Mein Auftritt
„Können wir los?“
„Mit den Klamotten?“
„Wieso nicht?“
„Das sieht komisch aus.“
Einfach nicht dagegen argumentieren. Mittlerweile habe ich gelernt. Sie würde sowieso nichts verstehen.
Ich gehe ihr wieder einmal aus dem Weg, um dieser Spannung zu entkommen, die sie nicht einmal spürt. Ich fühle ihre Ungewissheit, als ich ihr den Rücken zudrehe und damit die Spannung wieder entlade. Für sie ist es unnachvollziehbar wie „ein so hübsches Mädchen“ so „heruntergekommen“ an die Öffentlichkeit treten kann. Mich macht es aggressiv, wenn sie so etwas sagt.
Die Blicke, die mir im Supermarkt eine viertel Stunde später zugeworfen werden, machen mich stolz.
Diese Blicke, die dasselbe sagen wie meine Mutter vorhin.
Diese Plastikköpfe, in denen der monoton surrende Computer durch meinen Anblick gnadenlos abstürzt.
Diese Gruppe aufgetakelter Mädchen meines Alters, die gerade dabei waren, sich mit Hilfe einer Beauty-Zeitung über die neuesten Frisurentrends zu informieren und mich jetzt aus ihren geschminkten Augen mustern wie eine verschreckte Herde Gazellen nach einem Raubtierangriff.
Diese Omas und Opas, die im Winter billige, aus den riesigen spanischen Gewächshäuseranlagen - angelegt auf frisch gerodetem Waldboden - importierte Erdbeeren kaufen und genau in diesem Moment stolz auf ihre Enkel sind, weil sie nicht so aussehen wie ich.
Am liebsten würde ich ihnen eine Standpauke darüber halten, wie in Spanien Gemüse angebaut wird.
Und darüber, was mein Erscheinungsbild darstellen soll.
Doch ich habe gelernt, dass sie nichts verstehen. Dass sie nur darauf achten, wie heruntergekommen ein schönes Mädchen doch aussehen kann.
Deshalb gehe ich ihnen aus dem Weg.
Jedesmal im Supermarkt wünsche ich mir, dass sich etwas ändert. Dass mich jemand anspricht und mich für meinen Kleidungsstil lobt. Oder mich nach meinem Musikgeschmack fragt. Oder nach meinen Gedanken über die moderne Konsumgesellschaft und dem Denken der Menschen.
Bis jetzt hat sich leider noch nichts geändert.
Meine Mutter hält einen konstanten Abstand von mir.
Sie versteht mich einfach nicht. Niemand versteht mich.
Sie schämt sich. Für mich.
Meine eigene Mutter schämt sich für mich.
Weil ihre Tochter als einzige aus der Reihe tanzt.
Weil Hartz 4 gerade mal für die billigsten Produkte reicht.
Weil das verrostete, nicht reparierte Auto draußen auf dem Parkplatz steht.
Weil die Überdosis Tabletten das letzte Mal nicht ausgereicht hat und ihre Tochter noch rechtzeitig den Notarzt rufen konnte.
Weil sowieso alles scheiße ist…
Weil einfach alles daneben geht.
Weil ihre Tochter mit diesen Punkerklamotten so asozial aussieht, dass man an ihr sofort den Stand der zugehörigen Mutter in der Gesellschaft ablesen kann.
Sie wird hektisch, will weg, macht Krach, als sie mit dem Einkaufswagen an ein Regal stößt.
Ich drehe mich zu ihr, zerstöre den Abstand zwischen uns, den sie gerade geschaffen hatte.
Ich helfe ihr, irgendwelche Dinge aufzuheben, die heruntergefallen sind.
Alle schauen zu uns.
Sie schämt sich so sehr.
Es tut mir leid.
Es tut mir leid, dass du so leben musst, Mutter.