Was ist neu

Maschinenstürmer

Mitglied
Beitritt
10.02.2010
Beiträge
60

Maschinenstürmer

Sie zerknüllte den Briefumschlag, warf ihn zum Altpapier, kopfschüttelnd. Die Sonne blinzelte durch die Vorhänge. Draußen, auf der Straße, zwischen zwei geparkten Autos suchte eine Katze Schutz vor der Hitze. Die laute Musik eines Autoradios drang hinauf in die Wohnung der jungen Frau, sie setze sich an ihren Küchentisch und trank einen Schluck Wasser. Schon wieder eine Absage, dachte sie. Ihre Haare hingen ihr tief ins Gesicht, sie schluckte, stellte ihr Glas an die Spüle und zog sich ihre Schuhe an. Sie musste raus.

Zwei Kerle schauten ihr hinterher, sie spürte deren Blicke auf sich. In der Nähe hupte ein Auto. Aus der Wohnung, an der sie gerade vorbeiging, hörte sie das Schreien eines kleinen Kindes. Es war heiß in der Stadt. Sie kam an der Videothek vorbei und starrte auf die Plakate der Neuerscheinungen. Waffen, Titten, Autos, Blut. Der Geruch von gegrilltem Lammfleisch hing würzig in der Luft. Sie bog ab, in die nächste Straße. Im Schatten des Wohnblocks gab es einen Kinderspielplatz, lautes, vergnügtes Treiben empfing sie dort. Sie setze sich auf eine Parkbank, sah den Kindern zu und ruhte sich aus.

Wieso, fragte sie sich.

Sie hatte sie alle abgeheftet, alle einundsiebzig. Einundsiebzig Absagen.

Am Abend war es immer noch nicht kühler, das Thermostaat ihrer kleinen Wohnung zeigte ihr eine Temperatur von sechsundzwanzigkommadrei Grad an. Sie hörte den Kühlschrank kämpfen. Im Schlafzimmer war es angenehmer. Sie war so zornig, sie hätte am liebsten Scheiben eingeschmissen und um sich getreten und lauthals geschrien: ihr könnt mich mal.

Ihre Eltern sorgten sich um sie. Die Mutter rief ständig an und lag ihr in den Ohren mit ihrem: „Lass den Kopf nicht hängen, kämpfe“, und ihr Vater, obschon auch er nicht viel Geld mit nach Hause brachte, überwies ihr ab und zu kleinere Beträge. Im Verwendungszweck stand dann immer: Du weißt Bescheid, ne? Es war einfach nicht zum Aushalten. Das waren diese Momente, diese Augenblicke, wo sie nicht mehr hier sein wollte, in einer Welt, einer Gesellschaft, deren Teil sie scheinbar nicht sein sollte. Wozu auch das Studium, wozu all das Wissen.

Sie war total betrunken. Immer öfter. Eben war sie, vor ihrem Kühlschrank liegend, wach geworden. Eine Flasche vom billigsten Bier neben sich liegend, ein Rinnsal ihrer Spucke auf dem PVC. So schlimm war es nicht jeden Abend, aber die Quote stieg. Meistens fing es an, dass sie ein Buch las, und sich dazu ein Bierchen öffnete. Nach der zweiten Flasche kam dann die dritte, bis alles weggetrunken war. Wie oft war sie schon vom Kiosk nach Hause getorkelt, kalte Flaschen in ihrer Tüte, nachdem sie ihr letztes Geld dafür verwendet hatte, Nachschub zu kaufen.

Dann stand sie vor dem Spiegel im Badezimmer. Silberfische huschten über den Boden, ging das Licht an. Sie schnitt sich selber Grimassen, stellte sich Fragen ohne Antworten und gab sich Antworten auf einen möglichen Wahnsinn. Blutunterlaufene Augen, verlaufene Wimperntusche, schon wieder einen Ohrring verloren. Wenn sie merkte, wie sehr sie stank, ging sie duschen. Die Nächte waren am schlimmsten. Sie war alleine.

Sie träumte nicht mehr.

Die Hunde rannten durch die Nacht, warfen Mülleimer um und fraßen sich satt, an den Abfällen der Menschen. Sie hatten gelernt, dass es zweimal in der Woche etwas für sie gab. Aber es war gefährlich. Immer ging irgendwo ein Licht an. Und oft kamen sie zu spät, wenn sich die Maden auf den Essensresten kringelten und die Ratten in den Schatten der Laternen verzogen. Sie wurden verjagt und mussten weitersuchen. Sie heulten gemeinsam in die Nacht hinauf.

Victor war gerade mal neunzehn, als seine Mutter, eine ukrainische Näherin und Emigrantin, von zwei Männern vergewaltigt und verstümmelt wurde. Die Täter wurden nie gefunden, es gab keine Beerdigung. Jetzt, ein knappes Jahr später, baute Victor Bomben. Er klaute T-Shirts aus Altkleidercontainern und tränkte den Stoff mit einer Mischung aus Öl und Benzin, füllte leere Flaschen damit und machte sich bereit für die Brände der Nacht. Am liebsten sah er große, schwere Limousinen brennen. Er lebte auf der Straße, schlief in den Winkeln des Tages und lauerte bei Nacht.

Auf Laternenpfählen klebten Aufkleber, sie kündeten von einem Widerstand, zumindest einige, aber es wurden mehr. Die Leute fingen an, ihre Nachrichten, Botschaften des Missmuts und des Hasses auf Werbeplakate und Zeitungsautomaten zu kritzeln. Die Welt geht unter, brennt, brennt, brennt!

Victor war unterwegs zu seiner neuen Schlafstelle, einem selbstgebautem Holzverschlag in der Nähe der S-Bahn-Gleise, den er aus den Sperrmüllresten einer Wohnungsauflösung und dem abgeschnitten Laub einer Gruppe von Bäumen, die zu nahe an die Gleise gewachsen waren, gezimmert hatte, als er auf die junge Frau traf. Flaschen klimperten in ihrer Tüte, sie wankte von einer Seite des Bürgersteigs zur anderen. Er trat in einen Hauseingang und beobachtete sie. Er spürte keinerlei Mitleid.

Ihr fiel ihr Schlüssel hin, verdammt. Sie hob ihn auf und da sah sie den Kerl, wie er sie beobachtete. Sie rief, er solle sich verpissen. Er kam näher. Sie schloss die Haustüre auf. Er war fast bei ihr. Sie zwängte sich durch den schmalen Spalt, den sie geöffnet hatte. Er steckte seinen Fuß zwischen Tür und Türrahmen. Sie schrie. Die Türe flog ruckartig auf. Eine Hand legte sich auf ihren Mund, sie biss danach, biss feste zu. Der Kerl verschwand.

Weinend ließ sie sich an der Wand des Treppenhauses niedersinken. Ihre Tüte war zu Boden gefallen, eine Pfütze Bier breitete sich aus, sie schluchzte. Das war knapp gewesen. In ihrer Wohnung nahm sie die beiden heil gebliebene Flaschen aus der Tüte, dann schmiss sie die Tüte und die Scherben in den Abfalleimer. Sie schnitt sich leicht in den Finger, einen Blutfleck hatte sie schon an die Küchentüre geschmiert. Ihr Herz klopfte wie wild.

Victor begutachtete seinen Finger. Die Frau hatte ihn sehr feste gebissen, bestimmt war etwas kaputt gegangen, eine Kapsel, oder eine Sehne. Warum war er auf sie zugestürmt? Was hatte er sich dabei gedacht? Es war die Hitze, sie trieb sie alle in den Wahnsinn und mich gleich mit, waren seine Gedanken. Später lag er auf seiner stockfleckigen Matratze, auch vom Sperrmüll, und schloss die Augen. Obwohl sie eine solche Angst gehabt hatte, obwohl ihr Gesicht zu einer angsterfüllten Fratze entstellt war, obwohl ihre Augen ihn angefunkelt hatten wie den lebendigen Tod, sie war wunderschön gewesen. Das Bellen der Hunde nahm ihn mit in den Schlaf.

Im Laufe der nächsten Wochen beobachtete Victor die junge Frau immer häufiger. Wie viel man doch über einen Menschen erfahren konnte, wenn man es richtig anging. Betrat sie ihre Wohnung, ging wenige Augenblicke später das Licht in einer Wohnung im dritten Stock an. Dieses Licht ging auch aus, wenn sie kurze Zeit später durch die Haustüre kam. Auf der Klingel stand C. Mattheissen. Betätigte er die Klingel, konnte er sie hinter den Vorhängen erkennen. Einmal hatte er ihre Post geklaut, aber da er kein Deutsch konnte, ließ er dies schnell wieder sein. Eine Sache stellte er fest, in dieser ganzen Zeit. Dieser Frau ging es nicht gut. Sie war ein paar Jahre älter als er, aber sie sah mittlerweile nicht mehr ihrem Alter entsprechend aus. Der gebückte Gang, die gesamte Haltung, die Ringe unter ihren Augen. Er wusste nicht, wie er an sie herankommen konnte, sie würde ihn mit Sicherheit wiedererkennen, hatten sie sich doch in dieser Nacht in dem Hausflur genau in die Augen gesehen, aber eines wusste er, er musste ihr irgendwie helfen.

Er war zweimal dazu gezwungen gewesen umzuziehen. Der Sommer näherte sich seinem Höhepunkt, die Stadt und ihre Menschen stanken zum Himmel, der Schweiß floss in Strömen. Einmal war er erwischt worden, wie er in einem Supermarkt klaute und nur knapp vor der Polizei davon gekommen, ein anderes Mal hätte er sich fast in die Luft gesprengt, als ein Kunstobjekt vor dem großen Bankengebäude mehrere Brandbomben brauchte, um zerstört zu werden. Die Scheiben waren ihm um die Ohren geflogen, als die Sirenen lauter wurden und in seinem Versteck sah er den Qualm in bläuliches Licht getränkt gen Himmel ziehen. Über ihn, dass wusste er, wurde in der Stadt berichtet.

Christina, so der Name der jungen Frau, fuhr mit dem Fahrrad durch die Straßen und genoss den Fahrtwind. Es war ein lauer Sommerabend, die Sonne stand schon tief über den Häusern. Sie hatte ein Bewerbungsgespräch, morgen, das erste seit mehreren Wochen und sie hatte sich einige Dinge vorgenommen. Keinen Alkohol, heute Abend zumindest nicht, dafür frische Luft und etwas Bewegung. Obst essen, viel Wasser, sogar Liegestütze wollte sie versuchen. Seit dem Überfall war sie noch tiefer versackt, hatte sich mehr und mehr abgeschottet und nahezu jeglichen Kontakt zu ihren Freunden und Eltern abgebrochen. Dies sollte sich nun ändern. Also, auf in den Park, einige Kommilitonen von früher treffen. Unter Menschen sein. Erschrocken war ihr aufgefallen, dass sie seit drei Tagen nicht mehr gesprochen hatte.

Die Ratten schauten auf, zu dem Licht des Fahrrads, das den Weg entlang des kleinen Baches fuhr. Mehrere Laternen waren ausgefallen, trotz des sternenklaren Himmels war es dunkel. Sie huschten in die Büsche und fraßen, was sie dort finden konnten, einer Ratte ragte das Hinterteil eines fetten Engerlings aus der Schnauze. Überall lag Müll herum. Auf der Wiese, neben einem Mülleimer glühte Kohle in den Resten eines Wegwerfgrills. Was für ein Wort.

Sie bekam den Job nicht. Scheiße.

Und dann passierte es. Sie war besoffen, Christina Mattheissen, war restlos hinüber. Sie saß auf der Bank bei dem Spielplatz, eine Literflasche Jägermeister neben sich und mehrere leere Pullen Billigbier unter der Bank, und übergab sich neben den Mülleimer. Es war mitten in der Nacht. Sie wusste, sie konnte hier nicht schlafen, aber mehr wusste sie auch nicht, war doch sowieso alles sinnlos. Sprach sie laut? Sie konnte es nicht mehr sagen. Sie versuchte aufzustehen, doch es gelang ihr nicht, sie stürzte und blieb auf dem Boden liegen. Neben dem Mülleimer, in ihrer Kotze.

Die Tiere rückten näher, sie brachten ihre Jungen mit, sie witterten Nahrung. Erst kamen die Insekten, dann das Ungeziefer. Dann kamen die Hunde.

Victor traute seinen Augen nicht. Die junge Frau lag auf dem Boden und wurde scheinbar von Hunden aufgefressen. Er war selber schon einige Male vor ihnen geflüchtet, die Tiere verrohten immer mehr und wurden langsam zu einer Gefahr. Er musste sich beeilen. Schnell hatte er begriffen, dass dies seine Chance war. Er würde sie retten, dann würde sie ihm vielleicht verzeihen können, dass er sie in der Hitze der Nacht angegangen war. Als er näher kam bemerkte er, dass die Hunde nicht von C. Mattheissen fraßen, sondern etwas von Boden aufnahmen. Mit einem Stock bewaffnet ging er auf die Hunde los und schlug wild um sich. Zum Glück ließen sie sich noch vertreiben.

Es war Erbrochenes, was sie gefressen hatten. Die junge Frau lag darin, bewusstlos, hilflos, am Ende. Er hob sie auf und legte sie zurück auf die Bank. Sie stank. Sie war zerstochen. Im Licht einer Laterne sah er den Dreck auf ihrer Haut. Sie war wunderschön. Er nahm ein Stück Stoff aus seiner Tasche und pumpte etwas Wasser aus der Anlage am Sandkasten darüber. Dann reinigte er ihr Gesicht und ihre Arme. Als er fertig war setzte er sich zu ihr und wartete darauf, dass sie aufwachte.

Sie brachte ihm Deutsch bei. Sie ließ ihn bei sich wohnen. Sie teilte ihr Bett mit ihm. Sie war die erste Frau, die auf Deutsch: „ich liebe Dich“ zu ihm sagte. Sie kochte für ihn, sie sang für ihn, sie tanzte um ihn herum und lächelte ihn an.

Er gab ihr wieder einen Sinn. Sie hatte eine Aufgabe. Zuerst war es nur eine Aufgabe gewesen, dann wurde es mehr. Er hieß Victor, war sechs Jahre jünger als sie. Er hatte sie gerettet. Sie hatte ihn gleich wieder erkannt und war hochgeschreckt, an dem Abend, als sie erfahren hatte, dass sie den Job nicht bekommen würde. Sie war schlimmer abgestürzt als jemals zuvor und wenn er nicht gewesen wäre, hätte es böse ausgehen können. Die Hunde hatten noch in der Nähe gebellt.

„Wir halten sie für ungeeignet. Jetzt mal unter uns, sie sind eine junge Frau, sie werden bestimmt bald ein Kind bekommen wollen und wir sind verantwortlich dafür, diese Stelle auf Jahre hin mit dem bestmöglichen Contender zu besetzen. Es liegt nicht an ihren Qualifikationen, aber die Quote, bedenken sie die Quote! Da kommen so viele Tage Sonderurlaub auf uns zu, es gibt da Tabellen, nach denen wir sie bewerten! Und dann der Mutterschutz. Wir wünschen Ihnen für Ihre berufliche Zukunft alles Gute, aber nicht in unserem Unternehmen!“

Er war der Bomber, der in der Stadt die Autos brennen ließ und Dinge in die Luft sprengte. Er war auf Filmen der Sicherheitskameras zu sehen, sie verbreiteten sich im Internet. Es gab zwei Fahndungsbilder, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Es gab den ersten Nachahmungstäter. Was die Leute jedoch am meisten verwirrte, war, dass seine Taten scheinbar ohne Grund passierten, dass sein Zorn sich willkürlich gegen Symbole des Geldes richteten. Seine Anarchie hatte mittlerweile hunderttausende Euros Schaden angerichtet. Nie hinterließ er eine Botschaft.

Sie war vor ihm davon gelaufen, in jener Nacht. In ihrem Kopf hallten die Stimmen der Personalabteiler nach. Was wollte dieser Kerl. Dann hatte sie sich zu ihm umgedreht, er hatte bei der Parkbank gestanden, die Hände geöffnet und ihr hinterher gesehen. Unter ihrer Dusche hatte sie bitterlich geweint. Als sie ihn am nächsten Mittag unten auf der Straße hatte stehen sehen, hinaufblickend, zu ihrem Fenster, hatte sie sich zuerst erschrocken, doch dann war sie neugierig geworden. Wer war dieser Junge, dieser junge Mann, der da unten stand?

Victor versuchte eine Erklärung in Deutsch:

„Wir sind geflohen, keine Arbeit, keine Zukunft. Hierher. Deutschland. Dann haben sie meine Mutter umgebracht, Männer. Alles nur Geld, ich hasse es. Warum? Sie konnten es tun. „

Christina kannte die Geschichte. Victors Mutter hatte keinen Job gefunden. In der Fabrik, in der sie zuerst noch hatte arbeiten können, war sie rausgeflogen, weil sie nicht mit dem Vorarbeiter hatte schlafen wollen. Sie bekam nicht eine Cent für zwei Monate Arbeit.

Auf dem Spucki am Laternenpfahl stand:

„Es ist Zeit für eine Revolution!“

Es war mittlerweile Winter geworden. Das wenige, was Christina als Bedarf zustand, reichte für die Beiden aus. Sie hatten jeden Monat sogar etwas zurücklegen können, für ihren Plan. Christina hatte noch ein weiteres Vorstellungsgespräch gehabt, aber auch hier hatte jemand anderes den Job bekommen. Es machte ihr nicht mehr so viel aus.

Der Bomber war scheinbar verschwunden, es wurde gemutmaßt, er sei verhaftet worden und weil man sich vor der Presse und etwaigen, weiteren Nachahmungstätern fürchtete, hätte die Obrigkeit beschlossen, einen Deckel darüber zu stülpen und die Sache für gegessen zu erklären.

Die wilden Hunde wurden nun bekämpft, eine spezielle Abteilung des Ordnungsamtes, Männer, allesamt Langzeitarbeitslose, die auf Kommission die Hunde erlegen sollten, zogen los, um genau dies zu tun. Recht erfolgreich sogar. Nur den Ratten kam man nicht bei, sie lebten nun schon zu lange in Menschennähe.

Mit schweren Rucksäcken auf dem Rücken und den Mützen tief in die Stirn gezogen, machten sich zwei junge Menschen auf den Weg zum Landtag, ihre Füße traten in Pfützen geschmolzenen Schnees.

 

Hallo tierwater!


Idee, Stoff deiner Geschichte gefallen mir sehr gut.

Zwei von der Gesellschaft benachteiligte Menschen ziehen sich selbst aus dem Morast. Mich stört hier der vorgenommene Perspektivwechsel nicht. Der letzte Absatz gefällt mir, jedoch nicht jener zuvor.

Einige stilistische Überflüssigkeiten oder Ungenauigkeiten könnte man verbessern.

Nicht deutlich wurde mir der Grund der späten Namensnennung der jungen Frau, kurz danach sogar mit Nachnamen. Ich hätte ihn vielleicht schon am Anfang erwähnt oder eben gar nicht.


Interessante Geschichte.

Gruß

Adem

 
Zuletzt bearbeitet:

Moi tierwater,

zu dieser Geschichte fällt mir ein Wort ein: Unordentlich. Das ist jetzt nicht so negativ gemeint, wie es sich anhören mag. Aber ich habe den Eindruck, Du hast zwei Charaktere und Schicksale auf interessante Weise verknüpfen wollen, noch eine Sucht dazu, eine Migrantenstory, Identitätsfindungen, auch das Finden der Liebe (schön: nicht kitschig), und noch etwas gewürzt mit Gesellschaftskritik. Das paßt alles auch zusammen, aber ist chaotisch aufgebaut. Zu all dem kommt, daß Du mal die Innensicht der Frau verwendest (die Musik, die von der Straße zur Prot hochdringt, vor dem Kühlschrank liegen), mal die des Mannes (das Schicksal der Mutter, die Annäherung an die Frau), mal aber den Stil eines übergeordneten Erzählers dominieren läßt (die Männer, die ihr nachschauen, die Ratten, die aufsehen) - oft im selben Satz.

Bei Dir fällt auktorialer Erzähler mit Prot zusammen - das allein gilt offenbar inzw. als verpönt - aber hier fällt er gleich mit zwei Prots gleichzeitig zusammen: drei in eins. Und zwar so, daß es grundlos und unabsichtlich wirkt. Ich erkenne - außer bei dem vagen Wechsel von ihr zu ihm - aber keine ordnende Hand des Autoren, der all diese Perspektiven, Eindrücke und Emotionen in einer Geschichte verknüpft, und sozusagen 'orchesterisiert'. Es liest sich wie eine Idee zu einem Szenenverlauf, die sofort aufgeschrieben wurde, und nicht vorgeplant.

Ist jetzt schwierig, hier Textzitate rauszuholen, weil sich mein Eindruck nicht an Einzelheiten festmacht, sondern am Verlauf. Vllt überleg doch nochmal, was Du genau an welcher Stelle und warum für Eindrücke vermitteln möchtest - ob die Sätze in dieser Reihenfolge dazu geeignet sind, oder besser umgestellt an ganz anderer Stelle wirkten.

Schon für den Einstieg hätte ich mir klarere Sätze gewünscht, und weniger Blickwechsel. Das ist extrem unruhig:

Sie zerknüllte den Briefumschlag, warf ihn zum Altpapier, kopfschüttelnd. Die Sonne blinzelte durch die Vorhänge. Draußen, auf der Straße, zwischen zwei geparkten Autos suchte eine Katze Schutz vor der Hitze. Die laute Musik eines Autoradios drang hinauf in die Wohnung der jungen Frau, sie setze sich an ihren Küchentisch und trank einen Schluck Wasser. Schon wieder eine Absage, dachte sie. Ihre Haare hingen ihr tief ins Gesicht, sie schluckte, stellte ihr Glas an die Spüle und zog sich ihre Schuhe an. Sie musste raus.
Das Altpapier spielt hier eigentlich keine Rolle, und ein einfaches "Sie zerknüllte kopfschüttelnd den Briefumschlag" hätte besser gewirkt - grad für den Anfangssatz.
Dann kommt so ein Blick-Wechsel: Sonne auf sie > ihr Blick auf die Straße > zurückreflektiert: die Musik zu ihr hoch > sie setzt sich (endlich mal Stasis!). Es kommt ein Element der äußeren Handlung/plot hinzu: eine Absage > Rückbezug auf den ersten Satz und Briefumschlag. Dann hängen die Haare (wieder Blick auf sie von außen, ohne Bezug zu allem) > sie schluckt (Innensicht?) > Schuhe an (äußere Handlung/Erzähler) > muss raus (Innensicht). Boa, das ist maximal chaotisch strukturiert.
Einer Geschichte folgt man quasi wie einem gemalten Bild, und die Leserichtung Deines Gemäldes kannst Du in elegantem Schwung variieren, oder aber kreuz und quer kritzeln. Die gesamte Geschichte liest sich wie letzteres.

Ich frage mich, ob das Ganze nicht besser funktionieren würde, wäre eine der beiden Personen konsequent in der Ich-Perspektive erzählt, oder sogar beide - mit einem Erzählerwechsel irgendwo mittig? Dann würde sich zumindest das ständige Hin und Her von Außensicht, Prot-/Settingbeschreibung und Gefühlswelt jeweils aus Innenperspektive beruhigen.

Vllt magst Du ja nochmals ein bissl editieren, und Deine Gedanken ordnen? Würde der story sehr guttun, denn so liest sie sich eher anstrengend als spannend.

Herzlichst,
Katla

 

Hallo Adem und Katla,

danke für Eure Zeilen!

Zuerst zu Katla:

das ungeordnete, unordentliche soll Teil der Geschichte sein, wobei für mich nicht drei verschiedene Erzähler zu Tate schreiten, sondern nur einer, ein allwissender, beobachtender, emphatischer Narrator, der die Vorgeschichte der Beiden, ihre aktuellen Gedanken und auch die Welt, in der sie sich bewegen jederzeit kennt.

einige Sprünge in medias res, dann wieder hinaus, als Stilmittel, um:
- ihr Verlorensein in der Welt, die (die Welt) sie (Christina) scheinbar nicht braucht,
- sein Verlorensein in der Welt, die er ablehnt und die zu seiner inneren Isolation geführt hat, welche ihm gar nicht so recht passt
- die Welt an sich, mit ihren unfairen, ekelhaften und monetären Manierismen

als Ort der solche Handlungen möglich macht, zu definieren.

Bei Dir fällt auktorialer Erzähler mit Prot zusammen - das allein gilt offenbar inzw. als verpönt - aber hier fällt er gleich mit zwei Prots gleichzeitig zusammen: drei in eins.

Wer verpönt denn so etwas? Da bin ich anscheinend unwissend.

Ich finde, in Anbetracht des Titels und auch meiner Intention - denn vom Wort Maschinenstürmer ging alles aus - dass man eine Gesellschaft, in der die jungen Leute ohne Chance sind, weil sie dem Grundmodell einer durchgeplanten Normwelt nicht entsprechen können, oder wollen, und deshalb bereit sind, dagegen vorzugehen, nicht anders, als chaotisch darstellen kann.

Wie auch diesen Satz.... Oh Mann....

einige Ungereimheiten sind natürlich zu viel des Guten.

Ich werde auf jeden Fall noch Änderungen vornehmen, aber nicht heute Abend. (Außer den Rechtschreibefehlern, die mir noch auffallen.)

nun zu Adem:
Bitte nenn mir doch ein paar der stilistischen Ungenauigkeiten und Überflüssigkeiten, würde mir helfen :) Danke

und ihren Namen nehme ich erst auf, als Victor ihn erfährt. Vorher spielt er für das Gesellschaftsbild keine Rolle. Erst als Sie für Victor eine Rolle spielt, wird sie durch ihren Namen personifiziert.

Ich dachte eher, Kritik würde kommen, weil die Geschichte um die beiden etwas zu radikal ist, weil ihre Umstände nicht bei jedermann so drastische Reaktionen hervorrufen.

nun denn, einen schönen Abend noch,

Tierwater

 

Hallo tierwater!

Einzelkritik folgt aus Zeitgründen später. Hier nur ein Beispiel:

Zwei Kerle schauten ihr hinterher, sie spürte deren Blicke auf sich.

Hier ist "deren" entbehrlich und "auf sich", im Grunde sogar der ganze nachgeschobene Halbsatz.

Ohne diese Überflüssigkeiten würde deine Geschichte an Dichte gewinnen und gleichzeitig an (Deutlichkeit in der) Aussage.

Ich dachte eher, Kritik würde kommen, weil die Geschichte um die beiden etwas zu radikal ist, weil ihre Umstände nicht bei jedermann so drastische Reaktionen hervorrufen.

Nee, im Gegenteil, gerade die eher ungewöhnlichen Reaktionen machen deine Charaktere greifbar. Sie weichen wohltuend von dem Klischee der gescheiterten Existenzen ab.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom