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Martha, warum isst Du denn nichts
Seit dem Aufstehen fühlten sich die Beine von Jakob schwabbelig an, leichter Schwindel beeinträchtigte sein Gleichgewicht. Auch der Herzschlag schien ihm unregelmässig. Der Kreislauf, ärgerte er sich. An die Tür des Ladengeschäfts hängte er ein Schild mit der Aufschrift «Heute geschlossen». Es kommen ohnehin nur noch vereinzelt Kunden. Vor zehn Jahren gab er die Bestattungen auf und beschränkte sich auf den Verkauf von Grabschmuck. Altersbedingt, wie er seiner Kundschaft mitteilte. Er verschwieg, dass seine Frau bettlägerig geworden war.
«Martha», rief er in Richtung der Treppe zum Untergeschoss, «ich lasse heute den Laden geschlossen. Es fehlt mir nichts, aber ich denke, ich brauche etwas Ruhe.»
Jakob beschäftigte sich in der kleinen Werkstatt, die er behalten hatte. Seine Hände zitterten, doch Grablichter fertigte er noch immer an. Seine Werke waren kunsthandwerklich anspruchsvoll. Aus einer Laune heraus hatte er dies früher als Freizeitbeschäftigung begonnen. Über die Jahrzehnte erwarb er sich dann grosses Geschick darin. Viele Kunden schätzten eben diese Arbeiten, obwohl er die modernen, welche er in Kommission hatte, auch mochte.
Sein Blick fiel auf das Kalenderblatt an der Wand, der Monat war abgelaufen. Er erhob sich und zupfte es umständlich ab. Das neue Bild zeigte eine düstere Novemberlandschaft. In den nächsten Tagen muss ich die Winterbepflanzung am Familiengrab herrichten. Der Tag ist wohl nicht mehr fern, bis ich mit Martha dorthin umziehe.
Ein Klopfen an der Ladentür riss ihn aus seinen Gedanken. Es steht doch, dass geschlossen ist. Heutzutage meinen die Leute man müsse rund um die Uhr verfügbar sein. Der Tod hat schliesslich auch seine Wartezeit. Er horchte, es blieb still.
Das Grablicht zur Hand nehmend, welches er in den vergangenen Tagen bearbeitete, fuhren seine Finger darüber. Die Metallteile fühlten sich glatt an, keine unreine Stellen. Das Läuten der Haustürglocke schreckte ihn erneut auf.
«Das ist doch eine Frechheit!», entfuhr es ihm.
Wohl einer dieser lästigen Vertreter, der mir etwas andrehen will.
Energisch aber unsicheren Schrittes ging er zur Haustür. Frau Gabathuler, eine Nachbarin, stand draussen, ihn besorgt betrachtend.
«Fehlt Ihnen etwas, Herr Bieger?»
«Nein, nein. Ich fühle mich heute nur etwas Müde.»
«Ich dachte nur, weil in letzter Zeit öfters mal geschlossen war. Sie wissen ja, wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich einfach an. Wenn Sie möchten, können Sie auch zum Mittagessen rüberkommen, oder ich bringe Ihnen etwas.»
«Das ist sehr lieb von Ihnen, Frau Gabathuler. Ich brauche aber wirklich nichts. Erst gestern hatte ich eingekauft, so dass ich ausreichend versorgt bin. Sollte aber doch was sein, werde ich Sie anrufen.»
«Dann bin ich beruhigt. Übrigens hat Irene nach Ihnen gefragt. Sie, aber auch Michael, erkundigen sich immer wie es Ihnen geht, wenn sie mich anrufen oder vorbeikommen.»
Jakob lächelte über ihre Worte. Ihre Kinder, die früher oft zu Martha in die Küche oder in seine Werkstatt kamen, waren ihm in angenehmer Erinnerung. «Das ist schön, wenn man nicht einfach in Vergessenheit gerät. Grüssen Sie Ihre Kinder auch von mir, wenn Sie wieder von ihnen hören.»
«Ach, das Wichtigste habe ich Ihnen ja noch gar nicht erzählt. Irene erwartet ein Kind. Im Frühjahr soll es dann soweit sein.» Ihr Gesicht strahlte vor Freude bei dieser Botschaft.
«Das ist aber schön. Da zeigt sich wie schnell die Zeit vergeht. Es ist doch nicht so lange her als sie noch einen Puppenwagen herumstiess. Ich freue mich sehr für Irene.»
«Ich werde es ihr ausrichten. Doch nun lasse ich Sie, sonst kommen Sie gar nicht zum Ausruhen. Noch einen angenehmen Tag, Herr Bieger, und Sie wissen …»
«Ich wünsche Ihnen auch einen angenehmen Tag, Frau Gabathuler.» Er schloss die Tür. Sie wird wohl umgehend Irene anrufen und ihr erzählen, dass ich Ruhebedürftig sei. So sind nun mal die Frauen. Aber nett ist sie ja und meint es nur gut. Als Martha krank wurde, bot sie ihm an, ihn zeitweise im Haushalt zu unterstützen. «Es bereitet mir überhaupt keine Mühe», meinte sie. «Die Kinder sind nun bald erwachsen. Ich könnte die Wäsche und das Putzen übernehmen. Wenn sie möchten, koche ich auch.»
«Meine Selbstständigkeit ist mir wichtig», erklärte er ihr damals. «Ich war Martha stets in manchen Dingen zur Hand gegangen. So fällt mir die Hausarbeit nicht schwer. Auch brauche ich die Beschäftigung, der Laden allein gibt mir zu wenig Aktivität.» Es reicht schon, dass die Krankenschwester dreimal im Tag nach Martha sehen kommt, waren damals seine Gedanken. Nicht, dass ihre Gesellschaft ihm unangenehm war.
In der Werkstatt begutachtete er nochmals das fertiggestellte Grablicht. Die Nahtstellen am Ornament sind sauber verlötet. Mit einem weichen Tuch polierte er die Metallteile, obwohl sie keine Makel zeigten. Zufrieden betrachtete er das fertige Werk.
Mit fahrigen Bewegungen rückte Jakob im Laden andere Gegenstände zusammen, um das neue Grablicht im reichlich vorhandenen Sortiment zu platzieren. Ich werde erst wieder Neue machen, wenn es wieder Platz hat.
Er musste sich an der Theke abstützen, ein Schwindelgefühl trat wieder auf.
Ach Martha, es ist wirklich nicht angenehm alt zu werden. Die innere Zwiesprache mit Martha liebte er, sie hatte immer Verständnis für ihn. So war sie immer gewesen.
Ich werde mich nun doch etwas hinlegen. Er begab sich auf unsicheren Beinen ins Wohnzimmer und legte sich auf die Couch, die Augen schliessend. Nach kurzer Zeit war sein Atem gleichmässig röchelnd, nur alle paar Minuten ein Aussetzer.
Jetzt hatte ich doch wirklich geschlafen. Noch benommen schaute er auf die Standuhr, welche mit hellem Klang die zwölfte Stunde ankündete. Er fühlte sich schlapp und wartete noch einen Moment, bevor er sich langsam erhob um das Mittagessen zuzubereiten.
Eine Minestrone reicht, ich habe keinen grossen Hunger. Er stand vor dem offenen Küchenschrank. Das Gemüse gibt mir Vitamine. Umständlich klaubte er zwischen den Suppenbeuteln herum, bis er das gesuchte fand.
Als ein singender Ton den Siedepunkt des Wassers ankündete, schüttete er den Beutelinhalt in die Pfanne und rührte um. Er schnupperte, der Geschmack der Minestrone stieg mit dem Dampf der köchelnden Suppe aus der Pfanne. Ja als Martha noch kochte oder buk, war die Küche immer ein Ort appetitanregender Düfte. Auch das Teewasser sprudelte inzwischen. Er stellte die Herdplatte ab und goss es in die grosse Tasse. Heute nehme ich mal kein Bier oder Wein, ein Weissdorntee ist vernünftiger, der ist gut für Herz und Kreislauf.
Um mit Martha möglichst oft zusammen zu sein, richtete er, als sie langfristig bettlägerig wurde, im Untergeschoss ein klimatisiertes Wohn-Schlafzimmer ein. Das Tageslicht war für sie nicht mehr verträglich. Er deckte den kleinen Tisch und stellte auf Marthas Bett ein Tablett, wie immer liebevoll mit einer Blume geschmückt. Anstatt des Tellers hatte sie eine Schnabeltasse. Ein Scheibe Brot legte er dazu. Da er nicht alles auf einmal tragen konnte, musste er noch einmal die Treppe hoch steigen.
«Martha habe ich Dir eigentlich erzählt, dass Irene, die Tochter von Frau Gabathuler ein Kind erwartet. Im Frühjahr soll es soweit sein. Ha, ich erinnere mich gut, wie die Kleine jeweils zu Dir in die Küche kam, wenn du am Backen warst. Sie wusste genau, du würdest ihr ein Stück abgeben und noch eins für Michael.»
Dass Martha nicht mehr sprechen konnte, daran hatte sich Jakob längst gewöhnt. Ihre Antworten gab er sich selbst, er wusste ja wie sie dachte und worüber sie sich freute. Insofern waren seine Gespräche mit ihr nach wie vor Dialoge, wie sie sie auch früher führten.
«Martha, ich hatte eine Idee. Ich möchte noch einmal etwas ganz Besonderes erschaffen. Lache aber bitte nicht, wenn ich dir sage, was es werden soll. Also, ich dachte an eine Laterne, die für all jene ungeborenen Kinder leuchten soll, die zwar erwünscht, aber dennoch den Weg ins Leben nicht antreten konnten. Was denkst du darüber?»
«Du schmunzelst. Ich wusste, diese Eingebung wird dir gefallen. Ich werde nachher gleich mal Entwürfe anfertigen und sie dir dann zeigen. Bei den Motiven bin ich mir noch nicht ganz sicher. Vielleicht solche aus Kinderliedern, oder was denkst du?»
«Ja, ja paar Gänseblümchen werden auch dabei sein. Ich weiss, es erinnert dich an Irene, als sie noch klein war und ab und zu solche pflückte. Sie kam dann stolz mit ihrem Sträusschen in der Hand zu dir.»
«Wahrscheinlich werde ich verschiedene Metalle hinein verarbeiten, auch etwas Messing, das gibt einen goldähnlichen Ton. So ist es schön auf den Stein unserer Familiengruft abgestimmt.»
Lange Zeit betrachtete er Martha still, wie er es gerne tat. Ihr Gesicht sah friedlich aus, die Augen geschlossen. Das weisse Haar schön gekämmt. Er überlegte, soll ich vielleicht das Licht der Lampe etwas dämpfen? Der Schein verleiht ihrem Gesicht einen Schimmer, der ihr etwas von ihrer natürlichen Schönheit nimmt.
«Martha, warum isst du denn nichts?», fragte er nach einer Weile besorgt. Die Suppe und das Brot waren unberührt. Zart strich er mit seiner Hand über ihre Wange.
Ach ja, du kannst ja nicht. In drei Wochen sind es zehn Jahr her, seit deinem Todestag, erinnerte er sich. Fahrig strich er sich über die Stirn und blickte sie liebevoll an.
In der Familiengruft ruhte in Marthas Sarg eine Steinplatte, etwa ihrem Gewicht entsprechend.
Die Einbalsamierung von Martha hatte Jakob selbst vorgenommen, nach der Salafia-Methode. Der Vorteil dieser Technik war, dass Verstorbene so natürlich wirken, als ob sie noch lebten. Das Wissen und die Handfertigkeit gingen mit den Erfordernissen seines Berufs einher. Bis zu Marthas Tod wandte er aber nur die Thanatopraxie an, dies, wenn die Überführung einer Leiche ins Ausland oder eine mehrtägige Aufbahrung gewünscht war.
Sein Unwohlsein intensivierte sich weiter, noch viel stärker als bisher.
«Martha, bald werden wir wieder endgültig beisammen sein», sagte er mit brüchiger Stimme, aber einem liebevollen Lächeln. Ein Schwindelgefühl liess ihn auf das Bett zu wanken, wo er sich neben Martha legte.