrauen waren zusammengewachsen – und da wusste ich, wer er war: Mein Dad, in jungen Jahren.
Ich besuchte also tags darauf meinen Dad bei sich zu Hause.
„Du, Paps, darf ich dich mal was fragen …“
Er blätterte in der Zeitung. „Nur zu“, meinte er, ohne aufzusehen.
Und so erzählte ich ihm von der Legende.
Er faltete die Zeitung zusammen und schob sie von sich. Ein wenig war ihm die Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Woher hast du das?“, wollte er wissen.
Ich zog es vor, ihm die Wahrheit zu ersparen. „Ich hab davon in einem Buch gelesen. Und jetzt frage ich mich, ob es den Wald wirklich gibt, die Erle, und die Träne …“
„Ich glaube, das verfolgt mich ein Leben lang …“ murmelte er geistesabwesend und klopfte auf den Stuhl neben sich. „Komm, setz dich.“
Und so erzählte er mir von den Träumen, die ihn lange Zeit plagten – sie waren mit den meinen identisch - und dass er den Ort ein zweites Mal aufgesucht hat, kurz bevor ich geboren wurde.
„Ein zweites Mal?“
„Ja. Beim ersten Mal habe ich einfach nur meine Initialen in den Baum geritzt. Dann fing das mit den Träumen an. Ich bin dann noch mal hin – du kennst das ja: Man muss sich seiner Angst stellen. Hätten dann die Träume kein Ende gehabt, hätte ich den verdammten Baum gefällt …“
Ob man sich dadurch von dem Fluch lösen konnte? Nun wusste ich ja, in wessen Wald die Erle stand …
Ich suchte also den Ort auf, die Anhöhe, und sah den Hang hinab, sah zu dem Felsen und auf die Erle mit dunklem Fleck davor, dem Sumpf. Und da stand ich nun, hoch oben, in sicherer Entfernung und mir war gar nicht mulmig zumute. Kann sein, dass das an dem Herbsttag lag, den man aus einem Bilderbuch gestohlen hatte. Sonne, Schäfchenwolken, gelb-rotes Blättermeer, mit Vogelgesang untermalt, dazu ein lauwarmer Wind, zu meinen Füßen einige Kastanien. Die Neugierde trieb mich weiter, und so ging ich den Hang hinab, vorsichtig, er war wirklich steil, bis zu dem Felsen, weiter traute ich mich nicht - obwohl der Ort zu meiner Überraschung wirklich nichts Unheimliches an sich hatte. Ein Knacken unter meinen Füßen. Metall schimmerte. Ich schälte eine Schatulle aus dem Boden und während ich die eingelassenen Runen besah, schob sich eine Wolke vor die Sonne, kälter wurde es und Vögel konnte ich auch keine mehr hören, nur den Wind, der durch verwelkte Blätter raschelte. Ich sah auf, zur Erle, und vor Schreck ließ ich die Schatulle fallen. Da hatte sich etwas bewegt. Ein Schatten. Er löste sich vom Baum und trat ins Licht.
Hat der mich erschreckt! Erleichtert atmete ich auf. Es war bloß ein Jäger. Das Gewehr hing über seiner Schulter und er trug einen braunen Filzhut. Den Kopf hielt er gesenkt, daher konnte ich sein Gesicht nicht ausmachen. Er nestelte an seinem Hosenbund. Hallo!, wollte ich schon rufen, als er langsam sein Hemd aufknöpfte, seine Brust entblößte, oder eben das, was davon noch übrig war. Die Rippen waren ohne Fleisch, teilweise angebrochen. Sein Herz baumelte lose an einer Ader. Jetzt sah er auf und fixierte mich mit seinen weißen Augen, pupillenlos waren sie. Die Haut seiner Wangen hing in Fetzen. Mein Herz fühlte sich an, als hätte er es mit seinem Blick schock gefroren. Ich taumelte rückwärts. Er ging einen Schritt auf mich zu und als er das Gewehr von der Schulter nahm, löste sich vom Wipfel der Erle ein Stieglitz und ein Reh jagte hinter dem Baumstamm hervor, jagte im Unterholz davon, ohne ein Geräusch.
Ich hastete den Hang hinauf. Oben angekommen, sah ich, dass der Jäger mich verfolgte, den Blick hatte er an mir festgezurrt. Ich bückte mich nach einer Kastanie, warf nach dem Jäger. Die Kastanie sauste einfach durch ihn hindurch. Ich rannte um mein Leben. Zweige rissen mir die Arme blutig, die Knie schmerzten, vom Lauf über moosbewachsene Felsen und dem holprigen Waldboden. Er folgte mir, zielte mit dem Gewehr auf mich. Ich schlug Haken, wie ein Hase, wartete darauf, dass das Geschoss neben mir einschlagen, oder noch schlimmer: mich treffen würde. Seitenstechen. Meine Kehle brannte. Ich trieb mich weiter und weiter, atemlos, fingerte nebenher den Autoschlüssel aus der Hosentasche. Endlich erreichte ich meinen Wagen, umschauen wagte ich mich nicht mehr. Mit scharrenden Reifen preschte ich davon. Im Rückspiegel sah ich den Jäger immer kleiner werden, bis er sich schließlich im Nichts auflöste.
Die folgenden Nächte verliefen alle gleich. Mir erschien der Jäger, er legt das Gewehr an und als sich ein Schuss löst, wachte ich auf, schweißgebadet.
Den Wald werde ich meiden, dessen war ich mir sicher. Es musste noch einen anderen Weg geben.
Also suchte ich mal wieder die Bibliothek auf, durchforstete die Sagenwelt nach einem Hinweis – und wurde fündig. Mein Dad hatte sich getäuscht. Mit bloßer sich-der-Angst-stellen war das nicht getan. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie man wieder ruhige Nächte erleben kann: Wenn man ‚Glück’ hat, kann man den Fluch an seine Nachkommen vererben.