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Mehr als Durchfall

sak

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21.10.2008
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Mehr als Durchfall

Ich saß in der hintersten Reihe, da hast du den Überblick, dachte ich mir, das war immerhin Afrika.
Nun versuchte ich mich an den Rückenlehnen der Sitze durch den Mittelgang nach vorne zu hangeln. Bei vielen war das Polster aufgeplatzt, aus den Öffnungen quoll Schaumstoff hervor.
Vermutlich fuhr der Fahrer derartig schnell in der Hoffnung, so über die zahllosen Schlaglöcher fliegen zu können. Vergeblich. Das Fahrzeug drohte jeden Moment auseinanderzubrechen.
„Toilet, hello, toilet please!“ sagte ich kaum hörbar als ich es endlich nach vorn geschafft hatte. Ich versuchte es nochmal, schrie schließlich gegen das Motorengeräusch an.
Er hielt auf offener Straße.
Ich rannte auf ein Gebüsch zu, keine Blätter, nur Dornen, wirkliche Deckung bot es nicht. Eine Sekunde verzweifelte ich an der Frage, wie rum ich mich denn nun hinhocken sollte, im letzten Moment riss ich die Hose nach unten. – Was für eine Befreiung.
Die Erde vor mir war rissig, es hatte lange keinen Regen gegeben, weiter vorne auf einer Fläche stand ein toter Baum, das Holz war kohlschwarz.
Die Fahrbahn war den Rest der Busfahrt vollkommen leer, nur einmal stand ein Mann auf einer Anhöhe neben der Straße. Er hielt ein schwarzes Kästchen mit einer überlangen Antenne in beiden Händen, drehte sich hin und her, schien etwas im Himmel zu suchen.
Es ging hinauf in die Berge, die Straße wurde immer schmäler, und am Ende eine Sandpiste. Wir hielten auf einer weiten Ebene. Noch bevor der Fahrer sich nach mir umdrehte, wusste ich, dass ich da war. Außer mir stieg niemand aus. In einiger Entfernung standen mehrere weißgestrichene Baracken, dahinter die Berge. Ich stapfte durch den roten Sand, in meinem Rücken das sich entfernende Dröhnen des Busses.
Aus einer der Baracken trat ein Mann, groß, eine Glatze geschoren wie scheinbar alle hier. Sein schwarzer Kopf glänzte in der Sonne. Während er auf mich zukam, klopfte er die Hände an der Hose ab.
Du bist Mark?, rief er schon von weitem in akzentfreiem Deutsch.
Julius, sagte ich verwirrt.
Ich bin Timo, er reicht mir die Hand, drückt fest zu.
Er zeigte mir mein Zimmer. Da stand eine Metallpritsche und in einer Ecke ein Eimer.
Am besten du streichst erst mal die Duschen, sagte Timo. Wir standen wieder auf dem Platz zwischen den Häusern. Ich hatte erwartet, ich würde mit den Kindern ... Morgen lernst du Herrn Hinrichs kennen. Er wohnt da vorne, Timo zeigte auf eine der Baracken, die größte, die Fenster waren mit Metallläden verriegelt.

Tags strich ich nun Duschen. Duschen, das waren vielmehr Betonkabinen, nach vorne offen, hinten ein Loch damit das Wasser ablaufen konnte, das Wasser musste man sich in einem Eimer selbst mitbringen.
Zum Malen hatte ich nur einen Handpinsel und die Farbe, die ich benutzte war mehr eine Art Lack, jeder Fleck schien durch, egal wie oft man überstrich.
Macht nichts, sagte Timo als er am Nachmittag des zweiten Tages in die Duschen kam, macht überhaupt nichts. Er drehte sich schon wieder um zum gehen.
Wann fange ich eigentlich an mit den Kindern zu arbeiten?, fragte ich ohne von der Arbeit aufzusehen.
Herr Hinrichs ..., er zeigte mit einem schlackernden Zeigefinger über seine Schulter und ging.
Es war heiß, besonders in den Kabinen. Tag für Tag gab nichts, was das Blau des Himmels trübte. Unten lag die rote Sandfläche, die weißen Baracken. Die Tür einer Baracke stand offen ...
Die einzige Gelegenheit, wo ich die Kinder sah, außer wenn eines an den Duschen vorbei auf die Toilette huschte, war beim Essen. Im Esshaus standen die Tische in langen Reihen. Eine kleine Köchin verteilte mechanisch das Essen. Meist gab es weißen Brei. Auf jedem Tisch stand ein Plastikfläschchen mit etwas Rotem darin, es hatte keinen Geschmack aber viel Schärfe.
Ich saß inmitten der Kinder, sie sahen kaum auf, tunkten Brei in die Soße. Keiner sagte ein Wort, nicht mal das Klappern von Alugeschirr, es gab kein Besteck nur Schmatzen. Mein Durchfall abends war wie Wasser.
Die Hitze in den Duschen wurde unerträglich. Im feuchten Lack blieben über Nacht zahllose Insekten kleben, eine Gottesanbeterin vollführte ganz langsam Tai Chi.
Ich begann zu zählen, wie viele Leben ich retten musste, um sowas zu rechtfertigen. Bei 459 hörte ich auf. Vom Schulhaus tönten die Sprechchöre der Kinder, tageintagaus Sprechchöre, sonst nichts. Man konnte nicht mal Mädchen und Jungen unterscheiden, alle hatten die selben kurz geschorenen Haare, und dann immer Brei tunken, kauen, Brei tunken, kauen. Das machte mich fast verrückt.
Ich musste das Malern öfters unterbrechen. Kleine schwarze Fliegen stoben aus dem Loch, wenn mein Durchfallstrahl platschend unten aufschlug, die Fliegen setzten sich auf die Wände, ihre Flügel hatten die Form kleiner Herzen. Ich dachte an Plumpsklos, die Alpen, kühle Bergluft. Oh, wie das beruhigte.
Ich wurde jeden Tag schwächer, doch ich traute mich nicht etwas zu sagen. Ich war schließlich hierher gekommen, um zu helfen, jetzt konnte ich doch nicht selbst hilfsbedürftig sein.
Am Abend musste ich mich das erste mal übergeben.

In Zeitlupe flogen weiße Wolkenfetzen am Himmel entlang. Die Tür einer Baracke stand etwas offen. Vor der Tür lag etwas im Sand, ich konnte es nicht erkennen ...
Als ich mit den Duschen fertig war, kamen die Toiletten. Sie sahen genauso aus wie die Duschen, nur war dort ein etwas größeres Loch in der Mitte, zwei Betonsockeln daneben.
Hier mischte sich der Lackgeruch mit dem vollen Geruch gärender Kacke. Herrn Hinrichs hatte ich noch immer nicht kennengelernt.
Ich stand grade halb über dem Loch einer Toilettenkabine und bemalte die Decke, als es wieder einmal kam. Doch ich weigerte mich, das war zuviel Output. Ich presste meine Lippen fest aufeinander und malte einfach weiter. Da warf es meinen Oberkörper gewaltsam nach vorne, und aus meinen Nasenlöchern schoss farbloser Schleim.
Ich nahm mir schließlich sogar vor, Timo etwas von meinen Problemen zu sagen. Doch als ich ihn am Abend zufällig traf, hob ich nur die Hand und sagte: Hi.

An einem Morgen fand ich mich unter einem Berg schmutziger Wolldecken wieder. Ein Ventilator, den ich zuvor nie bemerkt hatte, drehte sich an der Decke. Mir war eiskalt, um mich herum, unter den Wolldecken war über Nacht eine Polarlandschaft entstanden. Das lag bestimmt an diesem Ventilator. Mein Schweiß war Schmelzwasser. Ich träumte seltsame Sachen, zum Beispiel Timo, der sich über mich beugte, mit einem Kopf, der so groß war wie ein Ballon.
Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass der Ventilator wie ein wild gewordener Vogel im Zimmer herumflatterte ohne jeden Ton. Ich bekam Angst, er könnte mir das Gesicht zerschneiden, wälzte mich aus dem Bett, robbte zur Tür, mein ganzer Körper war wie aus Wasser. Ich stieß die Tür auf, der rote Sand draußen leuchtete.
Wenn Timo jetzt da wäre, ich würde sagen, würde ich ...
Die Wolken am Himmel waren dichter geworden. Dann waren die ersten Tropfen gefallen, und schon war es ein einziges Schütten. Der regennasse Sand war violett. Auf der violetten Fläche standen mehrere weiße Baracken. Die Tür einer Baracke stand offen. Vor der Tür lag etwas im Sand, das war ja ich, nun konnte ich es erkennen.

 

Hallo sak,
du meine Güte, was für ein Albtraum! Die Geschichte fand ich sehr gut, konnte mich gar nicht lösen. Da steckt unter Umständen selbst Erlebtes dahinter, oder? Eine Bekannte von uns war mal als Entwicklungshelfer in Afrika und das hier kommt ihren Berichten ziemlich nahe, Aber zurück zum Text: die knappe Sprache habe ich als sehr angenehm und passend empfunden, die Verwirrtheit des Prots und die ganze gespenstische Situation kommt dabei wunderbar herüber.
Durch das Thema ist es eben auch nicht so eine 0815 Geschichte, die man gleich wieder vergisst.

Viele Grüße,
Sammamish

 

Hallo sak,

im Gegensatz zu rueganerin kann ich es nachvollziehen, wie es ist, zu frieren und gleichzeitig zu schwitzen. "Kalter Schweiß", übrigens ein äußerst unangenehmer Zustand, den ich nicht näher beschreiben möchte und auf den ein normaler Mensch getrost verzichten kann.

Die Beschreibung der körperlichen Zustände kommt gut bei mir an, alles schon mal da gewesen, in irgendeiner Form, u.a. auch in Afrika. Deshalb fühle und leide ich richtig mit. Auch die Szene, als der Bus mitten im afrikanischen Nirgendwo anhält, damit man pinkeln kann, kommt mir sehr bekannt vor.

Ist ein interessantes Thema, auch wenn sonst nicht viel passiert in Deiner Geschichte.

LG
Giraffe.

 

@rueganerin
vielen Dank für Deine konstruktive Kritik. Ich bin niemand, der sich gegen kritische Anmerkungen rechtfertigt, weil ich keinen Sinn darin sehe: jemandem ist etwas an einem Text aufgestoßen, eine nachträgliche Erklärung oder Rechtfertigung macht da auch nicht wirklich was wett, denn letztendlich muss der Text es auch ohne die Anmerkungen und Ausführungen des Autors schaffen. - Äh - eine ganz kleine Sache will ich aber dennoch anmerken: "öfters" gibt es schon, nicht nur im meinem Text, sogar im Duden (ist dort "landsch.", aber das ist wohl kein Kriterium. Es gibt sogar "öftest" oder "am öftesten". Das hört sich mal wirklich komisch an, oder?)

@sammamish
vielen Dank für Deine lobenden Worte, das beglückt mich sehr.
Zu deiner Frage: ja, da steckt Selbsterlebtes dahinter jedoch nur ziemlich eingeschränkt (ich hatte in Afrika noch nicht einmal Durchfall).


@giraffe
zu sagen, dass es mich freut, dass mein Text in Dir eigene Erlebnisse wachgerufen hat wäre ja irgendwie gemein - trotzdem, freut mich sehr, vielen Dank.

Beste Grüße

sak

 

Hallo sak,

schön mal wieder eine Geschichte von dir zu lesen, du scheints genau meinen Geschmack zu treffen, was hier irgendwie nicht so oft vorkommt.Die Geschichte hat mich so gefangen genommen, dass sie sogar durch meine Träume geisterte!!
Nur eine kleine Anmerkung:
"In einer Ecke stand eine Metallpritsche und in der Ecke ein Eimer"
Die doppelte Ecke in diesem Satz ist störend, besser fände ich "Da stand eine Metallpritsche und in der linken/einer Ecke ein Eimer."

Lg
sonderbar

 

@sonderbar
da werden gleich literweise an körpereigenen Glücksdrogen ausgeschüttet - bis in Deine Träume - traumhaft.
Und mit der "Ecke" hast Du absolut recht.
Vielen Dank
sak

 

Hallo sak,
eine wunderbare Geschichte, vielen Dank!
Deine Bildsprache ist stark: Eine Gottesanbeterin verreckt gerade im Lack und ihr Sterben erinnert an Tai Chi, selbst die Scheißfliegen haben noch herzförmige Flügel, alles nimmt dein P. inmitten von Fäulnis und Hitze wahr. Die Beschreibung der Betonkabinen mit dem Loch im Boden, die kein Anstrich der Welt menschenwürdig machen kann, bleibt haften, ebenso die drastische, aber nicht reißerische Beschreibung der Erkrankung Deines P. Und dann die Kinder, die fast wie Komparsen in der erbarmungslosen Kulisse agieren. Es ist die furchtbare Schlichtheit, die Deine Geschichte so gut macht.
LG,
Jutta

 

@Jutta,
was soll ich da noch sagen? Ganz vielen Dank für Deine mehr als freundlichen Worte. Bezüglich der Schlichtheit: ich bin - nachdem ich lange überschwülstig geschrieben habe - erst in jüngerer Vergangenheit auf den Schlichtheits-Trip gekommen. Bedingt haben das Selbst-Beobachtungen bei eigenen Leseerfahrungen: ich habe gemerkt, Schwulst will ich doch selbst nicht mal lesen, also ...
Nochmal Danke und beste Grüße
sak

 

Hallo sak

So macht lesen Spaß. Schnörkellos, nackt und doch die Phantasie anregend. Alles ist so nachvollziehbar. Selbst im Verfall, im Elend, in der Not, im Mangel kann eine Poesie liegen und die hast so sehr gut getroffen, ohne aufgesetzt zu wirken. Bravo.
Liebe Grüße
Detlev

 

Hallo sak
Ich möchte mich Detlev anschliessen, er hat es treffend formuliert.

Ich laboriere im Moment an einer Darmentzündung rum, das gibt der Geschichte den passenden "Fühlbarkeitsrahmen".
Dein Text baut mich sogar auf, denn so schlimm wie deiner Prota geht's mir bei weitem nicht. Aber das ist jetzt schon wieder eher was für den Jammer-Thread ...
;)

Gruss.dot

 

Lieber Detlev, lieber dotslash,
vielen Dank für euer Feedback - so macht mir auch Schreiben Spaß, wenn wirklich etwas anzukommen scheint; das ist ein ganz neues Gefühl für mich (und seiens die eitrigsten Enddarmpusteln, welche beim Lesen nochmals aufgehen - das macht mich glücklich!).
Nichtsdestoweniger natürlich die besten Genesungswünsche an dotslash von
sak

 

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