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Massenhaltung
Die Dämmerung hatte eben eingesetzt, eine gebeugte Gestalt eilte mit kurzen Schritten auf die Halle am Rande der Stadt zu. Der Parkplatz war leer, alles ruhig, als Professor Brorér das Zahlenschloss am Eingang bediente. Sein rundes Gesicht hatte eine aschgelbe Farbe – Nachtarbeit machte ihn fertig.
Er stieß die schwere Tür auf und ließ sie mit einem Krachen hinter sich zufallen. Es konnte niemand hören, die nächste Ansiedlung war Hunderte Meter entfernt und im Gebäude befand sich um diese Zeit auch keiner. Außer natürlich die Blutsauger und das Schlachtvieh.
Brorér schlurfte den Gang entlang und knipste im Vorbeigehen alle Lampen an, die erreichbar waren. Auch wenn die Produktion hier schon über zwei Jahre lief und der satte Gewinn fast zu hundert Prozent in seine Taschen floss, hatte er um diese Zeit hier immer noch ein unheimliches Gefühl.
Über allem lag eine gespenstische Stille, die – man ahnte es – erzwungen wurde von dicken Mauern und sicheren Türen. Nur seine harten Schritte hallten von den Wänden wider.
Er schloss sein kleines Büro auf und nahm sich drinnen einen Kittel vom Haken, der eher wie die Bekleidung eines Fleischers wirkte – das Blut hatte sich regelrecht eingebrannt in den Stoff. Dann griff er sich vom Schreibtisch ein Klemmbrett mit allen Daten, die er benötigte, und machte sich damit auf den Weg. Fütterungszeit, dachte er missmutig, und wieder fange ich ohne Gregor an. Sein Assistent hatte die Stelle noch keine drei Monate, und hatte sich schon als unzuverlässig erwiesen.
Er trat wieder auf den Flur und ging zu der alles beherrschenden Tür am anderen Ende des Ganges. Es war nichts zu hören, aber er konnte es in seinem Bauch spüren, das mordlustige, hungrige Brüllen der Blutsauger.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte herum und stieß die Tür auf. Sofort überschwappte ihn der höllische Lärm und der Gestank, der von drinnen kam.
64: Die Wissenschaft kann eindeutig beweisen, dass sogenannter Vampirismus, wie er im Volksglauben und in zahlreichen Legenden vorkommt, nicht nur Aberglauben, sondern Tatsache ist. Er stellt sich als eine besonders aggressive Stoffwechselkrankheit heraus, die seit Jahrhunderten existent und nicht auszurotten ist.
Der Lärm war beinahe unerträglich, zum Abend wurden die Biester lebendig. Während im hellen Licht eine totenähnliche Stille über der Halle lag, brach zur Dämmerung ein ohrenbetäubendes Theater los. Es war, als bemerkten die Blutsauger jeden Abend neu, dass sie in Gefangenschaft geraten waren und brüllten ihre Wut hinaus.
Professor Brorér hastete den engen Gang durch die Käfige entlang und versuchte die Schreie und Schläge gegen die Gitter zu ignorieren. Schau keinem in die Augen, niemals! Er schlüpfte in den Stall mit dem Schlachtvieh und schlug die Tür hinter sich zu. Das Quieken der Schweine schien ihm freundlich gegen den aggressiven Lärm draußen. Er knipste das Licht an und das Borstenvieh quiekte noch lauter. Sechzehn hungrige Blutsauger heulten draußen und sechzehn prallgefüllte Tiere warteten hier drinnen.
71: Die ersten Vampire können gefangen werden, man studiert sie und es gelingt, sie mit Tierblut mehr als drei Monate am Leben zu erhalten. Seltsamerweise stirbt jeder Blutsauger nach diesem Zeitraum, egal, was man unternimmt.
Professor Brorér schreibt sein Werk „Vampir – in Freiheit und Haltung“ und schafft damit das Standardwerk über den Vampirismus.
Gregor kam angehastet. Wie immer nachlässig gekleidet und einen gehetzten Ausdruck im Gesicht. Sein strähniges Haar hing ihm ins Gesicht. Er zog sich gerade seinen schmutzigen Kittel über und brachte nur ein „’n Abend!“ über die Lippen.
Er machte sich sofort daran, das Vieh in die Förderboxen zu sperren. Sechzehn Vampire, sechzehn Boxen und sechzehn Schweine.
„Du bist nachlässig!“, knurrte Brorér und er war sicher, dass sein Assistent ihn verstanden hatte. Gregor schob verbissen weiter ein Schwein nach dem anderen in die Gatter. Brorér beobachtete ihn eine Weile, in der Hoffnung, doch noch eine Antwort zu erhalten. Doch sein Assistent blieb stumm.
Und dann der große Augenblick: Das Förderband wurde in Bewegung gesetzt, die Schweine wurden in die Halle transportiert und die Blutsauger wussten, was passieren würde.
In diesem Moment herrschte Stille im Gebäude. Die Vampire schwiegen aus kaum gezügelter Mordlust und die Tiere aus Todesangst, weil sie ahnten, was ihnen bevorstand.
Die Transportboxen kamen vor den jeweiligen Käfigen zum Stehen, die Vampire zerrten an ihren Ketten und brüllten und kreischten. Die Schweine quiekten erbärmlich. Die Hölle, so stellte man sich die Hölle vor.
Professor Brorér betätigte einen Hebel und die Untiere gelangten an die Schweine. Mit einem Male lag nur noch gieriges Schmatzen in der Luft.
„Wir machen unseren Rundgang!“, entschied Brorér.
79: Professor Brorér, die anerkannte Autorität im Bereich des Vampirismus, forscht unablässig weiter auf diesem Gebiet. Es gelingt ihm nicht, das Wesen der geheimnisvollen Blutkrankheit herauszubringen, die den Zustand verursacht. Dafür kann er ein Enzym extrahieren, das von der Niere des Vampirs produziert wird; in den Organen eines gesunden Menschen findet sich dieser Stoff nicht. Er nennt ihn R2H13 und findet kurze Zeit später heraus, dass diese Substanz sich eignet als Basisstoff für ein Opiat, das nur vier Monate nach seiner ersten Herstellung auf den offenen Markt gelangt. Da das Rauschmittel keine unmittelbaren Nebenwirkungen zeigt, wird es schnell zur Partydroge Nummer eins.
Die Vampire schmatzten und schnauften, während Brorér und sein Assistent durch die Reihen gingen.
„Der Stall muss gereinigt werden, Gregor!“
Brorér gab die Anweisung leise, aber mit deutlichem Unterton. „In der nächsten Woche wird eine Kommission der Hygiene-Kontrolle vorbeischauen. Wir haben zwar nichts zu befürchten, aber schlechte Publicity ist genau das, was wir nicht brauchen.“
Er blieb an einem Käfig stehen und schaute aufs Klemmbrett.
„Den habe ich vorgestern erst sauber gemacht. Es reicht doch, wenn ich kurz vorher noch mal drüber gehen.“
„Wenn wir die Besten auf dem Markt werden wollen, dann müssen wir vernünftig arbeiten.“
„Wir sind die Besten!“
„Du hast mich verstanden, Gregor!“
Gregor wagte nicht mehr zu widersprechen, doch aus den Augenwinkeln konnte Professor Brorér erkennen, dass er eine Grimasse schnitt.
Ein weiblicher Blutsauger lag reglos am Boden. Sie keuchte leise und schaffte es kaum, die Augen offen zu halten.
„Ein Totalausfall“, brummte Brorér missmutig. „Wir werden sie abschreiben müssen.“
„Können wir nicht etwas tun?“
„Ja, ja sicher.“ Dem Professor leuchtete ein, dass etwas geschehen musste. „Gleich nach der Fütterung räumen wir sie fort.“
„Aber wir müssen ihr helfen!“
Er schaute Gregor in die Augen. Der Assistent stand ihm mit dem Klemmbrett unterm Arm gegenüber und erwiderte den Blick. Seine Augenlider flatterten.
„Wie meinst du das, ihr helfen? Sie ist ein Vampir! Drei Monate sind um.“
„Aber sie leidet!“ Die Vampirin war dürr bis auf die Knochen, ihre Haut spannte sich über die Gelenke und ihr Haar war stumpf und ganze Büschel waren ausgerissen. Das ihr zugeteilte Schwein war unversehrt.
„Wir können sie doch nicht so sterben lassen!“
„Komm jetzt! Wir kümmern uns später drum!“
81: Die erste Fabrik zur Gewinnung des Stoffes R2H13 geht in Betrieb. Die Haltung der Blutsauger wird nach und nach verbessert; dabei setzt sich das Brorérsche System durch. Es sieht vor, die Vampire während ihrer aktiven Phase – nachts – mit Schweine- oder Rinderblut zu ernähren, und sie während ihrer Starre, in die sie bei Tageslicht verfallen, zu melken. Bei diesem Vorgang muss auf peinlichste Sicherheit geachtet werden, da ein Erwachen des Blutsaugers aus seinem Schlaf nie ganz ausgeschlossen werden kann.
Sie schritten weiter zwischen den Gittern hindurch. Einige der Schweine hatten es aufgegeben, sich zu wehren, ein paar waren schon tot. In der Regel hielten sie nur zwei, drei Tage durch, dann erwies sich der Blutverlust als zu hoch.
„Schau dir den hier an!“ Brorér blieb vor dem Käfig eines riesigen Vampirs stehen. Der Blutsauger war ungeschlacht und von bullenartigem Wuchs, seine Lippen waren wulstig und blutverschmiert. Er schaute den Professor seinerseits ebenso interessiert mit wachen Augen
an.
Ein Moment der Stille, als Brorér und der Vampir sich gegenüber standen. Nur getrennt durch das Gitter. Gregor neben den Beiden wirkte unsicher.
„Siehst du“, knurrte Brorér, während er sein Gegenüber nicht aus den Augen ließ. „Ein Prachtbursche. Er steht gut im Futter, nicht? Der wird bis zum Verfall noch gute Dienste leisten.“
Der Professor legte vorsichtig die Fingerspitzen an die Gitter – ganz sachte und bereit, sie jederzeit zurückziehen zu können. Der Vampir sah sich das ruhig an, ohne jedoch sich zu bewegen. Ein leichtes Grummeln war aus seiner Kehle zu hören.
„So komm’ doch, Gregor! Du wirst doch keine Angst haben?!“
„Nein, nein! Die Biester sind unberechenbar!“
„Das sind sie nicht, Gregor. Er weiß, von wem er sein Futter bekommt. Er ist satt und zufrieden. Und er kann sicher sein, wenn er uns in Ruhe lässt, dass er morgen wieder zu fressen kriegt. – Komm her!“
Er griff in die Tasche und zog den Universalschlüssel hervor. Gregor erbleichte. „Was soll das werden?“
Brorér schloss tatsächlich den Käfig zu dem Vampir auf. Der war jetzt nur noch durch die Kette gesichert und von ihnen getrennt. Brorér ging langsam hinein.
Der Blutsauger war mindestens zwei Köpfe größer als er, und wie er zu ihm herabsah, war sein Blick weder feindselig noch stupide. Es schien tatsächlich, als wüsste er, was vor sich ging und war interessiert, was weiter geschah.
„Komm schon, Gregor! Er tut nichts!“
Gregor schüttelte energisch den Kopf.
Um seine Aussage zu unterstützen, ging Brorér noch dichter an den Blutsauger heran. Er hob den Arm und griff ihm vorsichtig ans Gesicht. Der Vampir ließ es zu. „Siehst du, du bist mein kleiner Schoßhund, nicht wahr? Machst, was ich sage.“ Und zu Gregor gewandt, lauter: „Komm schon!“
Doch Gregor kam nicht. Da sprang Brorér zu ihm und griff ihn mit nicht geahnter Kraft, schleuderte ihn herum und stieß ihn mit Macht zu dem Vampir in den Zwinger. „Dich werde ich lehren, zu gehorchen!“, brüllte er.
Der Vampir packte mit eisenharter Hand Gregors Körper und zog ihn zu sich herauf, als wöge der nichts. Es knirschte, als er seine Zähne in den Hals schlug. Und Gregor kreischte und wehrte sich panisch. Doch dem Griff des Untiers konnte er nicht entkommen. Es dauerte keine drei Minuten, da sank der Assistent tot zu Boden.
Brorér wandte sich ab.
Er nahm sein Klemmbrett zur Hand und notierte sich etwas. „Ein Unfall“, murmelte er, während er fortging. „Man kann nicht vorsichtig genug sein!“
83: Professor Brorér macht die Entdeckung, dass Vampire, wenige Stunden nachdem sie Menschblut zu sich genommen haben, den Stoff R2H13 in höchster Konzentration produzieren können.
Auf dem Schwarzmarkt – die Fütterung von Vampiren mit Menschenblut ist strengstens verboten – erzielt die Droge exorbitante Preise.