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Mein treuer Freund

Dan

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01.12.2004
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Mein treuer Freund

Vorsichtig und behutsam setzte Martha ihren rechten Fuß ein weiteres Stück nach vorne. Sie war sich ihrer Sache sicher, es gab kein zurück, doch wollte sie diesen letzten Moment nicht durch Hast und Eile verschwenden. Ruhig zog sie daraufhin auch ihren linken Fuß nach und befand sich schließlich an der äußersten Kante der Dachterrasse. Kalte Luft durchströmte ihre Lungen. Sie sah und spürte ihre Umgebung nun viel klarer und deutlicher als jemals zuvor. Die Farben leuchteten ungewöhnlich intensiv und die Geräusche und Töne um sie herum klagen rein und deutlich. Sie hörte die spielenden Kinder auf der Straße direkt unter ihr. Und auch den nörgelnden Alten an der Bushaltestelle ein Stück weiter, wie er mit saftigem Schmatzen vor sich hin brummelte. Diese letzten Eindrücke wollte sie sich bewahren, es waren ihre leise Fanfaren für ihren persönlichen Abschied. Vorsichtig wandte sie ihren Blick noch einmal auf die Terrasse. In einer Ecke im Schatten einer großen Topfpflanze lag Bruno, ihr Hund, und döste in der Mittagshitze.

Viele würden sie wohl vermissen, aber die Leere in ihr ließ sie selber nichts mehr spüren außer Schmerz und Leiden.
„Machs gut Bruno, du wirst mir fehlen, nur du“, sagte sie laut und wartete auf irgendeine Reaktion, doch nichts geschah und so wandte sie sich wieder zur Straße.
Würde ihr Leben noch einmal an ihr vorbeiziehen? Das wäre schrecklich, gerade deswegen ging sie ja diesen Schritt.
„Typisch! Wenn es dir zu viel wird, einfach Schluss machen. Das passt zu dir.“
Fast wäre sie von dem kleinen Vorsprung gefallen, auf dem sie stand, als sie die Stimme plötzlich hinter sich hörte. Für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, warum sie es nicht hatte geschehen lassen.
Wieder sicher stehend drehte sie sich um. Es war niemand da. Bruno lag noch immer im Schatten, war aber mittlerweile aufgewacht.
Hatte sie mittlerweile schon Halluzinationen?
„Mach dir keine Sorgen Bruno, schlaf nur weiter“ sagte sie zu ihrem Hund und drehte sich wieder zur Straße um.
„Ich weine dir keine Träne nach“, ertönte erneut eine Stimme hinter ihr.
Diesmal blieb Martha ruhig stehen und wartete einen Augenblick, bevor sie sich wieder zur Terrasse umdrehte.
Niemand. Nur Bruno, der sich mittlerweile hingesetzt hatte. Trieb sie diese Situation vielleicht in den Wahnsinn?
„Hallo?“, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor.
„Ist bestimmt nicht so schön, wenn einem vor dem großen Abgang noch einmal alles so richtig durchgeschüttelt wird, was?“
Martha traute ihren Augen und Ohren nicht.
„Br… Bruno?“, stotterte sie.
„Nein, eigentlich nicht. Für dich vielleicht.“
Sie konnte es kaum glauben. Sie stand auf der Dachterrasse und sprach mit ihrem Hund. Feste kniff sie in ihrem Arm. Sofort kam der Schmerz.
„Ja, aber du…“
„Was?“
„…sprichst!“
„Ist dir auch schon aufgefallen, was?“
„Seit wann?“
„Schon immer.“
„Nein, das ist doch unmöglich.“
„Wenn es einer wissen sollte, dann ja wohl ich.“
„Wie… Wieso erst jetzt?“
„Nur weil du mich erst jetzt verstehst, heißt das noch lange nicht, dass ich eben erst angefangen habe zu sprechen.“
Sie zwickte sich erneut in den Arm. Der Schmerz kam wie gewohnt.
„Schau auf meine Schnauze. Ich spreche nicht die menschliche Sprache, aber trotzdem können wir uns unterhalten.“
„Wie?“
„Sag du es mir.“
„Was?“
„Ist in den letzten Minuten irgendetwas Besonderes passiert? Irgendetwas Außergewöhnliches?“
Konnte es wirklich damit zu haben, war es möglich?
„Du meinst, weil ich… diese Sache tun wollte, können wir miteinander reden?“
Martha bewegte sich mit vorsichtigen Schritten von der Kante der Dachterrasse weg. Im gleichen Moment erhob sich Bruno und schritt ihr langsam entgegen.

„Nimmst du nicht deine Umgebung viel deutlicher wahr. Du hattest bereits mit dem Leben abgeschlossen, es auf eine Art und Weise hinter dir gelassen, die deine Sinne verändert haben. Du siehst die Dinge nun ein bisschen mehr so, wie sie wirklich sind.“
Martha blieb einen Meter vom Abgrund entfernt stehen und auch Bruno hielt inne. Sie schaute sich um, blickte an sich herunter und drehte sich schließlich einmal um die eigene Achse.
„Das ist ja fantastisch“, rief sie nun fröhlicher aus. „Wir können miteinander reden und meine Sinne sind so… verändert“, sagte sie und stieg von der kleinen Umrandung herunter, welche um die Terrasse herumführte. Auch Bruno kam ihr nun wieder ein Stück entgegen.
„Im Gegensatz zu dir waren meine Empfindungen mein ganzes Leben schon immer wach, auch wenn es für dich anscheinend nicht erkennbar war.“
„Was soll das heißen, Bruno, dein ganzes Leben?“, fragte Martha verwundert.
„Kannst du dich an diesem kühlen Wintermorgen erinnern, wo du mich…“
„Bruno, lass mich durch, ich will hier weg!“
Bruno begann mit seinen Zähnen zu fletschen und gleichzeitig stellten sich seine Nackenhaare wie ein Kranz auf. Martha wich erschrocken einen Schritt zurück.
„Dieser Wintermorgen war ungewöhnlich kalt. Doch Kälte kann ich gut vertragen. Auf dem Operationstisch hingegen hast du an diesem Tag meinen Willen gebrochen, ihn von einem Henker in Weiß brechen lassen. Hast mir jede Möglichkeit genommen, jemals Nachkommen zu zeugen. Damals war ich enttäuscht und traurig. Jetzt bin ich nur noch wütend.“
„Bruno, du weißt doch, wie das ist …, wir können doch jetzt über alles reden.“
„Erinnerst du dich vielleicht noch daran, wie ich ganz klein war. Ein kleiner süßer Welpe war ich, bestimmt erinnerst du dich. Nur wenn ich auf den Teppich gemacht habe, weil ich es nicht mehr einhalten konnte, dann gab es einen Tritt. Der Rippenbruch von damals ist nie mehr richtig verheilt. Bei jedem Atemzug werde ich daran erinnert.“
„Das war doch keine Absicht, hör mir bitte zu…“
Bruno schritt unaufhörlich auf Martha zu, welche immer weiter vor ihm zurückwich. Ein tiefes Knurren war aus seinem Maul zu hören und zwischen seinen entblößten Zähnen tropfte der Speichel zähflüssig auf den Boden.
„Ich habe doch nichts davon geahnt, Lass uns doch darüber reden“, brachte Martha ängstlich hervor.
„Plötzlich willst du nur reden. Dafür ist es jetzt ein bisschen zu spät.“
Immer weiter drängte Bruno Martha auf der Terrasse zurück.
„Ich hatte keine Ahnung, jetzt wo wir die gleiche Sprache sprechen Das ändert alles…“
Als sie mit ihrem Fuß im Rückwärtsgehen gegen die Umrandung der Terrasse stieß, verlor sie das Gleichgewicht.
„Bruno, hilf mir…“, schrie sie, als sie bereits hinter der Umrandung der Terrasse verschwunden war.
„Nichts hat sich geändert. Nichts“, sagte Bruno und trottete zurück zu seinem Platz im Schatten der Topfpflanze.

 

Hi Dan,

gut an deiner Geschichte finde ich die zweimalige Wendung. Denkt man zunächst an eine typische Suizidstory und wetzt innerlich schon die Messer, ändert sich der Verlauf durch die plötzliche Ansprache und als Rezensent setze ich angesichts des befürchteten Kitschs das gewetzte Messer schon mal an die Brust, bis du mit dem Ende dann der Geschichte und auch deren Titel eine ironische Wendung gibst.

ihn von einem Henker in weiß brechen lassen
in Weiß
Bruno, du weißt doch, wie das ist…
ist(Leerzeichen)...

Lieben Gruß
sim

 

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