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Mein Radiergummi
Mein Radiergummi liegt schon seit Jahren bei mir auf meinem Arbeitstisch. Es ist ein sehr hübscher Radiergummi, viel zu schade um irgendwann abgenutzt in einem Papierkorb zu landen, deshalb benutze ich ihn nie. Er hat die Form eines Gartenzwerges. Seine Mütze ist rot bemalt, die Jacke ist grün und die Hose blau. Sein Gesicht zeigt ein freches Grinsen, doch das war nicht immer so.
Vor einigen Wochen wurde mein Radiergummi plötzlich sehr Gesprächig. Anfangs war ich ein wenig überrascht und zweifelte an meiner geistigen Verfassung, doch nach und nach realisierte ich, dass mein Radiergummi wohl wirklich sprechen konnte. Und selbst wenn dieser eine Nachmittag nur ein Produkt meiner Phantasie war, die Geschichte die er mir erzählte war sehr mitreissend, deshalb beschloss ich seine Erlebnisse für die Nachwelt festzuhalten. Nun gut, an einigen Stellen habe ich das ganze noch ein wenig ausgeschmückt, aber ich bin sicher dass mir Rubby diese kleinen Erweiterungen vergeben wird.
Rubby wurde vom Fabriklärm geweckt. Er blinzelte scheu ins fahle Licht der Halle und sah sich um. Neben ihm lagen Hunderte seiner Artgenossen, sauber aufgereiht. Direkt vor sich erblickte Rubby einen tiefen Abgrund, der sich zu bewegen schien. Er betrachtete den Abgrund genauer und sprang erschrocken hoch als er erkannte, dass sich nicht der Abgrund, sondern der Boden auf dem er stand bewegte. Völlig hysterisch rannte er zum nächstliegenden Artgenossen und schüttelte ihn wach.
„Was ist los?“ frage der andere verschlafen. Rubby keuchte: „Der Boden! Der Boden bewegt sich!! siehst du? Wer weiss wo wir landen werden, wenn wir hier nicht wegkommen!“ „nun schieb mal nicht gleich Panik mein Kleiner, alles wird gut…“ „gut? In meinen Augen sieht unsere Situation alles andere als gut aus!!!“ Rubby japste nach Luft und starrte dabei sein Gegenüber an. Erst jetzt bemerkte er, dass er einem Mädchen gegenüber stand.
„E-e-entschuldige“, stotterte Rubby „ich… ich habe gar nicht gefragt wie du heisst“ „ich bin Plasta“, antwortete sie „und wie heisst du?“. Rubby streckte ihr die Hand hin „ich bin Rubby“. Plasta lächelte und schüttelte seine Hand. „Freut mich dich kennen zu lernen. Da du dich nun ein wenig beruhigt hast, erzähl doch bitte noch einmal von deinem Problem mit dem Boden“
Fred schlurfte zu seinem Arbeitsplatz. Die Mittagspause war, wie immer, viel zu kurz um sich zu erholen und Zuhause hatte er auch keine Ruhe. Sein 3 Wochen alter Sohn schrie nachts fast stündlich, an Schlaf war kaum zu denken. So stand Fred nun im Halbschlaf vor dem Fliessband und überwachte die Produktion der Radiergummis. In dieser Woche wurden die Deko-Radiergummis produziert, da gab es immerhin etwas mehr zu sehen als simple, weisse Balken. Fred träumte vor sich hin, als eine Unregelmässigkeit auf dem Fliessband seine Aufmerksamkeit erregte. Einer der Radierer war verrutscht und lag nun neben – nein, schon fast auf – dem nächsten. Ein Prüfender Blick auf die restlichen Radierer sagte ihm, dass es nur eine Ausnahme war und wohl nicht an der Maschine liegen würde. Er streckte die Hand aus um den verirrten Radiergummi wieder an seinen Platz zu legen, doch die beiden Radierer bewegten sich plötzlich von alleine, sprangen vom Fliessband und rannten quer durch die Halle. Fred blinzelte und schüttelte den Kopf. „Ich hab mal gelesen, dass Schlafmangel zu Halluzinationen führen kann... vielleicht sollte ich etwas dagegen unternehmen“, dachte er bei sich und schlurfte zum Büro seines Vorgesetzten um sich für den Nachmittag krank zu melden.
„Das war knapp!“, keuchte Rubby „der Riese hätte uns beinahe erwischt!“ „Allerdings!“, antwortete Plasta „ich will gar nicht wissen was er mit uns angestellt hätte.“
Die Beiden verharrten eine Weile schweigend nebeneinander und versuchten dabei, ihre Gedanken zu ordnen. Plasta sah sich in der Fabrikhalle um. Der Raum war voll gestellt mit zischenden Maschinen, ratternden Fliessbändern und tausenden von Kisten. In weiter Ferne erblickte sie eine Fensterfront durch die schwaches Tageslicht fiel. Sie stupste Rubby in die Seite. „Sieh mal, dort hinten finden wir vielleicht einen Weg nach draussen“ „Gute Idee. Los, gehen wir! Aber vorsichtig, vielleicht lauern hier noch weitere Riesen“
Die beiden schlichen sich langsam zur Fensterfront und nutzen dabei jede Kiste und Wand, um sich zu verstecken. Nach einigen Minuten mühsamen Umherschleichens erreichten sie schliesslich ihr Ziel. Sie blickten hoch zu den Fenstern und liessen ihre Blicke nach rechts und links schweifen. „Siehst du irgendwo einen Ausgang?“, fragte Rubby. „Nein, leider nicht“, antwortete Plasta. Sie blickten einander ratlos an. „Was tun wir nun?“, fragte Plasta. „Naja, es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als weiter zu suchen. Komm, gehen wir rechts den Fenstern entlang.“, schlug Rubby vor.
Sie bewegten sich, noch immer sehr vorsichtig, der Fensterfront entlang, huschten von Deckung zu Deckung und nahmen grosse Umwege in kauf, um ein erneutes Zusammentreffen mit einem der Riesen zu vermeiden. Bei einem besonders grossen Stapel Kisten machten sie halt, um sich ein wenig auszuruhen.
„Wir werden den Ausgang niemals finden!“, jammerte Rubby „es ist alles viel zu Riesig, wir werden sterben bevor wir überhaupt die andere Seite erreichen!“ Plasta redete beruhigend auf ihn ein: „Nun sieh nicht gleich schwarz! Wir sind noch gar nicht so lange unterwegs und haben schon eine sehr grosse Strecke zurückgelegt. Ich bin sicher wir finden den Ausgang bald.“ „Hoffentlich hast du Recht“, antwortete Rubby verzweifelt. Sie sassen noch eine Weile da, dann beschlossen sie weiter zu ziehen. Ihr weg gestaltete sich nun ein wenig einfacher. Diese Ecke der Halle war voll gestopft mit Maschinen, Kisten, Tischen und sonstigen Dingen die ihnen Deckung gaben. Sie trafen auf keine Hindernisse und kamen daher gut vorwärts.
„Rubby!!! Dort!!! Schnell, der Ausgang scheint sich wieder zu schliessen!“ Plasta rannte auf die Tür zu. Einer der Riesen hatte sie vor einer Sekunde passiert, hielt es aber scheinbar nicht für nötig, ihnen die Tür aufzuhalten. Auch Rubby rannte nun so schnell er konnte, der verlockenden Freiheit entgegen. Er legte noch an Tempo zu, mobilisierte seine letzten Kräfte…
Die Tür schlug mit einem lauten Krachen zu. Rubby und Plasta standen enttäusch vor der Glastür und starrten hinaus ins Freie. Objektiv betrachtet blickten sie auf eine schmutzige, verregnete Nebenstrasse, doch in ihren Augen schien es wie das Paradies. Sie bemerkten weder den Regen, noch die Überfüllten Abfalleimer am Strassenrand, sondern sahen nur die Freiheit, die hinter der Glasscheibe winkte. Plasta wandte sich von der Tür ab und blickte in die entgegengesetzte Richtung. „Wie sollen wir nun nach Draussen kommen?“, fragte sie Rubby. Er wandte sich zu ihr um und sah sie einige Sekunden lang nachdenklich a, dann antwortete er: „Ich glaube nicht, dass wir stark genug sind um die Tür zu öffnen. Wir brauchen die Hilfe eines Riesen.“ „Aber wie willst du das bewerkstelligen? Willst du einfach einen von ihnen um Hilfe bitten?“, fragte Plasta verwundert. „Das wäre zu riskant.“, antwortete er „aber wir könnten warten bis ein anderer Riese die Tür passieren will und dann mit ihm hinausgehen.“ „Und was, wenn er uns entdeckt?“ „Dann müssen wir schneller laufen“ „Hm… na gut, ich habe auch keinen besseren Plan. Warten wir also auf einen Riesen.“
Fred steuerte den Wagen auf einen freien Parkplatz zu und fluchte dabei vor sich hin. „Scheisse! Ich brauche wirklich etwas Schlaf. Den Hausschlüssel liegen lassen… wie blöd kann man sein? Und ich Idiot bemerke es natürlich auch erst als ich vor der Haustür stehe!“ Er parkte den Wagen und stieg aus. Immer noch schlurfenden Schrittes ging er auf den Nebeneingang der Fabrik zu. Er öffnete die Tür und ging geradewegs zur Garderobe, wo er seinen Schlüssel hingelegt hatte. Ihm fiel dabei nicht auf, dass zwei kleine Gestalten über den Boden huschten…
„Freiheit!!! Wir sind Frei!!!“, schrie Rubby. Er packte Plasta an den Händen und wirbelte sie herum. Sie tanzten durch die Gegend und genossen das Gefühl, aus der Halle der Riesen entkommen zu sein.
Natürlich habe ich Rubby gefragt, wie es weiterging mit Plasta und ihm, doch er antwortete mir, dass der Rest der Geschichte nicht für Riesen bestimmt sei. So kann ich nur diese kurze Episode aus den Anfängen eines Radiererlebens erzählen, aber dennoch wissen sie und ich durch diese kurze Geschichte mehr über Radierer als die meissten „Riesen“.