Mein Luftschloss
Manchmal, wenn ich des Nachts scheinbar endlos wach liege…Eine Zigarette nach der anderen rauche… Mich die Zukunftsängste plagen, die Sorgen quälen und einfach nicht in den ersehnten Schlaf flüchten lassen wollen… Dann mache ich mich auf zu meinem Luftschloss.
Der Weg ist nicht weit und relativ einfach, wenn man weiß wo er zu finden ist. Bei mir beginnt er im Schlafzimmer. Dort erwächst in mitten des Raumes ein Baum, in dessen Stamm Stufen eingelassen sind, welche sich rund um ihn ziehen und somit eine Art Wendeltreppe bilden, ähnlich der Geschichte mit den Bohnen, aus denen ein Baum in den Himmel wächst. Nur, dass es mein Baum ist und die Stufen gerade so weit führen, wie ich Lust und Kraft habe sie hinauf zu steigen. Wenn es mir reicht, die Knie langsam schmerzen und der Atem knapp wird, dann bin ich angekommen. Hinter der nächsten Biegung erscheint ein Absatz, der das Ende der Treppe gebietet und den Anfang meiner geheimen Welt eröffnet. Dort verharre ich kurz, lasse meine Seele aufatmen, schüttele die restlichen Sorgen, die immer noch wie Blutegel an mir kleben, einfach ab und gebe mich dem Anblick der Idylle einfach hin. Vor mir erstreckt sich eine scheinbar endlose zartrosa Wolkendecke und weit entfernt am Horizont erahne ich mein Schloss, das von hier fast wie ein Spielzeuggebäude aussieht. Doch bevor ich mich auf dem Weg zu ihm machen kann, muss ich noch die kleine Kluft zwischen Treppenabsatz und Wolkendecke überwinden. Eigentlich braucht es dafür nur einen kleinen Sprung, aber jedes Mal braucht es dafür sehr viel Mut. Diese Kluft macht mir Angst und ich kann nicht definieren warum. Unter ihr ist es schwarz und ich habe das Gefühl, dass dort entweder ein grausames Nichts ist oder, was mir wahrscheinlicher erscheint, eine Welt aus Albträumen. Ich habe Angst auszurutschen, in sie hinab zu stürzen und den dort lebenden Monstern zum Opfer zu fallen. Und selbst wenn das alles nicht stimmt, weiß ich im tiefsten Inneren, das dort die Ängste und Sorgen gedeihen. Wie schreckliche, riesige, fleischfressende Pflanzen, die nur darauf warten einen Zipfel von mir zu erhaschen und mich dann mit Haut und Haaren zu verschlingen. Ich atme tief durch, springe hoch, höher als ich müsste, und mit angezogenen Knien über das schwarze Etwas hinweg. Aus dem Augenwinkel ist mir so, als ob ich eine giftgrüne, enttäuscht zuckende Ranke in dem Spalt verschwinden sehe. Wer weiß wie knapp es diesmal war?
Ich lande sanft in meinen weichen Wolken, die irgendwie an Zuckerwatte erinnern, nur nicht so kleben. Die Luft hier oben ist mit einem süßen, ebenfalls Zuckerwatte ähnlichen Duft durchzogen, der mich an die Jahrmärkte aus Kindertagen erinnert, tief atme ich sie ein.
Die Ängste von gerade sind vergessen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so da stehe, aber das ist auch egal, weil die Zeit nicht drängt.
Sekunden, die unbarmherzig verstreichen, die sind hier nicht wichtig und haben keine Macht. Schließlich mache ich mich auf den Weg zu meinem Schloss, das schon auf mich wartet.
Die Zuckerwattewolken geben sanft unter meinen anfangs schweren Schritten nach, aber Meter für Meter laufe ich beschwingter und leichter, fast so als wenn eine Last von mir abfällt. Das kleine Spielzeugschloss am Horizont wird nun immer größer und je näher ich komme desto imposanter und schöner ist sein Anblick. Gleich einem Märchenschloss, mit dem Unterschied, dass es aus meinen Träumen und Wünschen erbaut ist. Sanft schillert es in allen erdenklichen Farben, die sich zu einer Aura der Sicherheit und des Friedens vereinen
und die vielen Erker und Türmchen, Bogen und Rundungen, Säulen und Fenster, durch die das warme Sonnenlicht einfallen kann, ergänzen sich zu einer verträumten Sinfonie der Sinne.
Vor dem Schloss erstrecken sich links und rechts üppige Beete mit den herrlichsten Blumen, die nur hier wachsen und mit den Samen meiner Phantasie gesät sind. Ein breiter Kiesweg führt zwischen ihnen entlang und endet an den weit geöffneten Toren, welche mich in mein Schloss einlassen.
Das gesamte Erdgeschoss besteht aus einem großen Saal. Außer einer weiten, geschwungenen Treppe, die sich am oberen Ende teilt und zu beiden Seiten in eine Balustrade ausläuft, befindet sich nichts in ihm. Es sei denn, ich möchte dass sich dort etwas befindet, denn bei Luftschlössern, für die, die sich nicht damit auskennen, ist es so:
In ihnen kann alles sein, man muss es sich nur vorstellen oder wünschen. Wenn mir nach schwimmen zumute ist wird der Saal zu einer Poolanlage, wenn ich tanzen möchte, verwandelt er sich in eine Nobeldisco, in der nur meine Lieblingsmusik läuft, so laut und so lange wie ich will. All das und noch vieles mehr ist möglich, doch heute ist mir nicht danach und ich gehe schnurstracks die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Dort, entlang der Balustrade, befinden sich die weiteren Räumlichkeiten des Schlosses. Alle auf einer Etage, so ist es übersichtlicher und man verläuft sich nicht. Die Zahl der Zimmer ist wohl unendlich und ich habe noch längst nicht jedes erforscht, aber ich habe ein paar Favoriten. Zum Beispiel das Kissenzimmer, das, wie der Name unschwer erkennen lässt, nur aus Kissen besteht. Die Decke, die Wände und auch der Boden sind mit flauschigen, weichen Kissen gepolstert. Oft tobe und tolle ich stundenlang in ihnen herum, auch wenn ich das in meinem Alter wohl nicht mehr tun sollte, aber hier ist es mir erlaubt und ein Riesenspaß.
Dann gibt es das Spielzeugzimmer, in dem wohl alle erdenklichen und unerdenklichen Spielzeuge ihr Heim haben. Hier sitze ich inmitten des ganzen Spielzeuges und merke wie das Kind in mir, allein schon von diesem Anblick, außer sich vor Freude ist. Aber weiter, es gibt noch viel zu sehen. Die Küche ist die komfortabelste und schickste die jemals erfunden und entwickelt wurde. Alle Geräte in ihr sind hochmodern, blitzblank und Nigelnagelneu. Wenn ich Lust habe benutze ich sie und koche selber, wenn nicht, wünsche ich mir einfach das Gericht worauf ich Hunger habe und schwups steht es fertig zubereitet vor mir, praktisch nicht wahr? Auch andere Dinge wie Zigaretten, Süßigkeiten, Getränke, sind im Überfluss vorhanden und Geld spielt hier mal endlich keine Rolle. Kalorien auch nicht und ungesunde Ernährung sowieso nicht. Cholesterin, Zucker, Fett, Nikotin, es ist egal nur der Genuss herrscht hier vor und der Abwasch macht sich von alleine
Nun zu meinem Schlafzimmer, in ihm steht ein gigantisches Himmelbett, es ist so hoch, das ich mich schon ordentlich recken muss um hinein zu klettern, es duftet immer frisch bezogen und die Bettdecken sind herrlich groß, dick und kuschelig. Der Betthimmel ist ein echter Himmel und ein Garant für schöne Träume. Ich habe keine Ahnung wie das funktioniert, aber es ist toll. Dort liege ich oft und beobachte die Sterne, die fast zum greifen nah sind.
Jetzt kommt die Bibliothek, der Raum der soviel Wissen beinhaltet, das mich jedes Mal, wenn ich ihn betrete, ein Gefühl der Ehrfurcht erfasst. Jedes der vorhandenen Bücher ist nach meinem Geschmack. Egal welches ich greife, ich bin sofort von der ersten Zeile an fasziniert.
Das Billardzimmer ist sehr exklusiv und herrschaftlich, ein bisschen im englischen Stil. Normalerweise interessiert mich dieses Spiel überhaupt nicht und die Regeln sind mir gänzlich unbekannt, aber hier bin ich ein Meister und spiele stundenlang mit wachsender Begeisterung. Vielleicht besitze ich ein verstecktes Talent?
Auch ein Badezimmer, darf in einem Luftschloss nicht fehlen und meins ist das Größte für mich. Ich liebes es zu baden und meine Badewanne ist immer mit einem wohltemperierten, duftenden Schaumbad gefüllt. Zu jeder Zeit, ob ich es nun nutze oder nicht. Der ideale Ort um sich zu entspannen.
Die großzügigen Fenster, der jeweiligen Räume, gewähren mir immer Ausblick auf meinen Garten, egal ob ich mich auf der Ost, Süd- oder Westseite des Schlosses befinde. Auch ihn habe ich längst nicht ganz durchschritten, denn es gibt so viele Stellen an denen ich gerne verweile. Bei den schattenspendenden Obstbäumen, deren Früchte süß und saftig sind, auf dem Steg des kleinen Teiches, der von bunten Fischen bewohnt wird, die neugierig um mich herum schwimmen. Oder in den weichen Gräsern, die mir leise raschelnd von der Ewigkeit erzählen. Neben dem Garten liegt ein Park, der eine Vielzahl von Tieren beherbergt, für sie ist ebenso gut gesorgt wie für mich und es ist wunderbar sie anzuschauen. Einen dunklen Stall oder enge Käfig gibt es hier nicht und jedes kann nach seiner Art und ohne Zwänge leben. Überhaupt ist in meinem Luftschloss immer alles perfekt und gepflegt, nirgendwo liegt Staub, alles ist ordentlich und selbst wenn ich durch mein zutun Unordnung entsteht, ist in kürzester Zeit wieder alles aufgeräumt und tadellos. Ich brauche nicht zu putzen oder mich mit unangenehmen Pflichten zu plagen. Frohsinn und Wohlbefinden sind hier oberstes Gebot und Kummer, Krankheit, Leid, müssen draußen bleiben.
Natürlich kann ich nicht für immer in meinem Luftschloss bleiben, denn dann würde es seinen Zauber verlieren und in Gewohnheit zerfallen. Außerdem fehlen mir dort meine Freunde und Liebsten, die ich leider niemals einladen kann. Wenn ich genug Kraft getankt habe, zieht es mich zurück in die wirkliche Welt. Ich mache mich auf den Rückweg ohne mich umzublicken, denn das darf man nicht. Eine wichtige Regel, die nie gebrochen werden sollte, sonst verliert man jeglichen Bezug zur Realität.
Auf meinem Heimweg merke ich, dass ich ein kleines bisschen größer als vorher bin, das ich mich stärker fühle und dass ich wieder frohen Mutes bin. Die Kluft zwischen Wolkendecke und Absatz ist nur noch ein dünner Riss und mit einem Schritt bin ich über ihn weg.
Die Stufen, die ich bei meinem Abstieg hinter mir lasse verschwinden mit einem kleinen puffenden Geräusch und dann bin ich schon wieder in meinem Schlafzimmer. Glücklich sinke ich in die Kissen und ein tiefer, fester Schlaf nimmt mich in Empfang. Ich fühle mich geborgen, wohlig, warm und bin zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Und wenn ich am nächsten morgen die Augen aufschlage bin ich für den alltäglichen Überlebenskampf gerüstet. Ich bin stark, unbesiegbar und motiviert und diese Gefühle halten meist sehr lange an. Mit diesen Empfindungen, dieser neuen Kraft verändere ich mein Leben, gestalte es schöner und gehe meinen weltlichen Weg.
Die Besuche in meinem Luftschloss werden mit der Zeit merklich seltener, doch so ganz verabschieden will ich mich nicht, ab und an muss ich wieder hin um nach dem Rechten zu sehen.