Mathildes Besuche
Mathildes Besuche
Manchmal kommt sie mich noch besuchen. Aber ihre Besuche sind seltener geworden.
Den Schwestern nach ist sie noch immer fit wie ein Turnschuh. Sie läuft und läuft und läuft und Niemand kann sie bremsen, trotz Gehilfe. Sie haben irgendwann damit begonnen, ihr kleine, unbedeutende Botengänge aufzutragen, um sie bei Laune zu halten. Fallen gerade Keine an, ist sie zappelig. Kann keine zehn Minuten still sitzen. Findet immer einen Grund, wieder los zu laufen, etwas zu holen oder weg zu bringen, einen Nachbarn zu besuchen oder die Schwestern nach dem Befinden von Diesem oder Jenem aus zu horchen.
Typisch Mathilde. So war sie schon immer. Zappelig und hilfsbereit. Nie hat sie zur Ruhe gefunden. War nur glücklich, wenn sie unterwegs war und Menschen treffen, plaudern und natürlich von einem Ort zum anderen laufen konnte.
Mathilde.
Ich bin sehr froh, dass es ihr gut geht. Nur zwei Etagen trennen uns voneinander, ein kurzer Besuch ist jederzeit möglich. An sonnigen, warmen Tagen lassen die Schwestern sie auf eine weitläufige Terrasse hinaus. Dort kann ich sie jederzeit von meinem Balkon aus sehen. Kann ihr zuschauen, wie sie von einer Dame zum nächsten Herrn rennt, den Schwestern die Rollstühle aus den Händen zerrt und los läuft, wie sie lacht und plaudert. Ihr Lachen klingt noch immer schön. Es ist nicht mehr so hell und schallend wie früher, aber doch noch wunderschön. Auch ihr Haar flattert noch immer wirr im Wind. Und obwohl es mittlerweile schlohweiß ist, habe ich noch immer das Bedürfnis, die Bewegungen ihrer Haare mit einer Kamera festzuhalten. Ihr Lachen zu fotografieren. Mathilde eben.
Mathilde.
In letzter Zeit besucht sie mich seltener. Eigentlich nur noch, wenn sie zufällig bei ihrem täglichen Rundspaziergang auf meiner Etage landet und die hiesigen Schwestern sie auf mich aufmerksam machen. Dann wuselt sie in meinem Zimmer umher, räumt ein bisschen auf, versucht, knappe fünf Minuten still zu sitzen und über das Wetter zu reden, lächelt und läuft wieder los. Nichts kann sie halten. Nicht einmal mehr ich.
Nach jedem ihrer seltenen Besuche mache ich mein Bett zurecht und versuche zu schlafen. Ich konnte schon immer schnell einschlafen. Wenn ich schlafe, muss ich nicht an ihr Lächeln denken. Nicht daran denken, dass es nur ein Lächeln und kein Lachen ist. Und dass ich schon seit rund sieben Jahren keinen Fotoapparat mehr besitze.
Ihre Besuche werden irgendwann ganz aufhören.
Aber das macht nichts. Sie ist da unten auf der D1, der Demenzstation, und ich kann jederzeit ihr Lachen hören, wenn ich es möchte. So, wie ich es auch neunundvierzig Jahre lang zuvor getan habe. Immerhin ist sie glücklich, auch ohne mich zu erkennen.
Ihre Besuche werden spätestens dann aufhören, wenn ich auch den Pflegeschwestern meiner Station klar gemacht habe, dass es einfach zu sehr weh tut, meine Frau zu Besuch zu haben. Immerhin ist sie glücklich, auch ohne mich zu erkennen.
o3.o9.2o1o, Demex