Matti der Clown
Matti der Clown war ob seiner leicht kriechend wirkenden Gangart, die auf einen Knorpelschaden im rechten Knie zurückzuführen war, schon von weitem zu erkennen. Der winzige Knorpel unter der in blasser, schaler Haut gefangenen Kniescheibe, rieb bei jedem Schritt winzige, millimetergroße Knochenstücke ab, die sich in ent- und anspannenden Muskeln und Sehnen einen Weg durch Fett- und Gewebeschichten bis in Mattis Herz bahnten. Durch die pochenden Schläge des Pulses pumpte es Phosphor, Wasser, Ossium, Kalzium, Magnesium, Eisen, Kalium, Natrium, Chlor und Flour in den Blutkreislauf bis hinauf in das von Schädelknochen geschützte Hirn. Mattis, von zahlreichen Spaziergängen im Regen schon etwas heruntergekommenen, mit kleinen, sich kräuselnden Wollfusseln gespickten Filzhut, zierte an der Oberseite ein Flicken, den er im Park gefunden hatte. Dieser verdeckte ein Loch, das eine Zigarette brannte, weil ein Reisender sie am Bahnsteig versehentlich in den Hut, anstatt in einen der herumstehenden Aschenbecher gedrückt hatte. Unter dem Hut quoll rötlich verfilztes Haar hervor, das er – obgleich er Shampoo besaß - seit Monaten nicht gewaschen hatte. Seine abgewetzte Latzhose war an den Enden ausgefranst, aus denen zwei Füße in zu groß geratenen Schuhen einen Schritt vor den anderen taten.
Matti war auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch. Am Morgen hatte er - an der Stelle der Zeitung, auf die ein dicker Klecks Nuss-Nougat Creme getropft war - die Annonce gelesen:
„AVD ist einer der führenden unabhängigen Finanzdienstleister in Europa. Unternehmerische Vision, Strategie und Unabhängigkeit sind unser Wettbewerbsvorteil. Innovative, engagierte Führungskräfte und Mitarbeiter sind Garanten für unseren profitablen Wachstumskurs und den außergewöhnlichen Konzernerfolg. Im Rahmen der weiteren Expansion suchen wir bundesweit Finanzberater/Financial Planner (m/w). Sie genießen alle Vorzüge der Selbständigkeit, unterstützt durch unser Erfolgs-Know-how.“
Mattis Vater war Bergmann gewesen und trotz der widrigen Arbeitsbedingungen und einer Staublunge erst mit 92 Jahren gestorben. Kurz vor seinem Tod hatte er erfahren, dass Matti professioneller Trampolinspringer werden wollte, was er mit lautem Lachen quittierte. Mattis Mutter hatte Zeit ihres Lebens in einer Krankenhauskantine das Essen ausgeteilt. Bereits mit fünfzehn hatte sie auf den Rat ihrer Tante hin, die in selbigem Krankenhaus Oberschwester war, die Stelle als Küchenhilfe angetreten. Nach einer Zeit des Waschens, Schneidens, Kochens von Gemüse, dem Zerlegen von großen Fleischstücken und dem Rühren in riesigen Töpfen, wurde sie zur Essensausgabe befördert. Dort lernte sie an einem sonnigen Maitag Mattis Vater kennen, der wegen seiner Lungenkrankheit behandelt wurde und das Fleisch immer ohne Beilagen aß.
Matti kannte das Krankenhaus ebenso gut wie sein kleines Zimmer, an dessen Wänden er mit Handmalfarbe zwei große Pinguine gemalt hatte. Die Schwestern, beim Schieben von alten Frauen und Männer in Rollstühlen, erinnerten ihn immer an Pinguine. Wenn im Winter Schnee auf dem kleinen, mit Zierrasen bepflanztem Rondell vor dem Krankenhaus lag noch mehr.
Hans der Portier steckte Matti immer einige Bonbons zu, nicht ohne ihm jedoch vorher ein kleines Gedicht abzuringen. Sein Lieblingsgedicht hatte Matti aus einer Kinderzeitschrift. Es handelte von einer Biene, die immer fleißig war und ständig Töpfe mit Honig nachhause brachte. Matti fragte sich manchmal, ob Pinguine Honig essen oder ob ihnen, wie Hans immer sagte Fisch völlig ausreiche.
Er hatte sich die Adresse der Firma mit einem gelben Filzstift auf ein weißes Papiertuch geschrieben. Da er dieses immerfort aus der Tasche zog, um sich der Anschrift zu vergewissern, und sich durch das Laufen schon kleine Schweißperlen auf seiner Stirn wie auch in seiner Handfläche bildeten, war die Schrift nur noch schwer lesbar. Zudem machte ihm die Theaterschminke zu schaffen, die durch den Schweiß anfing sich zu lösen, zu einem Tropfen aus Talg und Wasser zusammenklumpte, wie eine kleine Murmel dem Loch entgegenkullerte, um anschließend als kleines Rinnsal, dann als wilder Bach, der sich dem Abgrund nähert, Mattis Gesicht hinunterlief. Die Sonne tötete gerade einen Regenwurm, der es nicht mehr bis zu der rettenden, unter dem Schatten einer Buche, mit Halmen bewachsenen Erde geschafft hatte. Wenn Regenwürmer durch einen scharfen Gegenstand durchtrennt werden, leben beide Hälften weiter, jede verfügt über ein für sich selbständiges Dasein. Trennt man wiederum diese beiden Hälften, ist es aus.
Ein Auto hupte und Matti stolperte beinahe über eine alte Frau die einen Dackel an der Leine führte - vielleicht war es auch umgekehrt.
Ein Glöckchen am Halsband des Dackels, der wie ein Tausendfüssler wirkte, baumelte wild hin und her und das aufgeregte Klingen mischte sich mit dem spitzen Bellen des Hundeinsekts und dem „Passen sie doch auf“ der alten Dame.
Ihre Nase wippte vor Zorn auf und nieder und erinnerte Matti an den Schnabel eines Vogels. Er schlurfte weiter. Den Adresszettel steckte er nun nicht mehr in die Tasche, sondern verbarg ihn, wie ein Papier, das darauf wartete, weggeworfen zu werden, in seiner feuchten Hand. An einer Kreuzung musste er halt machen, da die Fußgängerampel gerade auf Rot schaltete. Auf der anderen Seite, die durch die Hitze, die der schwarze, zähe Teer aufsaugte, als verschwommen wabernde Parallelwelt wirkte, standen zwei mit Anzügen gekleidete Männer, die beide, war das Zufall?, einen Koffer an ihrem linken Arm hängen hatten. Nein, ihr linker Arm hing an dem Koffer, er war die treibende Kraft, die, als die Ampel wieder auf Grün raste, ähnlich dem Dackel an der Leine, vorneweg zogen und schon auf Mattis Seite angelangt waren, als er sich daran machte, die Strasse zu überqueren. Die Mitte der Strasse erreichend, gerade das flimmernde Tor durchschreitend, schaltete die Ampel wieder auf Rot.
Mattis Karriere als Trampolinspringer war jäh beendet worden. In einer Turnhalle deren alter, sich durchbiegender Holzfußboden bei jedem Schritt knarrte, saßen an der zum einzigen Fenster zugewandten Wand, an einem Tisch, über den eine rot-weiß karierte Wachstischdecke gespannt war, drei russische Trampolinikonen aus Saransk, jeweils mit einem kleinen, breiten Becher vor sich, aus dem Dampf stieg, der langsam und nebelähnlich über das riesige Trampolin trieb, das die Halle fast ausfüllte.
Der Geruch von schwarzem Tee mischte sich mit dem von Magnesium und Körperausdünstungen junger Turner.
Mattis trat an das Trampolin heran, kletterte über eine Empore empor, tastete sich zaghaft vorwärts und begann auf dem riesigen Segeltuch langsam, langsam schneller, zu wippen, zu wippen. Absprung, Salto, Drehung, Schwindel, Absprung, Drehung, die Russen im Augenwinkel, Absprung, Teegeruch, Absprung, Drehung, Absprung, Absprung, Drehung, eine Fliege, eine Fliege, Schlagen, Absprung, Wedeln, Schlagen, Drehung, Drehung, Verdrehung, Schmerz, Fall. Matti hatte – just in der Luft hängend - versucht nach einer Fliege zu schlagen, die in seine Flugbahn eingedrungen war. Mit der einen Hand nach der Fliege schlagend, mit der anderen, das Gleichgewicht zu wahren versuchend, den Blick halb auf die Fliege, halb auf die Juroren gerichtet, schlug sein Knie an das Kinn, stürzte er, mit dem Rücken zuerst, in die Tiefe, prallte auf, wurde durch die Kraft der riesigen Federn, die das Tuch auf Spannung hielten nach vorn katapultiert und landete mit voller Wucht auf dem Tisch mit der Wachstischdecke, der daraufhin zerbarst. Die Becher schleuderten in alle Richtungen und der heiße Tee übergoss die russischen Juroren.
Er kratzte sich am Kopf und schlich weiter. Vor ihm baute sich ein in den Himmel ragender Klotz auf, der durch die schwarz funkelnden Fenster sehr ernst auf ihn wirkte Er malte sich aus, wie sein Leben als künftiger Finanzberater vonstatten gehen würde. Er sah sich in dem schwarzen Klotz im Fahrstuhl stehen, Blicken ausweichen, seine Clownsfliege zurechtrücken und auf die große Taschenuhr ohne Zeiger blicken. Die Plastikblume, aus der nach dem Drücken eines Gummiballs Wasser spritzte, zierte das Emblem seines künftigen Arbeitgebers.
Um seriöser zu wirken würde er bei den Kunden klingeln und schnell die Clownsnase aufsetzen, auch um den unangenehmen Moment überbrücken, der zwischen dem Niederdrücken des Klingelknopfes, den Schritten auf der anderen Seite und dem Öffnen der Tür entstünde.
Er würde leicht mit dem Fuß scharren, sich räuspern und mit einem traurigen Blick dem Gegenüber erläutern, warum er gekommen war. Dieser würde ihn hineinbitten, ihn auffordern, in der Stube auf einem Sofa Platz zu nehmen. Die Frage nach dem Kaffeewunsch würde er bejahen und nachdem sich auch der potentielle Kunde gesetzt hätte, würde er ein Bild loben, seine Tröte auspacken und zu spielen anfangen, laut hechelnd und krächzend. Nach dem dritten Lied würde der Kunde hocherfreut seinen Stift zücken, an der mit einem Kreuz markierten Stelle ein, zwei Unterschriften setzen und sich über das schöne Geschäft freuen. Matti würde ihn beglückwünschen, schnellen Schlucks den zu starken Kaffee herunterkippen, sich entschuldigen, er müsse weiter, mit dem in der Hand versteckten, elektrische Schläge austeilenden Gerät unter kurzem Zittern die Hand seines kurzzeitigen Gastgebers drücken und das Haus verlassen. Wieder an der Luft würde er auf sein Einrad steigen, die Tröte auf den Rücken schnallen und zum nächsten Kunden fahren.
Matti hatte sich die Adresse mittlerweile gemerkt. Die Hausnummer des kleinen blauen Industriecontainers vor dem er nun stand, stimmte mit der auf dem Zettel überein, wenngleich sie auch nicht mehr lesbar war. Da kein Klingelschild angebracht war, öffnete er mit einem kräftigen Ruck an dem an der Vorderseite hervorragenden Hebel, unter krachendem Lärm und Quietschen, die beiden schweren Türen.
Ein heller Schein fiel in die Ecken des Containers, kleine Staubkörnchen wirbelten durch den herein ziehenden Luftzug auf. Langsam gewöhnten sich die durch den Schweiß brennenden Augen an das Zwielicht. Schemenhaft, erst die Konturen, dann Farben und Gesichtszüge entschlüsselnd, erkannte Matti sein Gegenüber. Am Ende des Containers saßen drei russische Finanzberater aus Saransk, die, als sie Matti erblickten, ihren Tee in Sicherheit brachten.