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Mein Leben
Mittwoch, 11.10.
Sehnsüchtig schaute ich aus der Heckscheibe unseres Autos.
Sehnsüchtig schaute ich auf unser altes Haus.
Sehnsüchtig schaute ich auf unser altes Leben.
Als unser altes Heim nicht mehr zu sehen war, drehte ich mich wieder um.
Ich saß alleine auf der Rückbank. Meine Eltern saßen euphorisch auf ihren Plätzen und schmiedeten Pläne für die nächsten Wochen.
Für die nächsten Wochen in unserem neuen Haus.
Wir mussten ausziehen, weil mein Vater sein Geschäft nicht mehr halten konnte.
Jetzt ist er Angestellter in einer Schuhfirma und das 400 km entfernt von unserem schönen Heimatdorf.
Eine kleine Träne lief mir die Wange hinunter.Plötzlich erscheint mir alles so wertvoll.
Meine Freunde, unser altes Haus und die Schule. Ja, auch die Schule mit ihrem
öden Aussehen und den schrulligen Lehrern.
Ich wische die Träne weg.
Jetzt beginnt ein neues Lebenskapitel!
Ich klappe das Buch zu. Mit einem Lächeln schaute ich noch einmal auf das
Cover – es waren lauter kleine Blumen in Pastellfarben abgebildet. Die Blumen bilden die Form eines Herzens.
Irgendwie ist es komisch so einen Tagebucheintrag zu lesen, schließlich waren jetzt schon 65 Jahre vergangen. Ich bin zwölf gewesen, als ich das geschrieben hatte.
Wo ist bloß die Zeit geblieben?
Ich bin zwei Mal verheiratet gewesen.
Ich habe vier Kinder. Alle vier aus erster Ehe.
Oh, meine lieben Kinder! Anja, meine Älteste war schon längst verheiratet, sie hatte zwei Söhne,Zwillinge, Kevin und Hannes.
Das sind vielleicht Racker ! Genauso wie Henrik, der Kleine von meinem Sohn Henning und seiner Frau Liliane. Meine zwei Jüngsten, Linda und Nils, sie waren auch Zwillinge, waren noch nicht verheiratet, haben aber beide eine Freundin.
Natürlich war auch mein hochangesehener Job bei der Zeitschrift „Style“ erwähneswert. Dort verbrachte ich so manche Stunde als Journalistin.
Mein Leben war toll. Ich hatte viel erreicht. Ich habe 4 wunderbare Kinder und 3 tolle Enkel. Und nun?
Jetzt liege ich gefesselt an einem Krankenhausbett.Jeden Tag sehe ich die gleichen Gesichter, die Stationsschwester, der Arzt der zur Visite kommt...Immer dieselben Möbel, die gewohnte weiße Krankenhauswand, das lästige Piepen von den Geräten, die mich am Leben halten und natürlich mein Bettnachbar, ein Wachkomapatient. Ich lag am Fenster, weil es für ihn keinen Zweck hat.
Was mache ich eigentlich hier? Ich kann weder gehen noch stehen.
Nur noch Maschinen halten mich am Leben.
Kann ich eigentlich Leben dazu sagen?
Ich halte das Tagebuch immer noch fest in meiner zittrigen Hand.
Ich habe körperlich gelitten. Habe etliche Knochenbrüche hinter mir, habe eine künstliche Hüfte und ich bin alt geworden. Mit alt meine ich die Syntome:
Zittern, nicht mehr richtig schreiben können, die Augen werden schlechter.
Alles in der Art. Ich fühle mich gräßlich.
Wenigstens bin ich geistig fit. Mein einzigster Trost. Zu den wichtigsten Ereignissen wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag kommen tatsächlich noch ein paar Verwandte. Nur meine Kinder sind mir treu geblieben. Mindestens einmal die Woche kommen sie zu Besuch.
Ich gucke missmutig zu meiner Lebensversicherung, die lebenserhaltenen Geräte, und lausche dem regelmäßigen Piepen.
Soll ich meinem Leben ein Ende bereiten? Soll ich endlich Schluss machen?
Wenn ich mich aufsetze, komme ich an den richtigen Schalter heran.
Doch ich verwarf den Gedanken, das kann ich meinen Kindern doch nicht an tun.
Zufrieden, dass ich den entsprechenden Schaltern doch nicht betätigt habe, schlafe ich an diesem Abend ein. Das Tagebuch liegt auf meinem Nachtschrank.
Plötzlich wache ich auf, es muss mitten in der Nacht sein.
Ich merke, dass das Piepen unregelmäßig ist.
Ich weiß was das bedeutet. Meine Hand greift den Krankenschwesternotknopf.
Schnell drücke ich.
Doch als die Schwester herein kommt, ist es zu spät.
Ich bin friedlich eingeschlafen.
Die Geräte machen einen gleichmäßigen, durchgehenden Pfeifton.