Mein Freund Herr Muss
Mein Freund Herr Muss
Montag, 7.30 Uhr – ich blinzelte zum Wecker und erschrak: Schon so spät! Oh je, ich habe verschlafen! Dabei hatte ich mir doch so viel vorgenommen!
Ich lag auf dem Rücken und starrte zur Decke. Eigentlich ist es doch ganz gemütlich in den Federn. Warum MUSS ich denn aufstehen? Auf mich wartet niemand, ich MUSS mich doch um nichts kümmern, Termine MUSS ich auch nicht wahrnehmen. Also, warum bleibe ich nicht so lange im Bett, wie es mir gefällt?
Tja, wenn da nicht mein Freund Herr Muss wäre. Plötzlich stand er neben meinem Bett und schaute mich missmutig von der Seite an. Bei seinem Blick war die Gemütlichkeit dahin. Wer mag schon gerne beim Faulenzen beobachtet werden? Na gut, dann stehe ich eben auf. Rollos hoch, Fenster weit auf und bei dem Blick in den stillen Morgen, in das satte Grün des Hinterhauses und in die dahinziehenden Wolken, empfand ich eine wohltuende Streicheleinheit.
So und nun unter die Dusche, denn das Frühstück wartete schon auf Balokonien. Umgeben von allerlei blühenden Pflanzen schmeckt der Morgenkaffee noch mal so gut. Ab und zu klappten Autotüren und die Parkreihe vor dem Haus wurde immer leerer. Nur mein kleines Gefährt stand noch dort. Etwas Traurigkeit überschattete meinen idyllischen Tagesbeginn.
Vor ein paar Monaten noch, war ich ebenfalls unterwegs zu meiner Arbeitsstelle. Ich hatte den schönsten Beruf der Welt, ich liebte ihn, er war mein Leben. Und nun kam ich mir auf meinem kleinen Balkon einfach verlassen und vergessen vor. Ich hatte den Tag noch vor mir und mutlos biss ich in meine Brötchenhälfte, trank den, schon längst kalt gewordenen, Kaffee. Sollte ich wohl doch lieber wieder ins Bett gehen?
Aber schon beim Versuch, diesen Gedanken zu Ende zu denken, stand Herr Muss wieder neben mir.
Und dieser Blick! Dieser anklagende Blick!
„Also, Herr Muss, nun setz dich schon, du machst mich ja ganz nervös. Ich denke, wir müssen uns mal unterhalten!“ Er setzte sich auch tatsächlich, doch der Blick blieb. Ich hasste diesen Blick!
„Was wirfst Du mir vor, Her Muss? Warum mischt du dich in meine Gedanken ein? Ich habe doch Zeit, Zeit, die andere nicht haben.“
Herr Muss sah mich immer noch sehr scharf an: „ Zeit, die du aber gar nicht haben wolltest, oder!?“ „Nein, das habe ich mir auch nicht ausgesucht und ich mag auch nicht darüber nachdenken, was ich früher mit dieser Zeit angefangen habe. Weißt du, da war ich nämlich glücklich in meiner Arbeit, da hatte ich gar keine Zeit, an mich selbst zu denken. Mein Tag war vorherbestimmt...“
Ich erinnerte mich daran, dass mein einziger Trost, nach dem Verlust meines Jobs, war, nichts mehr tun MÜSSEN.
Ich musste nicht mehr früh aufstehen, mich müde durch den Stau quälen, die schlechte Laune meiner Chefin ertragen, mich nicht mehr für etwas rechtfertigen und ich musste nicht mehr bei Zeiten zu Bett gehen, damit ich früh aus den Federn komme. Ich musste auch nicht mehr nach Feierabend langweilige, oft überflüssige Dienstberatungen über mich ergehen lassen oder den Geburtstag einer Kollegin feiern.
Logisch, dass ich jetzt nur das Negative erwähne…
Dieses Nichtsmüssen wollte ich auskosten, solange ich auf der Suche nach einer neuen Stelle war. Ich wollte alles selbst entschieden und mir keine Vorschriften anhören müssen, schon gar nicht machen lassen. Nur das machen, wozu ich Lust und Laune hätte.
Es kam anders!
Herr Muss trat in mein Leben. Er war auf einmal da und ich begriff sehr schnell, dass es einfach ohne ihn nicht ging.
Ich konnte mir noch so viel Mühe geben, nur ich selbst zu sein, zu tun und zu lassen, was ich will, Herr Muss war dann einfach anwesend. Oh, was habe ich ihn verflucht! Stets war er unaufgefordert an meiner Seite und dann habe ich doch Dinge getan, zu denen ich eigentlich gar keine Lust hatte.
Worte wie: „Einsicht in die Notwendigkeit“, kamen mir in den Sinn. Wie abgedroschen war das denn? Und doch dachte ich oft darüber nach, worin der Sinn in diesen Worten lag.
Herr Muss hat mich so manches Mal davon überzeugt, dass man nicht einfach so, ohne ihn, in den Tag leben kann.
So begann dann mein Leben als Hausfrau, Tischler, Tapezierer, Koch, Wäscherin… Na ja, mir würden da bestimmt noch mehr Berufe einfallen, doch fürs Erste genügte das ja auch. Und hinter allem stand Herr Muss. Ich denke, ich brauche nicht erwähnen, was wäre, wenn ich mich nicht um all die Dinge des täglichen Lebens kümmern würde, obwohl ich keine Lust dazu hatte. Ich möchte es mir nicht einmal vorstellen.
Und so begann ich heute meinen Tag dann mit dem, was ich mir vorgenommen hatte. Und Herr Muss verschwand mit einem Lächeln.
„Ja, lächle du nur. Ich weiß, du hast gewonnen. Doch eigentlich ist der Gewinn auf meiner Seite.“, dachte ich bei mir.
Herr Muss erschien sogleich wieder: „Das musst du mir aber genauer erklären!“ Ha, ich musste nicht, ich wollte:
„ Das ist doch ganz klar, wenn du mir nicht auf die Nerven gehen würdest, dann würde ich in den Tag hineinleben, mich um nichts kümmern und letztlich würden Tage vergehen, die einfach sinnlos wären und ich hätte nichts von dem erreicht, was mir letztendlich Freude bereiten würde. Ganz im Gegenteil, ich würde mein Umfeld vernachlässigen und schließlich mich selbst aufgeben. Also habe ich gewonnen, ist doch logisch!“
„Ok., dann brauchst du mich ja nicht mehr…“ Er wollte sich schon aus dem Staube machen, als ich noch rief: “Irrtum, Herr Muss, Freundschaften soll man pflegen und du bist ein unentbehrlicher Freund!“
Herr Muss lächelte und schaute mich zum ersten Male freundlich an.