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Mein Freund Pratscher

Seniors
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06.02.2001
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Mein Freund Pratscher

Mein Freund Pratscher

Für Dusty


Ich höre das Ticken der Uhr – und es macht mich verrückt.
Dieses ständige TICK-TACK ist kaum auszuhalten. Es ist, als würde Gott mich jede verbleibende Sekunde meines Lebens daran erinnern, daß ich sterblich bin und ihn bald einlassen muß, wenn er an meine Tür klopft.
Solche Gedanken sind da – sind immer da – mit solchen Gedanken lebe ich und vermutlich werde ich auch mit ihnen sterben.
Aber wissen Sie, wenn man mal ein gewisses Alter erreicht hat, dann hat man keine Angst mehr vor dem Tod und seinem Vorgesetzten, dem Herrgott.
Na ja – zumindest redet man sich das ein.

Ich war 55 Jahre jung, als ich meinem Kameraden begegnete. Das war an einer Autobahnraststätte – ich wollte nämlich nach Berlin fahren und meine Mutter im Altenheim besuchen – oder sowas in der Art. Herrije, ich weiß es nicht mehr genau.
Jedenfalls... Jedenfalls machte ich wahllos irgendwo halt, um schnell was zu essen – und aufs Örtchen zu gehen... Das Übliche eben.
Ich weiß nicht mal mehr, welche Raststätte das war, ich weiß nur noch, daß ich dort zu Mittag gegessen habe und gerade in mein Auto gestiegen war, als ich den alten Kerl sah.
Den alten Schauspieler. Den alten Kameraden.
Er war an einen Laternenpfahl gebunden - und starrte mich an.
Er starrte mich mit diesem gottverdammten „Hilf mir doch“-Blick an, den diese vierbeinigen Drecksviecher wohl besser drauf haben, als jeder Mensch.
Ich stieg also wieder fluchend aus dem Auto aus, nachdem ich eine Weile gewartet hatte (und ihm dabei immer wieder in die verdammten Hundeaugen geblickt habe, obwohl ich das echt nicht wollte).
Ich näherte mich ihm.
Er war ein großer Mischling; schwarz mit einem weißen Streifen, der von der Nase ausging und zwischen seinen Augen aufhörte. Er war ein schöner Kerl, mit seinen dunklen Augen, mit seinen Hängeohren und seinen „Sommersprossen“ (sprich; ganz dunkle Flecken auf seiner ohnehin schon dunklen Schnauze).
„Wo ist denn dein Herrchen, Kleiner?“ – fragte ich ihn.
Er starrte mich nur an – mit seinen treuen Hundeaugen.
Ich sah mich um, lauschte dem Rauschen der Autobahn und überlegte mir, was ich tun sollte.
Ich konnte ihn da nicht einfach stehen lassen. Das konnten vielleicht andere Leute – aber ich nicht.
Als ich den Gedanken durchging, einfach abzuhauen (Scheiß auf mein schlechtes Gewissen!), fing er plötzlich an zu winseln. Er legte den Kopf schief, musterte mich und heulte herzzerreißend.
Ich dachte daran, wie meine Nachbarn darauf reagieren würden, wenn ich mit einem Hund ankäme...
Herrgott, sein Winseln, sein Blick brachte mich dazu, das zu denken.
„Jajaja, mein Guter“, sagte ich.
Er bellte.
Verdammter Mistköter, dachte ich, du weißt, wie du’s anstellen mußt, wie?
Das war der Tag, an dem ich anfing, auf meine Einkaufsliste „Hundeleine“ zu schreiben.

Ich nahm ihn also mit nach Hause. Meine Mutter besuchte ich nach diesem Zwischenfall natürlich doch nicht. War auch recht froh darüber, wie ich ehrlich zugeben muß.
Ich fuhr einige Kilometer mit dem kleinen Kerl in meine Heimat zurück – nach Prenzlau.
Zuerst hatte ich ihn hinten, im Kofferraum (der war bei mir natürlich offen hinter den Rücksitzen) – aber da tat er nicht gut. Also mußte ich wieder eine Raststätte anfahren, weil ich dachte, er müßte mal... Sie wissen schon was...
Aber das mußte er nicht. Er stand da und schaute mich mit großen Augen an.
„Junge, was is‘ los?“, fragte ich ihn. Aber er gab mir keine Antwort.
Dann verdrückte ich mich mit ihm in die Büsche und hob den Fuß wie ein Hund – vielleicht war er ja noch jung und man mußte ihm erst zeigen, wie das ging... Sie wissen schon was...
Aber er sah mich an und ich schwöre, er lachte mich aus.
Ich seufzte, dachte, er würde auf dem Rücksitz vielleicht gut tun... Aber weit gefehlt; er begann wieder zu winseln und mit den Beinen gegen den Sitz zu scharren.
Also fuhr ich die nächste Raststätte an und machte Halt.
„Du wartest hier“, sagte ich zu ihm und knallte die Tür zu. Ich war mir sicher, diesmal endgültig herausgefunden zu haben, was dem Kleinen fehlte; er hatte Hunger, er brauchte was zu futtern. Ganz sicher hatte er Hunger, der arme Kerl.
Zum damaligen Zeitpunkt wußte ich leider noch nicht, daß Hunde immer Hunger haben, wenn sie etwas zu Essen riechen oder sehen.
Ich ging also und kaufte ihm ein paar Hundekuchen, mir Zigaretten, die es dort gleich Haufenweise gab.
Als ich zurück kam, hatte er sämtliche Fensterscheiben vollgesabbert.
Ich setzte mich auf meinen Sitz und gab ihm seine Hundekuchen, die fürchterlich stanken.
Er verschlang sie mit wedelndem Schwanz.
„Ja, das gefällt dir, was?“
Er schlabberte und schlabberte.
„Jetzt muß ich wegen dir mein Auto putzen.“
Er sah mich an, fuhr sich mit der Zunge übers Maul und lechzte nach mehr.
Als ich ihm nichts mehr gab, die Tüte auf den Beifahrersitz warf, winselte er wieder.
„Nein, jetzt hast du genug, mein Freund.“
Er winselte und winselte und winselte – und irgendwann, als ich mich schon an das Winseln hinter mir gewöhnt hatte, fing er auch noch an zu heulen.
Das reichte.
Ich fuhr wieder eine Raststätte an und gab ihm den Rest der Hundekuchen.
„Dir muß man ja noch richtige Manieren beibringen!“, seufzte ich und rollte mit den Augen.
Dann, kaum waren wir wieder auf der Autobahn, setzte er sich in den Kopf, auf den Beifahrersitz zu springen.
Ich geriet diesmal wirklich in Panik und brüllte ihn an, daß er das lassen sollte... Daß er wenigstens bis zur nächsten Raststätte warten sollte...
Dann begann ich zu betteln und zu flehen... Er wollte mir nämlich immer wieder ins Lenkrad greifen und selbst das Steuer übernehmen.
Ich brüllte ihn an – und letzten Endes fing ich an, mit meinem Leben abzuschließen, denn der Kleine hatte eine ganz schöne Gewalt... Komische Art zu sterben; mitten auf der Autobahn durch einen Hund in den Tod getrieben...
Boom. Poff. Alles aus.
Sterne – würde man Sterne sehen?
Aber der Kleine schaffte es tatsächlich, daß wir die Fahrt überlebten; irgendwann und irgendwie saß er neben mir und grinste mich an.
Ich schwöre; er grinste. Drei Finger druff, Sie können‘s mir glauben.
Dieses Vieh von einem Mistvieh... diese Mißgeburt von einem Hund saß neben mir, ließ den leichten Fahrtwind (ich hatte das Fenster ein bißchen heruntergekurbelt) durch sein Haar streichen und lugte neben sich aus dem Fenster.
„Du bist ein Scheißkerl. Verrückt bist du auch. Und unheimlich bescheuert. Hättest uns fast umgebracht – Bello.“
Ich beschloß, ihn zur Strafe vorübergehend Bello zu nennen.
Aber diese Strafe umging er kurzerhand, in dem er wieder anfing, herzzerreißend zu winseln – und alle meine Bitten, alle meine Gebärden, er möge doch endlich die Klappe halten, damit ignorierte...
Kurzum; ob Bello, Egon oder Karl – er wollte was zu essen.
Und ich hatte zu gehorchen.
Ich suchte nach der Ankündigung der nächsten Autobahnraststätte.

Zum Glück lebte ich nicht wirklich in der Stadt, sondern etwas Außerhalb. Wir haben einen großen Wald nicht weit von meinem Heim entfernt – und den plante ich auch gleich in unsere Spaziergänge ein. Ich war ja sowieso zu faul zum Laufen – zu faul, mich überhaupt zu bewegen, vor allem jetzt, wo man mich wegen meinem Herzleiden auf Frührente gesetzt hat.
Ich überlegte mir, ob ich nicht eine Anzeige in die Zeitung setzten sollte; „Ausgesetzter Hund gefunden“ oder so einen Käse – aber dann entschied ich mich dagegen. Ist doch alles Quark mit Soße. Der kleine Kerl war ausgestoßen, er war einsam, ihn wollte keiner haben – ähnlich, wie bei mir. Ich möchte jetzt nicht auf die Tränendrüse drücken oder so einen Quatsch, aber meine Frau hatte mich vor zwanzig Jahren verlassen und seitdem lebe ich allein in Prenzlau – in der Wohnung meiner Eltern.
Ach ja; ab und zu besuchte ich meine fünfundachtzigjährige Mutter. Mein Vater ist schon seit fünfundzwanzig Jahren unter der Erde und zählt die Würmer.
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, „auf den Hund gekommen“ zu sein. Jedenfalls würde der mein Leben in Schwung bringen - immerhin das hatte er schon auf dem Weg nach Hause bewiesen, nicht wahr?
Wir saßen im Wohnzimmer, neben dem Kamin (ich hatte das uralte Haus meiner Eltern übernommen als meine Mutter ins Altersheim kam).
Ja, wir saßen neben dem prasselndem Kamin, als ich ihn mir genauer ansah.
Seine Pfötchen (Riesenpratscher) hoch heben, o ja - er ist ein Männchen. Und wie nennt man das noch gleich in der „Fachsprache für den Hund“? Ich schrieb mir alles, was ich über diesen... Bello... herausfand auf, und beschloß, die „Fachsprache“ im Internetcafé zu ersurfen.
Aber dazu kam ich nie.
Warum? – fragen Sie?
Wegen dem Hund. Wegen Bello, Wurfie, Strolchi – oder...Ach, suchen Sie sich was aus.
Letzten Endes klärten mich die Hundebesitzer, die ich bei unseren ausgiebigen Spaziergängen traf, über die „Fachsprache für den Hund“ auf.
Ach ja, glatt vergessen; aus Bello wurde Pratscher.

Pratscher lernte schnell, wie er mit mir umzugehen hatte; er fing jeden Morgen um Punkt sechs Uhr zu winseln an – was mich natürlich sofort weckte.
Zuerst fluchte ich, dann sagte ich ihm, er solle sich für den Rest des Tages nicht mehr bei mir blicken lassen (einmal wach – immer wach, Sie kennen das ja). Und kaum hatte ich das gesagt, holte ich ihn zu mir ins Bett und wir schmusten eine Runde.
Anschließen versuchte ich, die positive Seite an der Sache zu sehen.
„Wenigstens“, sagte ich dann und sah ihm in die dunklen Hundeaugen. „Wenigstens denkt einer von uns an meine Blase.“
Mit diesen Worten brauchte ich mehrere Anläufe, bis ich Pratscher von mir runter hatte und meinen schlürfenden Gang zur Toilette endlich hinter mich bringen konnte.
Pratscher war mir auch so eine ganz gute Hilfe. Wie Sie vielleicht wissen, kriegt man im zunehmenden Alter gehörige Probleme mit dem Gehör. Und so kann es schon mal vorkommen, daß man die Klingel, die ohnehin schon auf höchste Lautstärke gestellt ist, total überhört. Beim Rasieren zum Beispiel. Oder wenn man ein bißchen klassische Musik hört...
Na ja, wie auch immer – mit Pratscher an meiner Seite überhörte ich niemals eine Klingel.
Der Kleine rastete regelrecht aus.
Zuerst rannte er knurrend durch die ganze Wohnung. Dann bellte er. Dann heulte er. Und wenn er mit alledem fertig war, peilte er seinen Herren an.
„O o“, konnte ich nur noch stammeln, wenn ich ihn auf mich zu rennen sah.
Und PLATSCH – Treffer! Ich mußte mich immer an irgendwas festhalten, um nicht zu Boden zu gehen.
Da lag dann dieses zitternde Häufchen Hund zwischen meinen Beinen und sah mich ängstlich an.
„Alles gut – du Held.“
Aber überhört... wirklich überhört habe ich die Klingel niemals, wenn er bei mir war.

Unsere Spaziergänge. Ich muß Ihnen unbedingt von unseren Spaziergängen erzählen.
Er saß neben mir auf dem Beifahrersitz, wenn wir an den Wald fuhren. Im Kofferraum tat er ja nicht gut – und auf dem Rücksitz auch nicht.
Also saß Pratscher neben mir, begutachtete höchst-kritisch jede meiner Handbewegungen – ob jetzt Gangschaltung oder Lenkrad.
Denk nicht mal dran“, sagte ich zu ihm, wenn ich das Blitzen in seinen Augen sah.
Dieses leichte, kurze Aufflackern, wenn er eine Gemeinheit im Kopf hatte. Wenn er etwas anstellen wollte.
„Du kannst nicht Autofahren, mein Freund. Also denk nicht mal dran. Sonst läufst du heim. Oder noch besser; ich kette dich an den Auspuff und du rennst nach Hause.“
Meistens tat er die Gemeinheit trotzdem – er wußte ja genau, daß ich sowas nie tun würde. Vor allem nicht die Sachen, die ich immer drohte, zu tun.
Einmal pinkelte er mir auf den Beifahrersitz. Das stank die nächsten drei Wochen.
Ein anderes Mal fühlte er sich für die Gangschaltung verantwortlich – und bei meiner allerletzten Drohung wollte er das Radio ausbauen.
Und ich? Ich hatte gelernt aus diesen Sachen – ich drohte ihm im Auto so schnell nicht wieder.
Aber ich weiche vom Thema ab. Wenn Sie einen Hund haben, dann kennen Sie all die netten kleinen „Gesten“ Ihres Vierbeiners ja ohnehin. Sie kennen seine überschwengliche Art, wenn er noch ein kleiner Scheißer ist und Ihnen fast die Inneneinrichtung Ihres Wagens demoliert, bis Sie um die Karre gelaufen sind und die Beifahrertür geöffnet haben. Sie kennen auch die Sache mit dem „Gassigehen“.
Der Hund will meistens eine ganz andere Richtung einschlagen, als Sie.
So – was tut man jetzt?
Anfangs wollte ich wirklich meine Autorität spielen lassen; mit stolz geschwellter Brust beugte ich mich über ihn und hob den Zeigefinger.
„Pratscher“, sagte ich mit strenger, tiefer Stimme, „so geht das nicht. Wir gehen jetzt nicht in den Wald – wir gehen am Waldrand, ob du willst oder nicht.“
Und als er nicht wollte, als er sich hinsetzte und protestierte, nahm ich ihn an die Leine.
„Das nächste mal hole ich mir ein Stachelhalsband, du kleiner Stinker – dann hat sich die Sache für dich.“
Aber – wie immer – es blieb natürlich bei den Drohungen.
Pratscher wollte nicht – was sollte ich also tun?
Ich zerrte ihn ein bißchen hinter mir her, dann fing er wieder zu winseln und zu heulen an – und schließlich (Sie kennen das ja alle) drehte ich frustriert, am Boden zerstört um und ging den Weg, den mein Hund gehen wollte.
Er hüpfte natürlich mit hoch erhobenem, siegessicherem Haupt vor mir herum und ich schalt mich selbst irgendwas an meiner Erziehung falsch gemacht zu haben.

Und dann erst der Auslauf, den ein junger Hund braucht.
Himmel, wenn mir das einer vorher gesagt hätte, hätte ich mich darauf erst gar nicht eingelassen!
Wir sind regelmäßig viermal durch den Wald gelaufen, dann ein bißchen über die Felder und schließlich am Waldrand zurück, bis Pratscher mal zufrieden war.
Nachdem ich regelmäßig auf dem Zahnfleisch hinter ihm herging und in Jubelschreie ausbrach, wenn ich mein Auto (mein treues, liebes, pflegeleichtes, total schrecklich aussehendes (Dank Pratscher) Auto) sah, beschloß ich, mir ein Fahrrad zu kaufen.
Das habe ich dann auch getan – 21 Gänge, Superreifen aus China. Bremsen, so modern, daß ich erst mal lernen mußte, sie zu betätigen.
Und schließlich sagte ich zu meinem kleinen Freund: „Pratscher, diesmal wirst du mich nicht fertig machen. Wirst sehen. Diesmal haben wir einen Weg gefunden dich müde zu kriegen und mich fit zu halten.“
Ich brauchte 30 Minuten bis ich mein Super-Fahrrad im Kofferraum sicher verstaut hatte.
Ich war nach fünfzehn Minuten wieder soweit, wie sonst auch immer; ich schob mein Fahrrad. Ging völlig außer Atem hinter Pratscher her.
Fazit: Niemand hatte mir gesagt, daß Fahrradfahren wirklich anstrengend ist, vor allem dann, wenn man gelegentlich eine Abkürzung durch den Wald machen will... Und daß der Wald teilweise hügelig ist, hatte mir auch vorher niemand gesagt.
Außerdem war es die reinste Katastrophe, wenn uns ein anderer Hund entgegen kam.
„PRAAATTTSCHHHER!!! Hier! Fuß, Sitz, Platz!“
Aber Pratscher, an meiner Leine sicher verwahrt (?), zerrte mich armen, alten Mann überallhin, nur nicht dorthin, wo ich hinwollte.
Letzten Endes landete ich mit meinem 21-Gänge-Fahrrad und den Reifen aus China im Graben und starrte meinem Hund, der natürlich von allem nichts wußte und so unschuldig wie ein Lamm war, in die großen Augen.
„Pratscher“, hauchte, flüsterte ich aus dem Graben heraus. „Pratscher – so geht das nicht. Du hast mein Fahrrad kaputt gemacht und beinahe hätte ich noch diesen Dackel überfahren, der uns entgegen gekommen ist.“
Er gähnte.
„Pratscher“, fügte ich hinzu. „Ich bin dein Herrchen – nicht anders herum. Du mußt mir folgen. Alles klar?“
Wenigstens half er mir aus dem Graben heraus.
Mein Fahrrad aber, das hatte Totalschaden. Und ich stank drei Wochen nach Pferdemist und Hundekacke.

Als ich meiner Mutter am Telefon erzählte, daß ich nun einen Hund hatte, schrie sie mich so sehr an, daß ich den Hörer einen halben Meter von mir weg halten mußte.
„ABER DU WEISST DOCH GAR NICHT, WIE MAN MIT SO EINEM TIER UMGEHEN MUSS!!!“
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie dastand – mit ihrem blauen Nachthemd – und der Speichel beim Sprechen nur so von ihren Lippen sprühte.
„Mama, du hast ja recht, aber...“
„UND DIE HUNDESTEUER! DIESE GOTTVERDAMMTE HUNDESTEUER!!! MEIN JUNGE, HAST DU EINE AHNUNG, WIE HOCH DIE JÄHRLICH IST???“
Ich betete zu Gott, er möge mich erlösen.
„UND WIE STELLST DU DIR DAS MIT DER VERANTWORTUNG VOR??? ALS KIND KONNTE MAN DIR NOCH NICHT MAL DEINEN EIGENEN [ZENSIERT] ANVERTRAUEN!!!“
„Ja, Mama... ich bin jetzt aber kein Kind mehr. Ich...“
„UND DER HUND FÜHRT DICH DOCH NUR AN DER NASE HERUM! DU BIST SOWIESO LEICHT MANIPULIERBAR, DU...“
Das allerdings, so dachte ich, stimmt.
Ich hörte, wie im Hintergrund die ersten Ärzte angerannt kamen. Ich hatte es bildlich vor mir, wie meine tapfere, alte Mama mit ihnen rang, ehe sie resigniert die scharfe Nadel einer Beruhigungsspritze in ihrem Hintern zu spüren bekam.
Arme, alte Mama...
Ich hörte das vertraute Klicken der Leitung – und dann das Freizeichen.
Ich seufzte.
Pratscher saß vor mir und legte den Kopf schief.
„Um Gotteswillen“, sagte ich zu ihm, „wenn ich im Alter auch so werde, dann bring‘ mich vorher um.“
Mir war, als hätte mein treuer Freund, mein Kamerad, mein Leidensgenosse nicht nur gegrinst, sondern auch genickt.

Aber es ging nicht immer lustig zu.
Ein Jahr später machte mir mein Rheuma schwer zu schaffen – und dann starb meine Mutter an einem Herzinfarkt.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich ohne Pratscher in dieser Zeit getan hätte. Eigentlich war mein Leben ja finito (- aus, vorbei -), denn ich wußte beim besten Willen nicht, was mich noch hielt: Das Rheuma brachte mich fast um den Verstand – ja, selbst das „Gassigehen“ mit meinem Kameraden machte mir zu schaffen, obwohl er anders als sonst war. Meine Frau war schon seit vielen Jahren weg. Kinder hatte ich nicht. Verwandte waren auf dem ganzen Kontinent verstreut und hatte ich seit ich denken kann nicht zu Gesicht bekommen...
Es war eigentlich aus und vorbei.
Ich bin fest davon überzeugt, daß Pratscher das wußte oder zumindest gespürt hatte, denn der sonst immer so umtriebige Hund verwandelte sich in ein braves Lämmchen; er ging Fuß. Er setzte sich hin, wenn ich es ihm sagte. Er wartete auf mich, wenn er zu schnell war... --- und er hörte mir zu, wenn ich ihm etwas erzählte.
Und es gab eine Menge zu erzählen. Ich glaube, mein ganzes Leben hat er schon gehört.
Manchmal aber schwiegen wir beide und gingen einfach so nebeneinander her. In solchen Momenten, da spürte ich genau, daß ich nichts zu sagen brauchte, um die Stille zu durchbrechen. Wir gingen dann einfach so nebeneinander her – durch den Wald, und nichts konnte das Vogelgezwitscher, das Rascheln des Laubes, das Rascheln der Blätter in den Wipfeln der Bäume, durchbrechen – außer vielleicht mein Schluchzen.
Manchmal mußte ich ihn fast schon anschreien, endlich mal zu rennen, zu toben und sein Geschäftchen zu machen.
Und vor allem; er schlug ohne Proteste, ohne auch nur einen Wink von mir, die Richtung ein, die ich gehen wollte – woran ich mich natürlich erst gewöhnen mußte.
Es war, als hätte er Angst, ich könnte jeden Moment umkippen oder zusammenklappen wie ein Taschenmesser. Ich könnte bye-bye sagen zur lieben, weiten Welt, wenn er mich in dieser schweren Zeit zu sehr aufregte.
Und ich könnte ihn wieder aussetzten – ihn alleine lassen, ihn zurücklassen.
Ich weiß nicht, was mein kleiner Freund dachte, aber ich weiß, daß er mich verblüffte und daß ich ihm sehr dankbar war. Daß ich wirklich Gott dankte, ihn zu haben – an meiner Seite, in meinen Armen. Daß er da war, wenn ich ihn brauchte. Daß er da war, wenn ich das Bedürfnis hatte, zu sprechen, zu schmusen und spazieren zu gehen.
Sobald es mir ein bißchen besser ging, war natürlich alles wieder beim Alten.
„PRRRAAAATTTTSSCHHHHEEEERRR!!!!!! DU GOTTVERDAMMES MISTVIEH, WIE OFT HABE ICH DIR SCHON GESAGT, DASS DU NICHT ABHAUEN SOLLST, WENN EIN AUTO KOMMT – HÄH? UND WIE OFT HABE ICH DIR GESAGT, DASS DU.............“

Nach sieben Jahren klopfte das Schicksal an meine Tür. Ich hätte es wirklich rausgeschmissen – aber Sie wissen ja, wie das manchmal so ist; man öffnet ohne durchs Guckloch zu schauen.
Das Schicksal war rot und dickflüssig.
Ich krallte mich am Waschbecken fest, spürte das Pochen in meinem Kopf, als es direkt aus mir herauskam.
Blut.
Ich spuckte Blut ins Waschbecken. Ins schöne, saubere Waschbecken.
Für einen Moment war es mir, als würde meine Ex-Frau hinter mir stehen und zu mir das sagen, was sie kurz nach unserer Trennung zu mir gesagt hatte: „Du denkst vielleicht, dir passieren manche Dinge nie, aber sie passieren trotzdem. Du hast eine dicke Haut – aber irgendwann, da wirst auch DU alt. Und wenn du alt wirst, dann kann dich nichts mehr retten.“
Ich beneidete sie. Sie hatte einen reichen Filmstar geheiratet und eine Menge Kinder bekommen. Und obendrein, das sieht man an ihren Worten, war sie eine echt weise Frau.
Pratscher. Mein zweiter Gedanke galt Pratscher.
Und dann brach ich fast zusammen. Über diesem gottverdammten Waschbecken.
Ich keuchte. Ich sabberte. Ich blutete von innen heraus.
Aber ich ging nicht gleich zum Arzt.
Das Schwierigste war, meinem Hund in die Augen zu sehen. Plötzlich war ich nicht mehr froh, ihn zu haben. Plötzlich verfluchte ich mich selbst. Wissen Sie, da denkt man, man hat im Lotto gewonnen und hinterher stellt man fest, daß Geld ein Fluch ist. Daß Geld stinkt.
So ähnlich ging es mir. Ich brauchte mir da gar nichts vormachen; ich war alt. Pratscher war alt. Ich wußte nicht, wie alt, ich wußte nur, daß er eben... über sieben Jahre alt war. Wer würde sich um ihn kümmern, wenn ich mal nicht mehr war? Wer würde mit ihm reden, wer würde sich morgens den Schuh klauen lassen, wer würde ihn knuddeln, wer würde mit ihm die Lindenstraße schauen, wer würde mit ihm „Gassigehen“, wer würde...? Wer würde das tun, wenn nicht ich?
Was würde aus Pratscher werden, wenn ich nicht mehr war?
„Alter Freund“, sagte ich zu ihm eines morgens, als er wieder zu mir ins Bett kam und seine Schnauze auf meinen Bauch legte. „Alter Freund, langsam ist es vorbei.“
Er sah mich an. Gott, er sah mich einfach an.
Und dann weinte ich. Weinte in sein Fell, weinte und weinte.
„Was machen sie mit dir, wenn ich nicht mehr bin?“, fragte ich ihn. Fragte ich ihn immer wieder. Ich quälte das Tier geradezu mit meinen Tränen - und mit meinen Worten.
Bis ich mir vornahm, mich zusammenzureißen.
Ich ging zu einem Arzt.
Aber der konnte mir auch nichts anderes sagen – besser gesagt; bestätigen.
Er war ein großer, dürrer Mann mit schütterem Haar und einer Nickelbrille. Er kratzte sich an der Stirn, als er mich sah und er gab mir die Hand, als er mich zum letzten Mal verabschiedete.
„Es tut mir leid“, sagte er. „Lungenkrebs. In Ihrem Fall fortgeschritten. Wir... wir können nichts mehr für Sie tun.“
Er wollte mich in ein Krankenhaus überweisen - aber ich sagte ihm, ich hätte noch Besseres zu tun, als die an mir herumdoktorn zu lassen. Immerhin hatte ich Familie.
Ich bedankte mich bei ihm und ging heim.
Zu Hause angekommen schnappte ich meinen Hund, fuhr mit ihm zum Wald und ging erst mal ausgiebig Gassi.
Ich würde also sterben.
Noch ein halbes Jahr gab mir der Arzt.
Und was war mit Pratscher?

Ich begegnete bei einem unserer darauffolgenden Spaziergänge einem kleinen Jungen mit einem großen Leberfleck auf der Stirn. Er hatte einen Rauhaardackel im Arm und deutete immer wieder ängstlich auf meinen Pratscher.
„Hey Kleiner, der tut dir nichts. Ist so brav wie’n Lamm.“
„Ehrlich?“, fragte er und sah mich mit diesen großen Kinderaugen an.
Ein bißchen bereue ich es ja schon, nie Kinder gehabt zu haben. Aber nur ein bißchen, wenn Sie verstehen, was ich meine.
„Jepp. Ist ein guter Kamerad, der Kleine. Gehen wir ein Stück?“
Ich wußte nicht, warum ich mit dem Jungen ein bißchen laufen wollte. Ich hatte ja eigentlich auch gar keinen Grund dafür.
Aber dann begegnete ich seinem Blick und schon waren meine Bedenken, meine Fragen, verflogen.
Er zuckte mit den Schultern und setzte seinen Dackel auf den Boden.
„Wie heißt er?“, fragte ich.
„Chopper.“
„Ist’n ausgefallener Name“, sagte ich.
Er nickte.
„Ist er dein Hund oder der Hund deiner Mutter?“
„Meiner. Meine Mutter mag keine Hunde.“
Er kickte ein paar Steinchen mit den Füßen in einen Graben. Ich erinnerte mich an mein Abenteuer mit dem 21-Gänge-Fahrrad - und mit meinem Pratscher.
„Und da hat sie dir einen erlaubt?“
„Ich hab sie nicht gefragt. Ich hab ihn einfach mitgebracht.“
Ich lachte heißer und plötzlich spürte ich wieder diesen Kloß im Hals...
Du kannst doch jetzt nicht dein rotes al-Dente-Gericht kotzen, wenn der Junge neben dir steht!
„Ist Ihnen nicht gut?“
„Doch. Prächtig, prächtig. Alles prächtig.“
„Sind Sie krank?“
„Was? Ich? Niemals. Ich hab `ne Lunge wie’n Tiefseetaucher.“
„Was ist ein Tiefseetaucher?“
„Du fragst Sachen, Junge. Ich hab keine Ahnung.“
Und dann lachten wir.
Kinder waren also was wunderbares. Und ich hatte nie welche gehabt... außer Pratscher.
Pratscher ging neben mir her, zeigte kein Interesse für den armen Chopper. Er hatte sich sowieso verändert -–war irgendwie... anders. Genau, wie sich alles verändert hatte.
Die Natur war intensiver. Gespräche waren intensiver. Blicke. Sekunden. Momente.
Ich würde den nächsten Kinofilm nicht mehr erleben, das war mir klar. Zumindest nicht Herr der Ringe, obwohl ich mich so auf die Verfilmung gefreut hatte...
Allerdings; wann war ich das letzte Mal im Kino gewesen? Ohne meinen Pratscher ging ich doch nirgendwo hin.
„Und wie heißt Ihr Hund?“ – riß mich der Junge aus meinen Gedanken.
„Pratscher.“
Er kicherte. „Das ist ja mal ein komischer Name!“
Ich nickte. „So komisch wie der ganze Hund.“
Und dann: „Wie heißt du?“
„Andreas. Aber alle nennen mich nur André.“
Ich blieb stehen und hielt ihm meine Hand hin.
Er runzelte verwirrt die Stirn, wollte aber nicht unhöflich erscheinen – und ergriff sie.
Lungenkrebs ist nicht ansteckend, Kleiner. Keine Sorge. Du wirst an dieser Scheiße nicht krepieren.
„Hallo André.“
„Und wer sind Sie, Herr...“
Ich wollte ihm meinen Namen nicht nennen. Wußte selbst nicht warum. Ich wollte nicht, daß er eines Tages in die Zeitung seiner kaffeeschlürfenden Mama sah und meinen Namen in der Todesanzeige las.
„Sieh mal“, würde er sagen und auf den schwarz eingerahmten Kasten deuten, „den hab ich gekannt! Der hatte einen großen, schwarzen Hund mit `nem weißen Streifen zwischen den Augen. Was ist aus dem Hund geworden, Mami? Was ist denn aus dem Hund geworden, wenn sein Herrchen jetzt nicht mehr lebt?“
Also grinste ich ihn nur an und meinte, ich sei das Herrchen von Pratscher. Diesem Mistvieh da vorne, das gerade an einen Baum pinkelt.
Er schluckte das sogar.
Und als wir an eine Gabelung kamen, verabschiedeten wir uns. Er schlug einen anderen Weg ein als ich.
Ich ergriff kurz seinen Arm, sah ihm in die Augen (Scheiße, er würde Alpträume von mir bekommen) und sagte: „Bewahr‘ deine Tierliebe, mein Junge. Bewahre sie gut, denn Gott hat sie dir gegeben.“
--- und sah ihm nach. Sah, wie er fast erschrocken mit seinem Chopper den Weg entlang rannte – um von mir weg zu kommen. Er rannte vor mir davon – und dann brach ich in Tränen aus.
Das Schicksal rannte niemals davon wie es dieser Junge tat.
Nicht mal vor mir.

Die Tage vergingen und das halbe Jahr, das der Arzt mir noch gegeben hatte, nützte ich mehr oder weniger, um für meinen Pratscher eine Bleibe zu suchen.
Aber er – und ich – wußten ganz genau, daß das im Grunde genommen gar nicht nötig war. Ich wußte nur zu gut, was aus Pratscher nach meinem Tod werden würde. Dazu brauchte er mir nur in die Augen zu schauen.
„Du wirst bei einer netten alten Lady wohnen und ihr ihre Stöckelschuhe klauen“, sagte ich zu ihm und lachte. Mein weißes Taschentuch war schon ganz blutig als ich mich über die Anzeigen beugte.
Meine war mal wieder nicht erschienen.
„Oder nein... das ist nichts. Da machst du diesen Käse bald wieder durch. Alte Weiber sind nicht wetterfest. Ein junges Mädchen muß es sein. Du würdest gut zu einem jungen Mädchen passen, mein Kleiner.“
Aber er winselte bloß und sah in eine andere Richtung.
„Hey, jetzt komm‘ schon! Mußt ja nicht gleich beleidigt sein!“
Zur Versöhnung wollte ich ihn aber nicht in die Arme schließen. Ich wollte, daß er sich etwas von mir distanzierte.
„Und dann wirst du mal Vater werden, okay? Versprich mir, daß du Vater wirst...... Pratscher?“
Er schnüffelte desinteressiert an einem alten Knochen herum, bellte einmal und legte dann wieder den Kopf auf den Boden.
Ich seufzte.
„Also gut... Dann eben auch das nicht. Was willst du dann? Ich hab von Gott nun mal die Einladung bekommen – ich muß die auch annehmen. Das weißt du. Aber ich will nicht – hör‘ mir gut zu, du Mistkerl; ich will n-i-c-h-t , daß du mir so früh schon folgst. Kapiert?“
Er regte sich nicht.
Und ich gab es auf.
Das ist, als würde man mit einem Hund über Politik reden – und es lief letzten Endes ja auch aufs Gleiche hinaus.

Einmal kam eine etwas ältere Lady zu mir, um sich Pratscher anzusehen. Aber der Kerl knurrte sie an, so daß sie fluchtartig wieder die Wohnung verließ. Ich war natürlich sauer auf ihn, schimpfte ihn und drohte ihm, sein Futter zu kürzen – aber letzten Endes wußte ich, was er damit sagen wollte.
Er wollte sagen: Wenn du gehst, dann geh‘ ich auch, Kamerad.
Und letzten Endes hörte ich auch auf, jemanden für ihn zu suchen.

Das Schicksal klopfte aber noch einmal an meine Tür. Schmerzhaft, aber diesmal ließ ich es lieber ein. Es tat weh – klar, aber es war der einzige Weg.
Ich öffnete also die Tür.
Sie legten am Waldrand diese bescheuerten Tollwutbällchen für Füchse und Rehe (das taten sie einmal im Jahr) – und da wollte ich dann natürlich nicht mit meinem Pratscher „Gassigehen“.
Es gab noch eine Ausweichmöglichkeit – und das war nun mal der Feldweg neben der Autobahn.
Ich ließ Pratscher nicht von der Leine, ging mit ihm über die Wiesen und wartete, bis er etwas machte. Aber er sah mich nur mit seinen Kulleraugen an und ich wußte genau, was in seinem Hirn vorging.
Ich mach nur, wenn du mich von der Leine nimmst.
„Mein Freund, so geht das nicht...“
Und ehe ich ihn los hatte, rannte er davon.
Er rannte direkt auf die Autobahn zu.
Ich schrie, kreischte, schrie und rannte ihm hinterher – aber meine alten Knochen trugen mich nicht mehr protestlos. Ich war nicht mehr jung.
Abgesehen davon hätte ich ihn sowieso nicht eingeholt.
Er wurde von einem LKW-Fahrer mittleren Alters, mit schütterem Haar und mächtig viel Schweiß auf der Stirn, überfahren.
„Ich hab ihn nicht gesehen“, sagte er zu mir, weinte und meinte, er hätte mein Leben zerstört.
Ich wiegte meinen Pratscher in den Armen, meinen Pratscher, der es geschafft hatte, die Autobahn für ein paar Minuten in Stillstand zu versetzen.
„Mein Großer“, flüsterte ich in sein Fell. „Mein Großer, was hast du dir nur dabei gedacht?“
Ich mußte den LKW-Fahrer trösten und ihm sagen, daß er nichts dafür könne – obwohl mir das natürlich schwer fiel.
Jetzt trug ich also doch noch meinen Pratscher zu Grabe.
Zuerst klagte ich Gott an, dann dankte ich ihm dafür.

So und das ist meine Geschichte. Ich bin kein Schriftsteller, ich bin noch nicht mal ein Philosoph oder ein besonders gescheiter Mann – aber ich mochte sie gerne erzählen, bevor ich die Würmer zählen gehe, so wie es mein Freund Pratscher jetzt tut – und mein Vater. Und meine Mutter.
Ich habe niemanden mehr. Und am meisten von allem fehlt mir mein kleiner, vierbeiniger Kamerad.
Natürlich kann man sagen, das wäre reiner Zufall gewesen, daß er auf die Autobahn gerannt ist – und wenn sie diese beschissenen Tollwutknöllchen nicht ausgelegt hätten, dann würde er noch leben... Aber ich sage, das war seine vollste Absicht. Das wollte er so.
Obwohl es weh tut, verstehe ich seine Entscheidung.
Wir gehen zusammen, sagte er mir damit, mein kleiner Freund. Und er hat ja Recht – wir gehen auch zusammen.
Der Lungenkrebs frißt mich langsam auf. Aber diesmal ist es kein erschreckendes Gefühl mehr, nein, diesmal ist es eher befreiend. Ich weiß, ich werde bei Pratscher sein, wenn es vorbei ist – denn darauf läuft es nämlich hinaus. Darauf läuft es immer hinaus.
Und meine Mutter kann ihn dann auch endlich kennenlernen. Dann wird sie auch nicht mehr sagen, man hätte mir als Kind noch nicht mal meinen zensierten Arsch anvertrauen können. Ich sehe sie schon vor mir, mit ihrem kritischen Blick... mit dem Speichel, der ihr von den Lippen tropft.
„IST DAS DER HUND???“, wird sie schreien, obwohl ich direkt vor ihr stehe, schwebe, bin.
„Ja, das ist mein Pratscher. Das ist mein Hund, Mama.“
Und er wird ihr gefallen, das weiß ich.
Sie werden lachen, aber irgendwie freue ich mich schon drauf.
Die Uhr tickt – ich hör‘ sie ticken, ich spüre sie ticken. Mir laufen Tränen über die geschwollenen Wangen und ich habe hier neben mir zwei Dutzend vollgeblutete al-Dente-Taschentücher.
Aber es dauert ja nicht mehr lange.
Ich warte nur drauf, bis das Schicksal wieder an meine Tür klopft. Ich warte drauf und vertreibe mir derweilen die Zeit mit Erinnerungen.
Es dauert ja nicht mehr lange.
Und dann kann ich Pratscher mächtig verschimpfen, was er sich denn eigentlich dabei gedacht hat, einfach auf diese dämliche Autobahn zu rennen.
Wissen Sie, es ist schon komisch; an der Autobahn hat alles angefangen. Auf der Autobahn hat es dann schließlich geendet.
Und wissen Sie noch was? Irgendjemand hat mal zu mir gesagt, alle Geschichten würden tragisch enden.
Er hatte unrecht.
Vielleicht enden viele Geschichten tragisch – aber nicht diese. Nein, nicht diese hier, verstehen Sie.
Denn die hier hat ein Happy End.



Stefanie Kißling, 25. September 2001

 

Tach auch!

Also, wenn du es jetzt noch schaffst, den Ödipuskomplex (der Typ ist 55 und fragt seine Mutter um Erlaubnis????) zu entschärfen und die Geschichte auch aus der Sichtweise eines Mannes schreibst, ja dann, dann könnte was draus werden!

So liest sich das wie die Story eines 15jährigen Mädels, welches Tiere über alles liebt.

Auch diese Fahrradszene wirkt unglaubwürdig!

So kann ich der Geschichte wirklich fast nichts abgewinnen. Wobei ich zugeben muß, daß mir Haustiere so ziemlich am A...h vorbeigehen, entschuldige, aber da könnte selbst Bambi höchstpersönlich auf der Autobahn stehen und mich mit tellergroßen, tränenden Augen ansehen, ich würde weiterfahren. Tja.

- - - - -

Noch was:

Und kaum hatte ich das gesagt, holte ich ihn zu mir ins Bett und wir schmusten eine Runde.

:D !!!SKANDAL!!! :D

Sodele + Nix für ungut!

Poncher

 

Er fragt seine Mutter nicht um Erlaubnis. Er erzählt es ihr.

Aber ich gebe Dir recht; die Geschichte versteht man vielleicht wirklich nur, wenn man Tiere so sehr liebt, wie Menschen... ;)

Griasle
stephy

 

Man, Ponch, Stephy mag halt Haustiere, ganz besonders Hunde, so wie es scheint. Ich mag Haustiere auch nicht sonderlich. Ich fand es aber interessant, einmal von einer Freundschaft zwischen Mensch und Hund zu lesen.
Ich verstehe nämlich nichts von Hunden; und wenn Stephy etwas darüber erzählt, dann weiss ich ja, dass ich das glauben kann. Es haben sich auch einige Fragen aufgetan. Wie auch immer ...
In einem muss ich Ponch zustimmen. An manchen Stellen habe auch ich gedacht, dass ein 55-jähriger kaum so denken wird. Es ist ja auch nicht einfach in diesem Alter aus der Sicht eines Seniors zu schreiben. Ich kenne dieses Problem, da ich selbst vor ca. zwei Wochen eine Geschichte aus der Sicht eines älteren Herren geschrieben habe, auch nahe dem Tode. Na ja, ihr müsst nicht suchen, da ich sie noch nicht hier hineingesetzt habe.
Ich finde die Geschichte als Info über Hunde ganz nett. Ansonsten solltest Du einige Sachen noch einmal überdenken. Der 55-Jährige, männlich und an seiner Mutter hängend. Hast Du da nicht zu viel von Dir hineingebracht (vielleicht, scheint mir so)? Hättest Du dann nicht von einer leukämiekranken 20-Jährigen schreiben können (als Beispiel)? Das hätte gedankenmäßig gestimmt.

 

Ich bin selbst mit Hunden groß geworden. Ich habe selbst alte Leute gesehen, wie sie sind, wenn sie mit Tieren zusammenkommen.
Sie verändern sich.
Sie werden wirklich wieder zu Kindern... sie reden anders... sie... sind anders. ;)
Außerdem habe ich mich an meiner Oma orientiert. Die ist über 55 - und die redet genauso wie der Herr hier... ;)
Er kriecht seiner Mutter ja auch nicht in den Arsch, er erzählt ihr nur, daß er einen Hund hat... :rolleyes: :D
Die Mutter ist ja auch wirklich nur ein Nebenpart... *grins*
Die Freundschaft zwischen Hund und Mensch - die isses.
Die Freundschaft, die ich jetzt zu Dusty empfunden habe... die Liebe... Ich kann das gar nicht beschreiben.
Als er starb, ist ein Bruder, ein Teil von mir gestorben. Das ist... das ist, als würde man ein großes Stück aus dir herausreißen und dich dann auch noch auslachen... So in etwa... *seufzt*

... und meistens sind's ja auch diese kleinen Dinge im Alltag. Bei uns trägt es sich alles in allem so zu, wie bei dem Herrn da... *g* Da schimpft man und macht und schreit seinen Hund an, nein, er dürfe jetzt nicht ins Bett... Und wenn er dann mal Ruhe gibt, ist es einem auch nicht wohl - und man holt ihn. Beim Gassigehen... Das ist einfach so, daß man da hingeht, wo der Hund hin will... Und all sowas.
Glaubt mir.
Ich hab's erlebt und erlebe es wieder.
Und wieder.
Und wieder... :D

Gruß
stephy

 

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