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Mein böses Ich
Ich habe Schwierigkeiten, meine Gedanken zu konzentrieren, denn ich meditiere nicht oft. Nicht oft genug zumindest. Aber nachdem Sauvort mir erzählt hatte, wie er sich verändert hatte, sein Leben verändert hatte, weil er es geschafft hatte, sein böses Ich los zu werden, konnte ich nicht wiederstehen und nun muss ich es auch versuchen. Aber nein, weg mit all den Gedanken. Wie lange sitze ich hier eigentlich schon? – Ich spüre meinen Körper gar nicht mehr. Ich muss die Gedanken abblocken. Konzentrieren! Ich…
…Ich öffne die Augen oder denke, dass ich das tue, doch das fühle ich nicht. Allerdings sehe ich. Sehr viel. Zu viel. Ich scheine aus drei Augenpaaren gleichzeitig auf ein altes Segelschiff zu blicken. Nein – ich sehe es aus allen Perspektiven! Oben, unten, von innen, von hinten und von jeder anderen Seite. Ich fühle die Planken schwanken, als ob ich auf ihnen stehe. Stehe ich auf ihnen? Auf und ab, ein ruhiger Wellengang. Du meine Güte, diese Perspektive macht mich verrückt. Ich versuche mich auf eine von ihnen zu konzentrieren: die von schräg hinten. Tatsächlich wird das eine Bild langsam klarer und ich fühle mich wieder klarer, auch wenn ich immer noch das Schaukeln des Schiffes spüre als würde ich darauf stehen. Außerdem höre ich Stimmen. Wahrscheinlich von der Crew. Sind es die, die da an Deck kommen? Es sieht so aus.
„Nun, was kann ich dazu? Immerhin schuldest du mir 200 Gulden!“ sagt einer gerade, er trägt dunkelblaue, gerissene Kleider. Er redet mit einem schmächtigen Kerl neben ihm. „Du kannst mir auf der nächsten Insel aber auch ein paar Bier für kaufen.“
Ich sehe näher hin und kann die drei Männer nun genauer erkennen. Der erste, der gerade gesprochen hat, sieht sehr müde aus. Er hat Ringe unter den Augen und geht gebeugt, was zu seiner rauen, heiseren Stimme passt.
„Dann lieber das Geld, wenn’s schon sein muss. Ich an deiner Stelle, Sawisimo, würde nicht so viel trinken, dadurch wird alles nur schlechter.“ Sagt der angesprochene schmächtige Kerl in einem grauen Umhang. Der dritte, ein fies grinsender, junger Mann lacht vor sich hin. „Warum denn? Er stößt immer gegen den Mast, wenn er besoffen ist. Sieht fast so lustig aus wie bei Odio letztens.“
Sie sind mir alle etwas unsympathisch, doch was wundere ich mich? Ich bin doch hier, um mein böses Ich los zu werden. Aber wer von ihnen bin ich eigentlich?
Eine Insel kommt in Sicht. Sie ist ziemlich kahl, ein paar leere Bäume sammeln ihre einsamen Äste über sich, umgeben von verkohlten Resten ehemaliger Häuser. Der zähe, grabgraue Rauch zieht sich noch immer durch die Luft.
„He, Neersluwter und Agradanno, Land in Sicht!“ ruft Sawisimo und bringt diesen damit dazu, ebenfalls Ausschau zu halten. „Ich bin dafür das wir anhalten.“ Verkündet er.
„Vergiss es. Bloß wegen deinem Bier. Ist doch scheiße, das siehst man doch.“ sagt der Schmächtige.
Ich an ihrer Stelle würde ja nicht hier halten, denn was gibt es dort schon? Es sieht aus, als würde dort keiner mehr leben; einladend sieht es jedenfalls nicht aus. Aber sie sollen doch machen, was sie wollen.
„Wenn zwei sich streiten, entscheidet der Dritte, wir fahren weiter.“ Sagt Agradanno und geht zur Kapitänskajüte, die keinem Kapitän gehört.
„Bloß wegen dir, du Hurensohn!“ flucht Sawisimo und boxt Neersluwter in den Bauch. Die Luft entweicht aus seinen Lungen und der schmächtige Kerl stöhnt auf.
Sawisimo dreht sich um, als Neersluwter ihn in den Rücken tritt. Er krümmt sich vor Schmerz und wehrt sich, eine Prügelei entsteht. Neersluwter spuckt Blut, Sawisimo Galle, ich höre einen Knochen brechen und konzentriere mich auf Agradanno, mit dem ich mich noch am ehesten identifizieren kann. Ich bin kein gewalttätiger Typ, das steht mir nicht.
Agradanno steht am Steuerrad, er wendet gerade das Schiff. Wir lenken auf das offene, schwarze Meer zurück. Die großen, grauen Segel blähen sich auf, der Wind nimmt scheinbar zu.
Sawisimo kommt durch die offene Tür, er hat ein Veilchen und seine ungepflegten Haare sind zerzaust. „Hoffentlich wird das Wetter nicht schlecht.“ Er hinkt.
„Hoffentlich wird das Wetter gerade so schlecht, dass eine Welle dein letztes Bad etwas auffrischen kann.“ Antwortet Agradanno und verlässt mit ihm den Raum.
„Das Wetter wird schlecht. Eindeutig. Seht euch die Wolken an, die Formation. Und wenn das Meer sich so kräuselt, steht ein Unwetter bevor.“ Meint Neersluwter und deutet in die schwarzen Fluten.
Neersluwter hat Recht, die Wolken ziehen sich zusammen. Die letzten Reste des braunen Sonnenlichtes verschwinden hinter den Wolken. Ob wir ein richtiges Unwetter kriegen? Es sieht wirklich so aus. Vielleicht werde ich ja so mein schlechtes Ich los, wer weiß? Blöde, dass ich nicht weiß, wie ich es loswerden soll. Kann ich denn überhaupt etwas tun?
Platzregen. Der heftige Sturm schafft es sogar, die finsteren Massen des Meeres zu Wellen aufzutürmen, die an Urzeiten erinnern. Es regnet in Strömen. Zuckende Blitze entladen sich über dem Untergangsszenario. Donner grollt.
„Wir sollten die Segel runterholen, bevor sie uns kaputt gehen!“ brüllt Sawisimo über den Sturm hinweg. Er rennt auf die Takelage zu.
„Schaffst du eh nicht mehr.“ Murmelt Neersluwter zu sich, doch ich höre ihn, als spräche er in mein Ohr. Warum gehen sie eigentlich nicht unter Deck? Hier oben können sie ja doch nichts tun außer zusehen, wie sich die Wellen auftürmen. Und falls das Schiff untergeht, haben sie bei diesem Wetter ja doch keine Chance.
Sawisimo rutscht auf dem regengepeitschtem Deck aus und fliegt mitten aufs Gesicht.
Neersluwter und Agradanno retten sich unter Deck, Sawisimo folgt ihnen. Ich höre Agradanno hämisch lachen. Jetzt verliere ich schon wieder die Orientierung, denn der Sturm wirft uns hin und her in den meterhohen Wellen. Die Welt steht Kopf! Ich kann den wolkenschwarzen Himmel nicht mehr von den finsteren Wellen unterscheiden, wo ist oben – gibt es überhaupt noch ein oben? Doch, ich spüre die Planken unter mir, als ob ich an der Reling stehe, hoffentlich ist dieses Unwetter bald vorbei.
Eine neue Welle erfasst uns und dreht uns einmal um uns selbst. Oh Gott, ist mir übel! Ob ich mich überhaupt übergeben kann, wenn ich keinen Körper habe?
Mir ist schwarz vor den Augen. Aber vielleicht sind es auch nur die Wellen und der Himmel, die mich das denken lassen.
Ich komme wieder zu mir, oder auch nicht, auf jeden Fall merke ich, wie der Regen nachlässt und der Wind abnimmt. Das Schaukeln unter meinen Füßen wird schwächer und ich kann Himmel und Meer wieder voneinander unterscheiden.
„So einen Sturm gab’s aber auch schon lange nicht mehr.“ Meint Neersluwter und tritt an Deck. Sein grauer Umhang ist durchnässt und er sieht noch grauenhafter aus als schon vorher, mit dem harten Blut unter der Nase und den blauen Flecken. Er sieht zu den Segeln auf. „Die sind hinüber. Hab ich doch gleich gesagt.“
„Hast du eben nicht. Hättest du mir geholfen, hätten wir sie vielleicht retten können!“ beschwert Sawisimo sich. Er sieht mindestens genauso schlimm aus.
„Das sieht nach noch mehr Streit aus!“ grinst Agradanno während die beiden sich streiten.
Ich entdecke ein Schiff am Horizont. Es sieht sehr fremd aus, nicht nur im Vergleich zu diesem, sondern überhaupt. Aber vielleicht kann man mit ihnen Handel treiben – zum Beispiel wegen der Segel.
Sawisimo hat sich von Neersluwter abgewendet und geht auf dem Deck auf und ab. „Wir könnten von dem Schiff Bier und Segel kaufen.“ Meint er fast schon nebensächlich.
„Schiff?“ fragen beide anderen verwundert. „Wo?“
„Nord-östlich.“
Sie entdecken das Schiff, das auf sie zukommt. Jetzt erst erkenne ich den Hauptunterschied zu unserem Schiff – es hat keine Segel! Sie sind nicht im Sturm kaputt gegangen, sonst würden bestimmt noch Reste dort hängen. Die breiten, grauen Maste staken leer und kahl in die Höhe, zwei Stück, und trotzdem bewegt sich das Schiff mit voller Fahrt auf uns zu.
„Oh, nein, so nicht. Wir hauen ab. Das ist eins der segellosen Schiffe du Blindfisch. Sofort umdrehen!“ befiehlt Neersluwter und macht sich auf um seinen eigenen Befehl auszuführen.
Unser Schiff wendet, was man nur daran sieht, dass wir uns von dem düsteren Schiff wegdrehen. Doch es kommt verdammt schnell immer näher.
„Können wir ihm entkommen?“ fragt Agradanno.
„Mit etwas Glück, ja. Ihr Schiff ist nicht ganz so schnell wie es aussieht.“ Überlegt Neersluwter.
„Ich meine nicht das hinter uns.“ Sagt Agradanno und zeigt in die Richtung leicht links vom Bug. Ein weiteres Schiff, welches dem unserer Verfolger viel zu ähnlich sieht, ist wie aus dem Nichts aufgetaucht.
„Verdammt, kannst du das nicht früher sagen? Und du wende endlich das verfluchte Schiff!“ kreischt Sawisimo.
„Wir können ja doch nicht mehr entkommen.“ Meint Neersluwter
„Was tust du eigentlich den ganzen Tag außer klugen, aber bescheuert depressiven Sprüche klopfen?“
„Ich pump mich wenigstens nicht mit deiner Scheiße voll!“
Müssen die denn gerade jetzt anfangen zu streiten?
„Hört auf!“ ruft Agradanno ohne sie anzusehen. Sein Blick geht zu dem Schiff vor uns beziehungsweise zu dem Ding, das sich gerade von ihm gelöst hat. Es sieht aus wie ein Kolben, grau natürlich, hinter sich lässt er eine weiße Flamme.
Und das Teil steuert direkt auf uns zu.
„Ausweichen!“ ruft Sawisimo hilflos, doch es ist zu spät – der Kolben rammt uns in die Längsseite. Das Schiff erzittert und wir fallen von unseren Füßen.
„In die Rettungsboote!“ höre ich und will mich aufraffen – doch ich kann nicht! Panik ergreift mich für einen Moment, doch dann konzentriere ich mich auf Agradanno, und ich sehe mit den beiden anderen in ein kleines Rettungsboot steigen. Ich bin ja körperlos, fällt mir ein, und meine Sinne folgen dem Boot, das sich von unserem Schiff losmacht.
Panisch rudern Sawisimo, Neersluwer und Agradanno von dem sinkenden Schiff weg, um nicht in den Sog zu geraten. Langsam und mit einem lauten, gluckernden Geräusch fließt das schwarze Wasser in den Schiffsrumpf, er kippt nach vorne, mit den Masten gen Horizont, bevor es senkrecht in die Tiefen sinkt. Zum Glück sind wir weit genug entfernt, um nicht von dem großen Strudel mitgerissen zu werden.
Von den feindlichen Schiffen ist ein Siegesruf zu hören; sie kommen auf unsere kleine, in den Wellen schaukelnde Nussschale zu. Sawisimo und Agradanno rudern noch eine Weile, doch Neersluwer sagt ihnen, dass es sinnlos ist. Fliehen können wir ja doch nicht mehr.
Die beiden Schiffe rangieren sich an unsere Seiten. Sie sind größer, als sie aus der Ferne ausgesehen haben. Der gigantische Rumpf scheint aus einem Stück gegossen zu sein, und in der Mitte ragen zwei breite Türme hinaus, aus denen jetzt leichter Rauch weht. An der mit Totenköpfen geschmückten Reling stehen mehrere lachende Männer in grauer Uniform, alle bis auf den Kapitän, der schwarz gekleidet ist. Er deutet auf uns und sagt irgendetwas.
„Hast du verstanden, was er gesagt hat?“ fragt Sawisimo
„Wahrscheinlich, dass er dich zum Nachtisch essen will. Immerhin ist da genug Fett dran.“ Meint Agradanno.
Er wird von einem lauten Scharren unterbrochen, als sich in dem Schiff ein Tor öffnet, das vorher nicht einmal zu erahnen war. Eine breite Rampe fährt lautlos vom unteren Ende der Öffnung ins Meer hinab.
„Hallo ihr kleinen Fische… kommt zu Samy Fischer!“ ruft ein Mann hämisch, der in der Öffnung steht. Er drückt einen Knopf, es scharrt wieder laut und wir sehen halb gebannt, halb verängstigt zu, wie plötzlich drei Enterhaken aus der Wand geschleudert kommen und in die Längsseite unseres Bootes stoßen.
„Huo!“ rief Sawisimo und lässt sich rechtzeitig nach unten fallen als eine der Spitzen knapp über ihm splitternd das Holz unseres Bootes durchbricht.
„Klasse. Und jetzt?“ fragt Agradanno in die Runde.
Das Boot ruckt. Ich sehe den Matrosen an einer Kurbel drehen, womit er unser Boot immer näher holt, indem er die Enterhaken zurückzieht. Sie würden uns natürlich fangen. Aber warum springen wir nicht einfach ins Meer und hauen ab?
„Sollen wir flüchten?“ fragt Sawisimo.
„Ja, wir könnten schwimmen!“ ergänzt Agradanno.
„Seid ihr bescheuert? Ich hab keine Lust, länger als fünf Minuten in dieser Sütche zu schwimmen, falls das überhaupt geht.“
„Genug geplaudert, Kinder. Der Käptn will euch sehen.“ ruft der Matrose uns zu. Wir werden die Rampe hochgezogen und das große Tor schließt sich langsam wieder.
Der Matrose fesselt uns und führt uns durch die Gänge des Schiffes. Wir wehren uns nicht. Einmal zwinkert Sawisimo Agradanno verschwörerisch zu, als ob er versuchen will, abzuhauen, doch der Matrose zurrt seine Fesseln ein wenig fester und Neersluwer sagt „Wir haben ja eh keine Chance.“
Die Gänge, durch die wir gehen sind grau und schmucklos, allerdings sauber. Die einzige Abwechslung in der Eintönigkeit sind Türklingen an nahtlosen Wänden. Plötzlich halten wir an einem dieser Türgriffe und der Matrose klopft an. Ein Knurren antwortet ihm und er öffnet die Tür.
Wir gehen von dem dunklen, phosphorbeleuchteten Gang in eine helle Kabine mit einem Tisch und einem Bett und dem Kapitän am Tisch. Er dreht am Rad der Lampe vor ihm, so dass es dunkler wird und begrüßt uns: „Ah, meine Ratten!“
„Was wollt ihr.“ Fragt Neersluwer gelangweilt, so als sei er dieses Ritual bereits gewohnt.
Der Kapitän stutzt eine Millisekunde. „Gute Frage… Darauf kommen wir später zurück. Immer eins nach dem anderen. Ich weiß ja noch gar nicht mal, was euch androhen soll.“ Überlegt der Kapitän. Hat er uns etwa ohne jeden Grund gefangen genommen? Das kann doch nicht sein!
„Wofür habt ihr uns denn gefangen genommen?“ fragt Agradanno ihn.
„Nun, ich dachte mir, vielleicht könnt ihr mir irgendwie nützlich sein. Am besten lasse ich euch erst einmal in Ketten legen. Was dann kommt, sehen wir dann. In den Kerker mit ihnen.“ Wendet er sich dann an den Matrosen.
„Ja, Sir. Los, auf ihr Ratten, aufstehen, zack zack!“
Wir stehen auf und gehen ihm voran durch die Tür wieder in den Gang.
„Ich hoffe ihr habt einen starken Magen oder ihr habt gerade eben gegessen, denn bei uns ist leider nichts mehr übrig.“ Sagt er als er uns den zermürbend gleichen Gang hinabführt.
„Sieht man dir an.“ antwortet Agradanno.
„Schnauze!“ brüllt der Matrose ihn an und wir schweigen.
Der Kerker ist stockfinster, wir werden auf eine metallene Liege an der Wand geworfen und unsere Hände werden an die Wand gebunden mit einer Kette, die so kurz ist, dass man sich nicht einmal umdrehen kann. Ich fühle den Schmerz an meinem Armgelenk genau wie meine drei Kameraden und ich frage mich, ob ich nicht tatsächlich die ganze Zeit ein ganz normaler Mensch bin, mit Körper, nicht, wie ich sonst immer dachte, ein körperloser Beobachter. Werde ich verrückt? Oder bin ich das bereits? Die schwere Tür fällt ins Schloss und wir sind alleine.
„Gute Nacht.“ Meint Agradanno, die Anderen schweigen. Ich glaube ich verliere mein Zeitgefühl. Es ist wie im Traum. Irgendwann fängt Agradanno an zu schnarchen, bis Neersluwer „Schnauze!“ brüllt. Dann ist wieder alles still.
Meine Seite tut weh, mit der ich an der Wand lehne. Ich will mich umdrehen, doch die Kette an meiner Hand hindert mich daran. Wann habe ich das letzte Mal gegessen? Aber wenn es nur der Hunger wäre, der meinen Magen lauter Knurren lässt als das stetige, brummende Geräusch irgendwo in diesem schrecklichen Schiff. Außerdem stinkt es nach Urin. Kein Wunder. Meine Kehle trocknet aus, ich brauche unbedingt Wasser. Was hat dieser elende Kapitän bloß mit uns vor? Und warum das alles? Lieber wäre ich im Sturm oder in den zähen Fluten umgekommen als hier langsam zu verenden. Der Uringeruch wird immer stärker und meine Haare jucken. Ich kratze mich immer wieder mit der freien Hand, doch es hilft nichts. Es muss hier von Ungeziefer wimmeln. Wenn ich nur etwas sehen könnte! Wie lange liege ich hier eigentlich schon? Ich spüre meinen Körper gar nicht mehr. Bis auf an den Stellen, wo es mich juckt und kratzt, oder an denen die raue Wand und die Liege an meiner Haut schürfen. Wie lange noch? Wie lange noch?
Irgendwann öffnet sich die Türe und der Matrose kommt herein. Wenigstens ist genug Licht da, dass man weiß, man ist nicht blind! Hoffentlich holt er uns hier raus, egal, was er dann mit uns macht.
„Hallo ihr Ratten, geht’s euch noch gut?“ fragt er und löst die Ketten. Ich bemerke, dass das dumpfe Brummen des Schiffes aufgehört hat. Mit allen Kräften am Ende und der Sprache nicht mehr fähig gehen wir ihm voran in den geradezu blendend hellen Gang hinaus. Er führt uns nicht zur Kapitänskajüte, sondern hoch an die Reling. Frische Luft! Ich atme tief ein und aus, genieße die Strahlen der Sonne auf meinen Augen und das beruhigende Rauschen des Meeres. So viel zu sehen! Es kommt mir vor, als hätte ich meine Augen noch nie benutzt, so beeindruckt bin ich von so vielen Dingen nach einer Ewigkeit in Finsternis. Ein paar Matrosen gehen von Deck einen Steck herunter an Land, er ist recht schmal und ziemlich hoch über dem Wasser und führt zu einer Insel herab. Ich kann ein Gebirge sehen, und ein paar Hütten und Wellblechscheunen. Es ist nicht viel los, aber nach der Zeit im Kerker komme ich mir vor wie in einer Großstadt. Wir gehen den dünnen, schwankenden Steg hinab auf die Insel, der Matrose hinter uns. Ich glaube er hält irgendeine Waffe in der Hand, aber ich traue mich nicht, mich umzusehen.
Der Matrose führt uns in eine der Hütten. Sie ist aus Steinen gebaut, es ist kühl innen drin, und es steht nur ein großer Tisch in dem Raum, in den man reinkommt. Der Kapitän sitzt hinter dem Tisch und sieht zu, wie wir uns auf die für uns vorgesehen Stühle setzen. Der Matrose verlässt die Hütte und schließt die Türe. Ich glaube er schließt sie ab, aber ich bin mir nicht sicher.
„Und was wird jetzt getan?“ fragt Sawisimo. Alle Drei sehen schrecklich aus, ausgehungert wie sie sind, mit der Wangenhaut schlaff herunterhängend, die Augen tränen und die Münder sind geöffnet, immer noch nach Wasser dürstend. Ich wette ich sehe genauso aus.
„Ich weiß was jetzt getan wird.“ Sagt der Kapitän. „Und zwar von euch.“ Er macht eine Pause. Dann greift er mit der Hand an seine Hose und holt einen handgroßen Dolch heraus. Er hat einen ebenhölzernen Griff, in den die vier Zeichen der Ghanor geschnitzt sind. Ganz oben ist ein Totenkopf, aus dessen Mund die Klinge hervorsticht. Er legt den Dolch in die Mitte des Tisches und sieht uns an. „Einer von euch wird sich selbst umbringen. Mit diesem Dolch, an der Pulsschlagader. Direkt hier, vor allen anderen.“
Er will mit uns spielen. Gleich wird er sagen, dass dafür die Anderen freigelassen werden, wetten?
„Dafür werden die anderen dann freigelassen, nicht wahr?“ fragt Agradanno.
„Was weiß ich.“
„Und warum das Ganze?“ fragt Neersluwer nach.
„Was geht euch das an? Tut was euch befohlen wird!“ brüllt der Kapitän uns plötzlich an. Dann ist er wieder ganz ruhig. „Ich gebe euch zwei Minuten Bedenkzeit.“
„Was gibt es denn zu bedenken?“ fragt Sawisimo.
„Na was wohl, wer sich umbringt natürlich!“
Er will also, dass einer von uns sich selbst umbringt. Und was hat er dann mit dem Rest vor? Wahrscheinlich noch schlimmere Dinge. Wer weiß. Ich will mich freiwillig melden, doch ich höre meine Stimme nicht und auch die Anderen bleiben sitzen, als wäre ich nicht da. Ich versuche es noch einmal, doch es scheint nicht zu klappen. Merkwürdig. Ob irgendeiner von den Anderen sich freiwillig meldet? Sawisimo? Glaube ich nicht. Genauso wenig wie Neersluwer, die feige Sau. Am ehesten noch Agradanno. Aber auch er sagt nichts. Soll der verdammte Kapitän sich doch selbst umbringen. Was soll diese Nummer? Der Kapitän sieht auf die Uhr, doch er sagt nicht, wie viel Zeit wir noch haben, und was passiert, wenn sie um ist. Ich versuche noch mal mich zu melden, denn ich habe Angst vor dem, was danach vielleicht kommt. Keiner hört mich.
Nun, was soll’s? Ich greife kurzerhand zum Dolch, setze ihn an und ziehe ihn längs entlang. Ich mache die Augen zu, denn ich kann mir dabei nicht zusehen, aber ich spüre, wie mich mein Blut verlässt. Ich mache die Augen auf und sehe durch einen verschwommen Schleier zu den Anderen hinüber. Sie starren in die Mitte des Tisches, wo der Dolch liegt. Ich weiß nicht, wie er dahin zurückgekommen ist.
Alle drei greifen gleichzeitig zum Dolch, als sie das bemerken, ziehen sie die Hände wieder zurück. Ich werde immer schwächer, doch ich will sehen was passiert. Agradanno nimmt ihn sich und sagt etwas, das ich nicht verstehen kann. Er setzt den Dolch an sein Handgelenk und sticht zu. Ein einzelner Blutstropfen erscheint an der Klinge. Agradanno zieht den Dolch herab bis das Blut zu den Seiten herausläuft und gibt den Dolch an Sawisimo weiter. Während mein und Agradannos Blut auf den Tisch fließt wiederholt Sawisimo die Tat und gibt den Dolch schließlich an Neersluwer weiter. Er überlegt einen Moment und sieht zu Agradanno und Sawisimo herüber deren Blick unkonzentriert umherwandern. Mein Kopf pocht. Neersluwer sticht zu und vollendet, was ich angefangen habe. Er legt den Dolch wieder in die Mitte des Tisches.
Ich sehe zum Kapitän herüber. Er steht wortlos auf und geht zur Tür. Von seinen Hüften an abwärts tragen ihn metallische, staksende Prothesen. Sie glänzen.
„Sie sind tot.“ Sagt er zu dem draußen stehenden Matrosen. Dann schließt er die Türe wieder und setzt sich wieder an den Tisch.
Er greift zum Dolch in der Mitte des Tisches.
„Nun… vielleicht…“ murmelt er zu sich selbst.
Mein Kopf wird immer schwerer während mein Blut mich verlässt.
Ich sehe zum Kapitän zurück. Er hat den Dolch angesetzt und vollendet gerade den Schnitt. Blut.