Martha
MARTHA
Wenn ich Martha doch nur erklären könnte, was mit mir geschehen ist. Aber wenn ich vor ihr sitze und ihren Namen schreie, dann scheint sie mich nicht einmal zu hören. Wird sie meiner gewahr, dann hebt sie ärgerlich die Hand zum Schlag und ich muß schauen, daß ich mich davonmache. Wenn sie ihren Fernsehsessel verläßt und in die Küche geht, um sich einen Tee zu kochen, dann folge ich ihr und versuche verzweifelt, mich bemerkbar zumachen. Doch alles, was ich ernte, ist ein wütender Blick und ein weiterer Versuch, mich zu töten.
Alles begann an diesem Montagmorgen im Büro, als ich plötzlich einen beklemmenden Schmerz in der Brust verspürte, direkt hinter dem Brustbein. Ich atmete ein paarmal tief durch, und als mir schwindlig wurde, setzte ich mich hin und preßte die Hand auf meine Brust. Nach einer Weile verschwand der Schmerz, und auch meine Benommenheit ließ nach. Als Margot, meine Sekretärin, hereinkam und mir einen Brief zur Unterschrift vorlegte, tat ich so, als sei nichts geschehen. Auch Martha sagte ich nichts davon, denn nichts lag mir ferner, als sie zu beunruhigen. Als sich der Vorfall nach einigen Tagen jedoch wiederholte, ging ich heimlich zum Arzt. Der untersuchte mich gründlich und riet mir mit ernstem Gesicht, das Rauchen sofort aufzugeben. Meine Koronoargefäße seien gefährlich verengt, und unter Umständen müßte ein bypass gelegt werden. Er schrieb mir noch die Adresse einer Klinik in Belgien auf einen Zettel, die auf solche Operationen spezialisiert ist.
Einige Tage lang trug ich den Zettel mit mir herum und meinte ihn durch die Brusttasche meines Jacketts hindurch zu spüren. Nachts lag ich wach und dachte nach. Von Herbert, einem guten Freund, wußte ich, daß solche Operationen manchmal auch schiefgehen. Herbert hatte einen Bekannten durch eine solche Operation verloren. Außerdem scheute ich mich, mit Martha über meine Krankheit zu sprechen. Der Gedanke, daß sie mich mit meinen dreiundfünfzig Jahren plötzlich als alten und kranken Mann erleben sollte, war mir unerträglich.
Zwei Wochen vergingen, ich hatte den Anfall und die Warnungen meines Arztes schon fast vergessen. Martha hatte sich sehr gewundert, daß ich urplötzlich das Rauchen aufgegeben hatte. Als ich nun zum Frühstückskaffee wieder meine gewohnte Zigarette rauchte, bedachte sie mich mit einem freundlich-vorwurfsvollen Lächeln. Sie wußte nicht, wie ernst es um mich stand.
Es geschah an einem Dienstag. Der Dienstag war schon immer ein schlechter Tag für mich gewesen. An einem Dienstag war mein Vater gestorben und fünfzehn Jahre später war an einem Dienstag mein Bruder bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ich kam gerade mit einem Klienten vom Notar, bei dem wir einen Kaufvertrag hatten beurkunden lassen und drückte die Taste des Sprechgeräts, als ich wieder diesen Schmerz hinter dem Brustbein spürte. Er war anders diesmal, stärker. Keuchend saß ich da und preßte die Hand auf meine Brust, schlug schließlich mit der Faust dagegen, doch der Schmerz wollte nicht weichen. Dann schien er plötzlich meine Brust zu zerreißen. Irgend etwas platzte in mir, ich sah, wie mir der Teppichboden entgegen kam und gegen meine Wange schlug. Ich war keineswegs besinnungslos, ich war im Gegenteil hellwach und bekam alles mit, was um mich herum vorging. Ich registrierte, wie Margot sich über mich beugte und voll Angst meinen Namen rief. Ich hätte ihr gerne geantwortet, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, doch meine Stimme versagte. Ich registrierte, wie der Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene herbeikam, wie mich die Sanitäter auf die Trage legten und die Trage dann in den Wagen schoben. Die Fahrt durch die Stadt war ein unvergeßliches Erlebnis. Schon oft hatte ich einen Ambulanzwagen durch die Straßen rasen sehen und ihm Platz gemacht, wenn ich selbst gerade im Wagen saß. Oft hatte ich mir vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn ich selbst darin läge. Dach jetzt, als es so weit war, war es ganz anders. Die untere Hälfte der Scheiben bestand aus Milchglas, und ich bekam die rasende Fahrt des Wagens nur durch gelegentliches Bremsen und das Durchfahren von Kurven mit. Ich versuchte mir vorzustellen, wie jetzt die Leute auf der Straße stehen blieben und dem Wagen nachsahen und vielleicht froh waren, nicht selbst darin zu liegen, doch es gelang mir nicht. Ich war in einem seltsam zeitlosen Behälter aus Stahl und Glas, der, ohne sich zu bewegen, durch die Straßen glitt und mich irgendwohin brachte, wo man sich wohl um mich kümmern würde. Ich hatte nicht die geringste Angst und ertrug sogar den Gedanken an mein möglicherweise kurz bevorstehendes Ende mit sachlicher Gelassenheit.
Als ich dann im OP lag und sich die anonymen Gesichter mit den grünen Hauben und dem Mundschutz über mich beugten, wußte ich, daß ich gestorben war. Ich schwebte plötzlich über dem Tisch und sah mich unten liegen, von einer Reihe von furchtbar hektischen und entschlossenen Leuten umringt, die meinen Körper an Geräte und Schläuche anschlossen. Ich sah noch, wie ein Arzt versuchte, mein Herz wieder in Gang zu bringen, und wie er kopfschüttelnd aufgab und die Schwestern meinen Körper auf eine fahrbare Trage legten und hinausfuhren.
Dann schienen mir plötzlich Schwingen zu wachsen, und fühlte mich mit den Schwingen schlagen und genoß das Gefühl, mich durch den Raum steuern zu können. Ich erinnerte mich, in einem Buch über Seelenwanderung gelesen zu haben, daß die Seele verstorbener Menschen in den Körper eines Tieres fährt. Ich war froh, in einen Vogel gewandert zu sein. Schon immer hatte ich mir gewünscht, frei durch die Lüfte zu schweben und mich durch eigene Kraft und aus eigenem Entschluß immer höher und höher schwingen zu können. Ein Fenster stand offen. Ich flog hinaus und genoß den Rausch der Freiheit. Ich war grenzenlos glücklich und alles, was mich je bedrückt hatte, war klein und gering im Vergleich zu dieser Ungebundenheit. Ich steuerte auf ein Hochhaus zu und flog die Fassade empor. Direkt am Rande des Dachs ließ ich mich nieder und genoß das Gefühl, daß dieser Abgrund vor mir nicht die geringste Gefahr mehr für mich darstellte. In der Ferne sah ich das Appartementhaus, in dem ich mit Martha gewohnt hatte. Ich faßte den Entschluß, ihr mein Glück mitzuteilen.
Ein Fenster stand offen, es war das Badezimmerfenster. Martha stand vor dem Spiegel und kämmte sich. Ihren rotgeweinten Augen war anzusehen, daß sie die Nachricht von meinem Tode bereits erhalten hatte. Ich ließ mich auf ihrer Schulter nieder, um sie durch meinen Anblick zu erfreuen. Doch wer beschreibt meinen Schreck, als ich in den Spiegel blickte?! Ich sah kein glänzendes Gefieder und keine gebogenen Schwingen. Ich entdeckte einen Saugrüssel und, im Vergleich zum Kopf, riesige, facettierte Augen, mit denen ich Marthas Bewegung wahrnahm. Sie holte zum Schlag aus. Zerhackt in viele tausend Momentaufnahmen sah ich ihre Hand heruntersausen. Ich erhob mich, um nicht zerdrückt zu werden und sah Marthas ärgerliches Gesicht. Ich schrie ihren Namen, um mich ihr zu erkennen zu geben. Doch ich weiß, daß all meine Verzweiflung und meine laut hinausgeschriene Angst für Martha nicht mehr ist als ein lästiges Summen, bei dem sie zu einer Zeitung greift, um meinen häßlichen, behaarten Körper zu zerquetschen.