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Mein Papa
Ich suche meine Brille. Vater ist wiedergekommen. Ich kann ihn hören auf dem Gang, wundere mich, wieso er erst jetzt nach Hause kommt.
Ich lausche seinen Bewegungen, aber nehme sie nicht wirklich wahr, der Alkohol der letzten Nacht wirkt noch zu stark.
Ich bin durcheinander, Vater ist laut geworden, er schreit herum, ich kann nicht verstehen, was er schreit.
Mutter ist aufgewacht, ich kann ihre Stimme hören. Sie klingt weinerlich, leise. Alles kommt wie durch einen weißen Nebel. Ich stehe auf, versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, taumele gegen die Wand, muss mich wieder setzen.
Meine Brille.
Wo ist meine Brille?
Ich bin nicht gerade blind ohne meine Brille, aber die Welt wird undeutlicher, verschwommener ohne sie. Umrisse sind dann keine mehr, existieren nur noch theoretisch. Ich mag das nicht.
Ich suche meine Brille.
Die letzte Nacht ist sehr lang gewesen. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich eingeschlafen bin. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wie ich nach Hause gekommen bin.
Wir haben einen schönen Abend gehabt, mit Feuerwerk und Silvesterparty.
Vater wollte noch länger bleiben.
Ich suche meine Brille.
Ich mache einen nächsten Versuch, aufzustehen, ziehe mich am Schrank hoch, so gut es geht. Dann gelingt es mir, endlich aufrecht im Zimmer zu stehen.
Ich höre ein Geräusch und blicke nach unten. Da liegt mein Bruder, wälzt sich im Tiefschlaf und ist nicht wach zu kriegen. Ich habe es schon versucht, es ist ihm egal. Schlaf ist wichtiger.
Schlaf nur.
Ich suche meine Brille. Werfe die Decke zurück, durchwühle meine dreckigen, nach Rauch stinkenden Kleider vom Abend, finde schließlich mein Etui, öffne es in erleichterter Erwartung.
Sie ist nicht darin. Wo habe ich sie nur hingelegt?
Das Arbeitszimmer fällt mir ein. Aber um dorthin zu gelangen müsste ich in den Gang hinaustreten, in dem mein Vater noch immer lauthals herumpoltert.
Es ist mir egal. Ich taste mich zur Tür, öffne sie und stehe vor Vater, der mich aus einer verschwommenen Welt anblickt.
„Hab ich dich etwa aufgeweckt?“
„Nein, Papa“, lüge ich und drücke mich an ihm vorbei in das nebenan liegende Zimmer, das Arbeitszimmer. Sehr geschmackvoll und modern eingerichtet, mein Lieblingszimmer.
Ich suche meine Brille.
Vater kommt mir hinterher. „Es-es, tut mir leid“, lallt er mir entgegen.
„Ist schon gut, Papa, geh ins Bett.“
Ich suche meine Brille. Nicht auf dem Schreibtisch, nicht auf den riesigen Papierstapeln, nicht beim Computer. Wo ist meine Brille.
Vater kommt auf mich zu, will mich umarmen. Ich stoße ihn weg. „Hör auf, Papa, geh schlafen, geh zu Mutter.“
Seine Augen werden plötzlich riesengroß, Biergestank kommt mir entgegen, als er mich anbrüllt.
„Das darf ich ja nicht!“
Ich suche meine Brille. Wieso darf er nicht zu Mutter ins Bett? Was ist passiert. Ich spüre, wie mein Kopf wieder anfängt sich zu drehen.
Vater greift mich an den Schultern. Er fällt beinahe um dabei und versucht, mir in die Augen zu sehen. Ich lasse es nicht zu, will es nicht.
Ich habe Vater noch nie so erlebt.
Mein Bruder schläft.
Ich suche meine Brille.
„Ich will doch nur, dass sie mich liebt!“ Mein Vater ist ans Fenster getaumelt, hat es geöffnet und ist aufs Fensterbrett geklettert. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, in seinem Zustand, aber er steht da, sieht nach unten.
„Sag ihr, dass ich hier stehe.“
Ich suche meine Brille, kann Vaters Umrisse nur schemenhaft erkennen, aber ich weiß, dass er es nicht ernst meint. Trotzdem, ich muss zu Mutter.
Mutter, wo ist Mutter?
Als ich das Schlafzimmer betrete sehe ich sie auf dem Bett, zusammengekauert und in die Laken heulend.
Mir kommen die Tränen, ich stolpere zu ihr, versuche, sie zu streicheln, weine mit ihr, verstehe nicht, wieso, aber weine, weine.
„Er ist verrückt, ich kann es nicht mehr“, schluchzt Mutter unter der Decke.
Ich versuche, klar zu denken, meinen Kopf in deutlichere Bahnen zu lenken. Aber ich sehe alles nur verschwommen, kann mir keinen Reim auf Dinge machen. Vater heult lauthals auf, im Nebenzimmer.
Vater.
„Mutter“, ich versuche, meine Stimme zu kontrollieren. „Er steht am Fenster.“
Sie schluchzt auf, vergräbt sich noch tiefer in den Laken.
Ich löse mich von ihr, muss zu Vater, kann ihn nicht springen lassen.
Ich suche meine Brille.
Das sind die Depressionen. Vater hat alles verloren, was er besaß, seine Firma, sein Geschäft, sein Lebenswerk.
Wollte uns einen unvergesslichen Silvesterabend bescheren.
Das hat er.
Ich suche meine Brille. Vater steht nicht mehr am Fenster, ich bin erleichtert.
Aber er liegt am Boden, auf dem nackten Parkettboden und weint wie ein kleines Kind. Ich weiß nicht, was ich machen soll, ich habe Vater noch nie so gesehen.
Ich sehe nichts.
Ich suche meine Brille. Auf dem Fenstersims, auf dem Vater gerade noch gestanden hat, nehme ich die Umrisse von etwas wahr. Ich bewege mich in diese Richtung, doch mein Vater hält mich am Knöchel fest.
„Du – du schaffst es allein, ich weiß, dass du es schaffen kannst.“
Ich will nichts mehr hören, Vater weiß nicht, was er redet.
Ich suche meine Brille.
Der Gegenstand auf dem Fenstersims erweist sich als eine umgefallene Kerze.
Vater steht nun auf dem Balkon, scheint etwas klarer zu sein. Ich gehe zu ihm, lehne mich ans Geländer.
„Weißt du, warum ich da nicht runter springe?“ Vater sieht mit traurigen Augen nach unten.
Ich kann nichts erwidern. Kein Sohn sollte etwas auf eine solche Frage erwidern müssen.
Er sieht mich mit seinen glasigen Augen an. „Weil das weh tut, aus dem vierten Stock. Wenn es ein paar Meter höher wäre, würde man gar nichts spüren, da wirst du bewusstlos.“
Ich schlucke, kann nicht reden, Vater muss weg hier.
Er umklammert meine Schulter. „Ihr habt alle ausgesorgt, wenn ich tot bin, weißt du das? Ausgesorgt!“ Er schüttelt den Kopf, wie ein kleines Kind.
„Drei Millionen Lebensversicherung, drei Millionen.“
Vater redet nie über Geld mit mir. Es ist mir egal, ich will keine drei Millionen, ich will meinen Vater.
Aber nicht so.
Ich suche meine Brille.
Gehe zurück ins Schlafzimmer, ziehe Mutter hoch.
„Mutter, du musst den Notdienst rufen, hörst du?“ Sie schaut mich müde an, schüttelt den Kopf.
„Ich kann deinen Vater nicht von der grünen Minna abholen lassen, das weißt du. Er würde die Leute eher umbringen, als mit ihnen zu gehen.“
Ich streichle Mutters Schulter. „Mutter, es ist das Beste für ihn, die Leute wissen schon, was sie tun. Er muss schlafen.“
Ich versuche, stark zu sein, die Führung zu übernehmen, aber dann schießen mir wieder die Tränen in die Augen. „Bitte, Mama.“
Sie sieht mich traurig an, greift dann zum Telefon. „Hol mir das Telefonbuch.“
Vater will gehen. Er zieht sich an. Wo will er denn jetzt hin, er muss schlafen. Ich verriegele die Tür, verstecke den Schlüssel, wo er ihn nicht findet.
Mein Vater wird mich nicht schlagen.
Als er es bemerkt wird er wild, es geht mich an, brüllt: „Wo ist der Schlüssel?“
Ich suche meine Brille, schüttele den Kopf, Tränen strömen mir die Wangen herab. Ich will nichts mehr hören, nichts mehr sehen.
Vater, bitte hör auf, hör auf damit. Benimm dich normal. Warum schläfst du, Bruder? Ist es dir egal, wenn dein Vater ausflippt? Bist du so egoistisch?
Was soll ich tun? Wo bist du, Gott?
Wo ist meine Brille?
Vater packt mich an der Gurgel, lässt dann wieder locker, versucht, normal mit mir zu reden, aber wie ein Schizophrener rastet er dann wieder aus.
Wo bleibt der Notdienst?
Sirenen unten auf der Straße. „Kommen die wegen mir?“ Vater rennt ans Fenster.
Dreht sich um zu mir. „Das könnt ihr nicht mit mir machen, nicht mit mir!“
Ich sehe ihn kaum durch den Schleier von Tränen und Kurzsichtigkeit. „ Papa, es ist doch nur zu deinem Besten!“
Vater geht wie wild im Raum herum, faucht mich an. „Eher bring ich mich um.“ Damit schreitet er zum geöffneten Fenster, will aufs Fenstersims steigen.
Mein Papa. Was tust du? Warum tust du das? Hör auf damit, bitte. Sei wieder normal, sei wieder stark, sei wieder mein Papa.
Ich eile ihm hinterher, erwische ihn am Bein. Er stürzt, knallt mit dem Kopf auf das Marmorsims.
Stille.
Blut fließt auf den Boden, Vater bewegt sich nicht. Ich stehe wie erstarrt, kann kaum etwas sehen.
Papa? Warum sagst du nichts, Papa? Bitte sag doch etwas.
Stille. Unten heulen die Sirenen, es klopft an der Tür.
Meine Brille liegt auf dem Tisch neben mir.