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Mein Freund Leo
Mein Freund Leo
Mein Freund Leo wohnt bei uns auf dem Dachboden, weil Herr Krause ausgezogen ist und Leo sonst nirgendwo wohnen konnte. Meine Mama und seine waren mal beste Freundinnen, aber seine ist tot. Und sein Papa weg. Aber Leo hat gelacht und gesagt, er hat ja eine Familie. Uns. Mein Freund Leo sagt, es kann gar keine bessere geben auf der Welt. Deshalb kommt Leo ganz oft zu uns runter, er kocht, hilft mir beim Zimmer aufräumen und wartet mit mir auf Mama.
Mein Freund Leo hat tolle Augen. Wenn es Wolken hat, sind sie grau. Wenn die Sonne reinscheint, sind sie blau, und dann leuchten sie auch. Leo sagt immer, alle Augen können das, aber ich kenn sonst keine.
Mein Freund Leo steht gerne früh auf, wenn ich lieber noch schlafe. Er sagt, es gibt nichts Schöneres als die Sonne, wenn sie die Berge wachkitzelt. Und dazu gibt es ein Gratiskonzert, das sind dann nämlich die Vögel, die sich freuen. Mein Freund Leo sagt immer, dass die Vögel so singen, wie er fühlt. Und dass immer Vögel singen, wenn Menschen sich freuen. Aber vielleicht singen sie ja auch nur für Leo.
Mein Freund Leo ist manchmal böse krank. Dann hustet er so laut, dass alle erschrecken und ihm helfen wollen. So wie wenn er ein Bonbon verschluckt hat. Aber Leo sagt, das ist eine Krankheit. Die hatte er schon immer, sagt er, und lacht. Dann muss er wieder husten, weil er keine Luft kriegt. Weil er ja auch versuchen muss, das Bonbon raus zu kriegen. Mein Freund Leo sagt immer, da ist kein Bonbon, aber wenn man eins verschluckt, hustet man so.
Mein Freund Leo ist viel älter als ich. Zwei Hände voll. Aber Leo sagt, dass man gar nicht alt sein muss. Und dass man nicht mal dran denken soll, älter zu werden. Sonst vergisst man, dass man jetzt lebt. Und dann hat man auch immer Angst und wird nie glücklich. Also spielt er ganz oft mit mir, Karten und Domino, weil uns das jetzt glücklich macht und nicht irgendwann mal.
Mein Freund Leo mag keine Fernseher. Er sagt, dass Fernseher nur ablenken von wichtigen Dingen. Und dass man vergisst, wer man selber ist. Mein Freund Leo hat mir immer gesagt, dass ich das nie tun soll. Weil sonst die Sonne nicht aufgeht und dann alle sowieso gleich einpacken könnten. Warum, wollte er nicht sagen, aber den Fernseher mach ich trotzdem an, wenn Leo nicht da ist.
Manchmal ist mein Freund Leo auch traurig. Einmal hab ich ihn weinen sehen. Ich hab mich vor ihm versteckt, hinter dem Vorhang. Ich wollt ihn nur erschrecken, aber dann bin ich still stehen geblieben, weil Leo so geweint hat. Ich hätt ihn trösten sollen, aber ich war selber ganz erschrocken. Leo ist immer fröhlich, weinen soll er nicht. Nie.
Mein Freund Leo darf nicht mehr in die Schule zurück. Er sagt, er hustet zu laut und lenkt alle ab. Dass er sie stört und dass er lieber zu Hause ist, wo er keinen ärgern kann. Manchmal kommen seine Freunde aus der Schule zu Besuch auf den Dachboden. Ich gehe aber nie mit. Leo sagt dann immer, dass er mich lieber ganz allein zu Besuch hat. Einmal hat ein Mädchen geweint, als sie gegangen ist. Leo hat mir gesagt, das war, weil er so gehustet hat, und das hat das Mädchen traurig gemacht.
Mein Freund Leo hat gesagt, dass ich nicht böse sein soll, wenn er weg muss. Ich hab dann zu ihm gesagt, dass ich nicht will, dass er woanders hin geht. Und dass er bei uns bleiben soll. Leo hat gelächelt, aber nur ganz leicht, und ich fand, dass es traurig aussah. Dann hat er wieder gehustet, immer mehr, und mir gesagt, dass er irgendwie für immer hier bleibt. Weil wir seine Familie sind, und er uns nie verlassen will.
Mein Freund Leo musste die eine Nacht ganz schlimm husten. Ärger als sonst, und er kam runter und war schon ganz lila. Mama ist aufgestanden und wollte mit ihm wegfahren. Leo hat mich umarmt und dabei weiter gehustet und gekeucht. Sein Gesicht war ganz nass. Meins auch. Ich hab ihm auf den Rücken gehauen, um vielleicht das Bonbon rauszukriegen. Er wollte lächeln, aber er hatte nicht genug Luft. Trotzdem haben seine Augen gelächelt; obwohl es doch dunkel war und keine Sonne.
Ich schaue jetzt viel öfter Fernsehen, weil die Vögel so still sind.