Mein bester Freund
Die Strassen sind leer am diesem späten Freitag Abend, als ich meinen alten Ford durch die Kurven des südlichen Schwarzwaldes lenke. Ich fahre ziellos, zügig, aber ohne zu rasen durch den nächlichen Wald, so wie ich es gerne mache, wenn mich etwas beschäftigt und ich in Ruhe nachdenken möchte. Im Radio läuft eine CD der Dire Straits und ich rolle auf der kurvigen Schauinsland-Strasse entlang.
Der Himmel ist sternenklar und die Nacht jetzt, Ende September, doch schon empfindlich kühl. Der Wind treibt die ersten heruntergefallenen Blätter vor mir über die Strasse, und die Heizung sorgt für wohlige Temperaturen.
Trotzdem fröstelt es mich bei den Gedanken, die mich heute Abend auf die Strasse getrieben haben.
Mein langjähriger Freund Joachim hatte mir vor einigen Tagen ohne große Umschweife erklärt, er hätte den unstillbaren Drang, noch einmal etwas neues zu erleben, und er würde seine Familie verlassen um in Kanada "neu anzufangen", wie er sich wörtlich ausgedrückt hatte. Er wolle sich von mir verabschieden und wünsche mir alles Gute...
Ich habe danach schlichtweg die Beherrschung verloren und ihn in einem schrecklichen Streit über seine Fluchtgedanken als Feigling und gewissenloses Wesen beschimpft. Meine letzten Worte, die ich besonders bereue, waren schließlich: "Wer seine Familie so im Stich lässt, der ist des Lebens nicht wert!". Einen Satz, den ich so gerne zurücknehmen möchte, denn es waren wohl die letzten Worte, die ich im Leben mit meinem ehemals besten Freund gewechselt habe, der daraufhin wortlos meine Wohnung verließ.
Meine Gedanken schweifen um dieses Gespräch und um seine Frau und seine süße kleine Tochter, für die diese schockierende Nachricht noch um ein Vielfaches schlimmer ist als für mich. Ob ich mich bei Petra melden soll? Andererseits möchte ich mich nicht aufdrängen. Projeziert sie am Ende gar ihre Wut auf mich, den besten Freund ihres Mannes?
Ich überhole eine Gruppe Jugendlicher auf ihren Motorrollern, wahrscheinlich sind sie auf dem Weg in die Disko oder auf eine Party. Schöne, sorglose Zeit.
Die Dire Strais stimmen gerade ihr legendäres "Brothers in Arms" an, und ich fühle mich selbst fast wieder wie ein Jugendlicher... damals, wilde Parties, Mädchen, jede Menge Alkohol... und alles immer zusammen mit Joa...
"Oh mein Gott...", schießt es mir plötzlich über die Lippen, beinahe gleichzeitig kommt der viele tausend Mal geübte Reflex, der meinen rechten Fuß ohne mein wissentliches Zutun vom Gaspedal auf die Bremse reißt.
Schon als ich anfange zu bremsen, weiß ich genau, dass ich es niemals schaffen kann, das Fahrzeug rechtzeitig zu stoppen.
Die blockierenden Reifen kreischen, mein Wagen stellt sich leicht quer zur Fahrtrichtung.
Unmittelbar vor mir kniet ein Mann in Motorradbekleidung auf der Strasse, offensichtlich gestürzt aber bei klarem Bewusstsein. Obwohl es nur Bruchteile von Sekunden sein können, erfasse ich die Szene in erschreckend vielen Einzelheiten. Das Motorrad liegt weiter vorne rechts im Strassengraben. Etwa zwischen dem Fahrer und der Maschine, es ist eine schwere Reise-Enduro, zieht sich ein schwarzer Strich quer über den Asphalt.
Doch all dies verblasst neben der furchtbaren Tatsache, dass der Motorradfahrer mich mit schreckensweiten Augen flehend ansieht, die Hände schützend nach vorne gestreckt. Und kurz vor dem schrecklichen Moment des Zusammenpralls wird mir klar, wer mich da ansieht: Mein Freund Joachim.
Als ich ihn erreicht habe, höre ich seinen letzten, markerschütternden Schrei und den dumpfen Aufschlag seines Körpers auf meinem Auto, gepaart mit dem Splittern von Glas.
Dann ist alles still, so still, dass mir mein rasender Puls unnatürlich laut vorkommt.
Die Luft ist erfüllt mit einem Geruch nach verbranntem Gummi.
Unfähig zu irgendeiner Reaktion sitze ich hinter dem Steuer meines Wagens, meine Hände schmerzen, so krampfhaft umklammern sie das Lenkrad.
Ich habe ein furchtbares Stechen in der Brust und mir wird schlecht. Gerade noch kann ich mich aus meineer Lethargie losreißen und die Tür aufstossen, bevor ich mich krampfhaft und nicht enden wollend übergeben muß.
Ich habe nicht den Mut, aus dem Auto zu steigen und nachzusehen, was ich angerichtet habe.
Als ich es nach einer mir endlos vorkommenden Zeit endlich schaffe, dreht sich mir alles, denn was ich vor meinem Auto auf der Strasse sehe, ist ... NICHTS.
Weder Joachim, noch ein Motorad, noch die zweifellos dagewesene Bremsspur der Enduro sind zu sehen.
Mir schnürt es die Kehle zu, was geht hier vor?
Ich habe das Gefühl, gleich schreien zu müssen, obwohl die Tatsache, dass ich keinen Verletzten sehe, eigentlich Erleichterung auslösen müsste. Aber was ich sehe, ist nichts greifbares, und diese Erkenntnis treibt mich gegenwärtig fast in den Wahnsinn.
Da kommt mir eine Idee - ich hatte beim Zusammenprall ohne jeden Zweifel das Splittern von Glas gehört. Aber der Blick auf die Front meines Fahrzeuges zeigt keinerlei Beschädigungen.
Das einzige, was wirklich da ist, und von dem zeugt, was hier passiert ist, sind die tiefschwarzen Streifen, die meine Vorderräder beim Bremsen auf der Strasse hinterlassen haben.
Fassungslos setze ich mich in die Böschung, mir laufen Tränen der, was eigentlich - Erleichterung, Schock, Angst - das Gesicht herab.
Ein Auto nähert sich, ich sehe schon die Lichter weiter hinten im Wald. Wenn es mir nun nicht gelingt, einigermaßen ruhig zu wirken, würde mein Problem noch größer werden, das wird mit im selben Augenblick klar.
Hektisch wische ich mir die Tränen weg, und es gelingt mir tatsächlich, mich zumindest äußerlich für den Moment etwas zu fangen.
Der Fahrer, ein älterer Herr, hält neben mir an und erkundigt sich nach dem rechten. Ich stammele etwas von: "Wild vor mir über die Strasse gerannt, nichts passiert.", und er beläßt es glücklicherweise bei einem freundlichen "Na, dann alles Gute und fahren Sie vorsichtig!", bevor er wieder Gas gibt und in der Dunkelheit verschwindet.
Die Begegnung holt mich jedoch soweit auf den Boden zurück, dass mir urplötzlich die einzige logische Erklärung für dieses Phänomen einfällt: Ich bin eingenickt und habe den Unfall geträumt. Gottlob, denn wo hätte meine Fahrt ohne dieses unbewusste Bremsmanöver geendet? Ich möchte den Gedanken gar nicht zu Ende denken und setze mich mit zittrigen Händen wieder ans Steuer. Der Geschmack des Erbrochenen liegt ekelerregend auf meiner Zunge, und ich möchte nur noch nach Hause.
Die CD ist bald zu Ende und ich belasse es beim Radioprogramm. Kurz bevor ich zuhause bin, vermeldet der Sprecher in den Nachrichten den Absturz einer Maschine von Stuttgart nach Calgary, Kanada, was in mir, sicher bedingt durch meine momentane Verfassung, schreckliche Gedanken heraufbeschwört.
Wieder fange ich an zu zittern und kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.
Dort schnappe ich mir, ungeachtet der nächtlichen Stunde sofort das Telefon und rufe Petra, die Frau von Joachim, an.
Nachdem Sie schlaftrunken ans Telefon geht, stelle ich ihr atemlos nur eine einzige Frage: "Fliegt Joachim gerade nach Kanada?". Ihre Antwort ist ein stutziges "Ja, aber warum fra...".
Mehr höre ich nicht mehr, denn mir fehlt die Kraft, den Hörer noch länger an mein Ohr zu heben...