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Mehr nicht
Mit Plastiktragtaschen bepackt kämpfe ich mich durchs Raucherabteil und erreiche vor den anderen das Nichtraucherabteil. Ich kann mir einen freien Platz ergattern und stelle zufrieden die Taschen auf den Sitz neben mir. Ein Kapuzenpulli, eine Manchesterhose, ein Paar Schuhe und ein T-shirt habe ich heute auf meiner Shoppingtour erbeutet. Einkaufen macht ganz schön müde, muss ich immer wieder feststellen, meine Beine sind schon schwer. Trotzdem bin ich rundum zufrieden – ach ja, da ist ja noch die neue CD im einer Tasche. Ska-P. Geil. Eifrig hole ich sie hervor, packe sie aus und stecke sie in den Discman.
„...Estás en el planeta eskoria... bienvenido en el planeta eskoria... willkommen auf dem Planet der Schlacke..“ dröhnt es durch die Stöpsel.
Der Wagon füllt sich nach und nach. Ein junger Mann setzt sich mir gegenüber hin. Hm, den kenne ich doch. Vielleicht kommt der aus dem gleichen Provinzkaff wie ich. Auf der anderen Seite ein Banker im Anzug mit seinem Notebook, weiter vorne ein Asylbewerber mit seiner Frau. Jedenfalls sieht er so aus, so wie ein Obdachloser mit seiner schmuddeligen braunen Jacke. Die Frau neben ihm hat einen schwarzen Hut auf, wie ihn peruanischen Indiofrauen tragen. Ich schliesse die Augen und döse ein wenig.
„...Festejo criminal... vergüenza! ... Verbrecherisches Fest... Schande!“
Irgendjemand grölt laut durch den Zug, sodass ich es durch die Musik hören kann, es klingt nach einem Betrunkenen. Jetzt grölt er, lauter als vorher, als herrsche er jemanden an. Ich öffne meine Augen. Es ist der Asylbewerber, kein Wunder, denn auf dem aufklappbaren Tischchen stehen drei Dosen Bier. Er schreit seine Frau an, die sich demütig duckt und etwas in einer anderen Sprache wimmert. Er brüllt immer noch, aber niemand sagt etwas. Nur Blicke, kurze Blicke, die „Wir sind hier in einem öffentlichen Zug, beherrschen Sie sich bitte, es gibt hier noch andere Leute als Sie“ zu sagen scheinen. Doch die Blicke wenden sich schnell und diskret ab, man tut so, als ob nichts geschähe. Also wendet sich der Mann im Anzug wieder seinem Notebook zu, mein Gegenüber hat inzwischen auch den MP3-Player hervorgeholt und ich versuche weiter zu dösen.
„...Pasa la vida y todo sigue igual... igual... Das Leben vergeht und alles bleibt gleich... gleich...“
In der nächsten Station steigt eine junge Frau ein und setzt sich neben den jungen Mann, den ich von irgendwo kenne. Auch sie schaut kurz hinter, als der Mann wieder anfängt zu brüllen. Er ist ganz rot im Gesicht, nicht wie eine Tomate, eher wie ein Stück Rindfleisch und genauso unförmig. Irgendwie hat er einen irren Blick. Vielleicht liegt das daran, dass seine Augen blutunterlaufen sind, so rot wie sein Gesicht. Er schikaniert seine Frau vor allen Passagieren und schlägt sie, nicht fest, aber trotzdem. Sie versucht ihn zu beruhigen, aber er ignoriert ihre flehenden Worte. Er wirft ihr einen abschätzigen Blick zu und schnauzt sie an, mit den Armen herumfuchtelnd, die wie Propellerflügel gefährlich nahe am Kopf der Frau vorbeikreisen.
Langsam frage ich mich, wieso niemand etwas unternimmt, das kann doch nicht die ganze Zugfahrt so weitergehen! Schliesslich will ich meine Ruhe - ich ertappe mich dabei, wie ich in erster Linie an mich denke. Wie muss es den der Frau dort drüben in diesem Moment ergehen! Jemand muss doch mal was tun. Wieso tust du es nicht selber, fragt eine Stimme in mir. Ich? Ich soll dem Kerl meine Meinung sagen? Was geht mich das an? Und doch, mein Magen krampft sich leicht zusammen, mir ist nicht ganz wohl zumute.
Jetzt sitzen wir schon bald eine Stunde im Zug. Ich habe bewusst die Musik etwas lauter gestellt, um mich von diesem Mann abzulenken. Aber ich hasse es, wenn ich im Zug sitze und immer woanders hinblicke, nur nicht die Blicke der anderen Mensche treffen will. Wieso eigentlich? Ein paar Minuten bis zur Endstation. Einige Tobsuchtsanfälle vom Mann mit dem roten Gesicht. Einmal ist er sogar aufgestanden und hat sie von oben herab angebrüllt, als habe er das Gefühl König zu sein. König und Untertan, oder vielmehr Sklave. Seine Frau muss fürchterliche Angst haben, Angst davor, dass er ihr sonst Gewalt antut. Aber gerade jetzt, in diesem Augenblick, in dem sie sich fürchtet, genau da tut er ihr Gewalt an, die noch viel zerstörerischer ist. Wie würde ich an ihrer Stelle handeln, würde ich das Ende mit Schrecken oder das Schrecken ohne Ende wählen?
Inzwischen hat er zwei der Bierdosen umgestossen, die Flüssigkeit, die mich an Urin erinnert, ergiesst sich auf den grüngemusterten Boden und bildet eine schaumige Lache. Die Frau ist den Tränen nahe. Eine verzerrte, mechanische Stimme kündigt die Endstation an und bittet alle Fahrgäste auszusteigen. Ich packe meine Plastiktragtaschen und stehe auf. Der Zug holpert, als er über die Weichen fährt, so heftig, dass ich mich festhalten muss. Langsam schwanke ich voran und komme an diesem Mann vorbei.
„...no merece la pena, mujer, tu pasividad... no merece la pena, mujer, debes de actuar...
deine Passivität lohnt sich nicht, Frau... es lohnt sich nicht, du musst handeln...
violencia machista, violencia fascista... männliche Gewalt, faschistische Gewalt..“
Unsere Blicke kreuzen sich. Ich will etwas sagen, in meinem Kopf schreien tausend Stimmen.
„... defiéndete ... defiéndete ... wehr dich... wehr dich...“
Ich hole Luft und setze zu einem Satz an – was soll ich sagen – und schliesse den Mund. Alles, was ich aufbringen kann, ist ein zaghafter, hasserfüllter Blick. Mehr nicht. Der Mann grinst mich verächtlich an und entblösst seine gelben und schwarzen Zähne.
„...enséñale tus dientes mujer... zeig ihm deine Zähne, Frau..“