- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Mein Mörder und ich
Mein Mörder und ich
Die abgenutzten Scheibenwischer zogen Schlieren und die Straßenbeleuchtung veranstaltete ein Feuerwerk von Lichtreflektionen auf der Frontscheibe des alten Mercedes, auf dessen Dach ein unbeleuchtetes Taxischild auszumachen war. Ein platternder Schneeregen hatte dem Fahrer völlig die Sicht genommen und ihn veranlasst, sein Tempo zunächst auf Schrittgeschwindigkeit zu drosseln, um dann gänzlich am Straßenrand anzuhalten. So plötzlich das Unwetter hereingebrochen war, so unverhofft war die Straßenbegrenzung wieder zu erkennen und das weiße Gestöber war einem winterlichen Nieseln gewichen.
Er hatte es nicht eilig. Penibel wie immer hatte er den neuen Auftrag vorbereitet und schon vor zwei Wochen damit begonnen, täglich zur gleichen Zeit diesen Stadtteil und speziell diese Straße zu observieren - und das zu Fuß oder mit dem Fahrrad, denn ein Auto besaß er nicht.
Zu dieser Stunde gab es hier zwischen Hafen und dem Stadtzentrum keinen Verkehr. Der abendliche Schichtwechsel hatte stattgefunden und der letzte Lkw war zurück über das Kopfsteinpflaster gedonnert, bevor das Nebentor zum Zollbereich des Hafens geschlossen wurde. Bedrohlich mussten die wie Burgruinen aufragenden Backsteinfassaden der Lagerhäuser auf Ängstliche wirken, dachte er, wohl mit ein Grund, dass sich nicht einmal ein Tourist an einem Abend wie diesem hierher verirrte.
Er zog den Schirm der Baseballkappe weiter in die Stirn und beschleunigte bedächtig das Fahrzeug. Während er das Gelände vor sich beobachtete, warf er ständig Blicke in den Rückspiegel und auch auf den Tachometer, um die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht zu überschreiten, denn solch leichtsinnige Fehler konnte er sich in seinem Metier nicht leisten; schon ein Fehler, war einer zuviel. Wie anders hätte er sich zwanzig Jahre in dieser Branche halten können, wenn nicht mit äußerster Disziplin. Und nun würde er bald die Früchte seiner Arbeit genießen können, zunächst in Spanien, später dann vielleicht in Brasilien. Geld genug hatte er. Niemand würde ihn vermissen, das war sicher. Er hatte in seinem unauffälligen Leben kaum Spuren hinterlassen. Zwischen Pflicht und einer gedämpften Vorfreude stand nur noch dieser Auftrag, dieser letzte, der darum aber nicht anders war, als all die anderen zuvor. Ein Auftragskiller machte keine Unterschiede, Auftrag war Auftrag.
Thorsten G. war nun seit zwanzig Jahren bei der Firma und davon fünfzehn im Innendienst. Immer wieder hatte er sich gefragt, wie es gewesen wäre, hätte es nicht diesen Einschnitt in seinem Leben gegeben, diese Verletzung, von der selbst sein Lebensgefährte bis heute nichts anderes wusste, als dass sie von einem Verkehrsunfall herrührte. Sie hatten ihn damals hierher in die Hamburger Filiale versetzt und ihm ein winziges Büro zugewiesen. Hätte er damals nicht Hinnerk gehabt, der ihn mit liebevoller Hingabe umsorgt und innerlich aufgebaut hätte, er hätte nicht weiter machen wollen. Auch wenn sie sich inzwischen auseinander gelebt hatten, ihm verdankte er, dass er sich im Laufe der Zeit nicht nur mit den Umständen und seiner Aufgabe arrangieren konnte, sondern darüber hinaus Zufriedenheit darin gefunden hatte, eine solche Vertrauensposition zu bekleiden.
Womit er als Bayer bis heute nicht klar kam, war das Hamburger Schmuddelwetter. Noch vor ein paar Minuten hatte es dicke, nasse Flocken geschneit, die nun durch einen von heftigen Windböen wirbelnden Nieselregen abgelöst worden waren. Am Ende der Straße, vom Hafen her, tauchte das Licht von Autoscheinwerfern auf, die näher kamen. Seine Zielperson konnte das noch nicht sein, es war noch zu früh, darum senkte er den Kopf auf die Brust und hob ihn erst wieder, als der Wagen an ihm vorbei war und das nachlassende Motorgeräusch Entwarnung signalisierte.
So weit wie möglich hatte er sich in die zurückspringende Toreinfahrt gedrückt, den Kragen seines Capes hochgeschlagen. Er spürte ein Kribbeln in der Magengegend, das er von seinen früheren Außendiensteinsätzen zu erinnern glaubte. Möglicherweise handelte es sich aber auch nur um eine leichte Nervosität, weil er die letzte Möglichkeit wahrnehmen konnte, den Mann zu sehen, dessen Erscheinungsbild er sich in den letzten Jahren hundertfach ausgemalt hatte. Er war gespannt darauf, ob er richtig lag, denn ein Auftragskiller war seiner Erfahrung nach von unauffälliger Natur, ohne besondere Merkmale, der Nachbar von nebenan. Obwohl seine Stimme bei ihren Telefonaten schon durch einen Wandler elektronisch verzerrte wurde, sprach er zudem übertrieben langsam und gleichförmig. Auch zwei Tage zuvor war es nicht anders gewesen, als er Uhrzeit und Adresse für die bevorstehende Übergabe nannte. Doch dann ergänzte er, dies sei für ihn der letzte Einsatz, und er sage das nur, damit nicht für unendliche Zeit Briefe für ihn bei der Post herumlägen. Somit erhielt er heute sein letztes Päckchen.
Den beigefarbenen Mercedes, den er eine Stunde zuvor bei einem Gebrauchtwagenhändler für Taxen ‚ausgeliehen’ hatte, parkte er in einer Seitenstraße und lehnte sich entspannt in den Sitz zurück. Noch dreizehn Minuten, entnahm er den Zeigern im Armaturenbrett, überprüfte die Richtigkeit jedoch noch einmal anhand seiner Armbanduhr.
Es würde ihm nicht schwer fallen, die letzten Jahre in seinem Gedächtnis zu löschen, sie waren bedeutungslos, so wie die, die er exekutiert hatte. Das waren, bis auf einen, Durchschnittsmenschen gewesen. Der Eine genoss in der Öffentlichkeit eine gewisse Popularität, doch selbst an den hatte er keine differenzierte Erinnerung. Warum auch? Selbst das Procedere der Abwicklung würde er bald aus seinem Gedächtnis streichen können, um dann frei zu sein für sein neues Leben.
Von einem neuen Auftrag erfuhr er durch einen postlagernden Brief, der eine verschlüsselte Telefonnummer enthielt. Unter dieser bestimmte er den Treffpunkt mit einem Kurier, der ihm ein Päckchen mit den Unterlagen zu Person und der Hälfte seines Honorars überbrachte. Er verwendete stets nicht registrierte Waffen, die er nach der Tat in Einzelteile zerlegte und diese über mehrere Kilometer gestreut im Hafenbecken und der Elbe versenkte.
Der Rest der Zahlung wurde von seinem Auftraggeber nach Erledigung zu seiner Bank in Spanien überwiesen. Nie hatte es Probleme gegeben, er hatte gute Arbeit geleistet und sie hatten dafür gezahlt.
Thorsten G. dachte zurück. Nachdem er damals niedergeschossen worden und später dazu verdammt war, Außendienstberichte und die Personalakten Ehemaliger zu archivieren, war es wie ein Morgenleuchten, als man ihn zur Kontaktperson für den Mann mit dem Decknamen ‚Frost’ bestimmte. Häufig hatten er Material erhalten und damit Päckchen zusammengestellt und stets die Befürchtung gehabt, dass es möglicherweise nicht planmäßig ablaufen könnte. Dann hatte er sich selber beruhigt und gedacht: ‚Wir werden es schon schaffen, mein Mörder und ich’ und sich köstlich über diese Formulierung amüsiert. Die Päckchen schickte er mit ständig wechselnden Kurieren, und obwohl sich diese Vorgehensweise mit außen stehenden Überbringern bewährt hatte, war er heute auf Anordnung seines ihm unbekannten, obersten Chefs zum Kurier bestimmt worden. So lautete jedenfalls die Aussage seines Abteilungsleiters, der ihm das fertige Päckchen auf den Schreibtisch gelegt hatte.
Ihn fröstelte, und ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es nun so weit war. Als er aufsah, entdeckte er zwei Lichtpunkte, die zu einem sich nähernden Fahrzeug gehörten. Das Klopfen des Dieselmotors wurde lauter und als er erkannte, dass es sich um ein Taxi handelte, geriet er für den Bruchteil einer Sekunde in Aufregung. Doch sofort war er sich darüber im Klaren, dass ‚Frost’ selber am Steuer saß und nicht irgendein Kurier. Etwa hundert Meter von ihm entfernt zog der Wagen von der rechten Fahrbahn langsam auf seine Seite hinüber, rollte heran und die Scheibe öffnete sich. Die Augen des Mannes lagen im tiefen Schatten, und was er bei der schlechten Beleuchtung ansonsten erkennen konnte, war ein nichts sagendes Alltagsgesicht.
Währen Thorsten G. seinen Rollstuhl neben das Auto lenkte, kam dieses unbestimmte Gefühl in seinem Magen wieder hoch und zwar stärker als zuvor. Er war sich sicher, dass das mit seiner Aufgabe zusammenhing, denn ein reiner Kurier war er nicht. Niemand verließ von sich aus die Firma, das hätte ‚Frost’ eigentlich wissen müssen. Während er das Päckchen anhob, zog er aus ihm den Stift heraus, der den Zeitzünder aktivierte, blickte dem Fremden ins Gesicht und reichte ihm das Päckchen durch das Seitenfenster. Der Mann nahm es entgegen, legte es neben sich auf den Beifahrersitz und blickte ihn wieder an. Thorsten G. glaubte, ein leichtes Lächeln zu entdecken und wie ein Faustschlag traf ihn die Erkenntnis. Dieses Gefühl hatte er früher häufig gehabt, und an dem Tag, als er verletzt wurde, ignoriert. Es war sein Instinkt, der den ganzen Abend über Alarm geschlagen hatte. Es würde auch für ihn keinen Einsatz mehr geben.
Das letzte, das er sah, waren ausdruckslos kalte Augen hinter einem Pistolenlauf und der kurze Blitz des Mündungsfeuers.
„Na, dann ist ja alles zur Zufriedenheit abgelaufen“, sagte Hinnerk, der hinter dem Schreibtisch saß, zeigte auf die Tageszeitung vor sich und fuhr kopfschüttelnd fort: „Das wird auch immer schlimmer mit den Drogendealern, nur gut, dass die sich gegenseitig umbringen. Hast du gelesen? Erst wird ein Drogenkurier im Rollstuhl kaltblütig ermordet und dann wird der Mörder von einer Paketbombe zerfetzt!“
„Schlimm, schlimm“, kam die Antwort des Abteilungsleiters, „die Straßen sind einfach nicht mehr sicher.“
Hinnerk stand auf, schob zwei Personalmappen über den Tisch und sagte: „Hier, ‚Frost’ und Thorsten G., die können ins Archiv!“