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Mein verrückter englischer Freund - eine wahre Geschichte

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06.07.2006
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Mein verrückter englischer Freund - eine wahre Geschichte

1. Wie ich Keith kennen lernte


Heute bekam ich eine E-Mail von meinem englischen Freund. Er heißt Kevan, aber alle nennen ihn Keith.
Er berichtete ausführlich von seinem dreitägigen Irland-Trip. In chronologischer Abfolge ist Irland nach seiner Exfrau, Regensburg, dem Buddhismus und einer jungen Thailänderin namens Laure seine neue Liebe.
Keith ist praktizierender Buddhist und lebt jetzt in Brighton.

Zeit, dass ich einmal seine Geschichte erzähle.

Es war um die Osterzeit im Jahr 2000.
Christine, eine gute Freundin, erzählte mir von „Mr. Bean“, einem verrückten Vogel, den ihre Freundinnen Claudia und Regina auf Gran Canaria kennen gelernt hatten.
„Er ist mit ihnen nach Regensburg gekommen, weil er sich erst kurz vor dem Urlaub von seiner Frau getrennt hat. Du müsstest mal sehen, wenn er den Mr. Bean nachmacht. Ein typischer Engländer.“
Und dann fragte sie mich, ob ich ihn nicht für ein paar Tage in meiner Wohnung aufnehmen würde.
„Nur drei Tage, bis er was anderes gefunden hat. Die Claudia hat keinen Platz.“

Ich bin ja für vieles offen, und nicht zuletzt für ausgeflippte Leute, aber einen wildfremden Mann bei mir wohnen lassen? Okay, zur Not könnte ich alle Wertgegenstände in Sicherheit bringen, ihm ausweichen und nach zwei Tagen rausschmeißen.
Außerdem war es eine Gelegenheit, mein eingeschlafenes Englisch zu beleben, und als Christine ihn mir als fünfzigjährigen, unattraktiven Spaßvogel beschrieb, gingen meine Vorstellungen in Richtung Loosertyp, und ich willigte ein.

Am nächsten Morgen, es war ein Samstag, tauchte Keith bei mir auf. Ein langes, dürres Mitglied der Royal Familie stakste die Treppe zu meiner Wohnung hoch. Er stellte seinen Koffer vor meiner Türe ab, und aus einem blassen Gesicht mit Segelohren und Nasenhaaren lächelten mich dünne Lippen an.
Als er seine wichtigsten Stücke ordentlich auf dem Boden der Schlafcouch in meiner Küche sortiert hatte, bot er mir an, Frühstuck zu machen.
„Do you know Porridge?“
Wow, es ging los! Ein typischer Engländer kocht typisch englischen Haferschleim für mich zum Frühstück! Nachher war ich positiv überrascht von der weißen Pampe.

Ich verstand Keith sehr schlecht, was nicht alleine an meiner fehlenden Sprachpraxis lag. Zwar redete er keinen Dialekt, da er nahe London aufgewachsen war, aber dafür quatschte er sehr schnell und undeutlich.
Eines raffte ich jedenfalls: Keith war in Claudia verliebt. Er schwärmte mir vor, wie zärtlich sie war, als sie zu dritt im Hotelzimmer freundschaftlich kuschelten. So etwas war für Keith eine ganz neue Erfahrung gewesen.
Bis kurz vor Gran Canaria hatte er erst eine einzige Frau in seinem Leben, und die nannte er Darth Waider.

Fünfundzwanzig Jahre war er mit Darth Waider verheiratet. Dann überkam ihn die Midlife-Krise und er betrog sie mit einer Thailänderin. Die Entdeckung des Buddhismus, Rauswurf aus dem gemeinsamen Haus und der alleinige Antritt des zusammen geplanten Gran-Canaria-Urlaub waren die Folgen.
Zwanzig Jahre lang verbrachte der Diplomkaufmann im Spießergefängnis.
Zwanzig Jahre lang hatte er die unausgelebte Jugend im Hinterkopf.
Keith erzählte mir später, er sei in dieser Zeit selbst zum Ekel geworden, und sein einundzwanzigjähriger Sohn Danny hasste ihn. Einmal bedrohte er seinen Vater sogar mit einem Messer.

Auf Gran Canaria feierte Keith tanzend die Befreiung von Darth Waider. Durch Spinnerein, Verrenkungen und Mr.Bean-Parodien auf der Tanzfläche machte er Claudia und Regina auf sich aufmerksam. Die beiden verbrachten im Urlaub viel Zeit mit dem verlorenen Typen. Sie schlossen Freundschaft mit ihm, und Keith verliebte sich in Claudia.

Keith war ein Suchender, und für Suchende wie ihn ist alles Schicksal. So sah er auch die Begegnung mit den beiden deutschen Frauen, und nachdem er kein Zuhause mehr hatte, flog er von Gran Canaria aus direkt mit ihnen nach Regensburg.

In meiner Wohnung blieb Keith wirklich nur drei oder vier Tage. In dieser Zeit machte er einen Campingplatz im Westen ausfindig, blieb dort für eine Woche, um mir dann zu erzählen, er habe sich in die Stadt Regensburg verliebt und wolle hier Leben.
„I stood on the stony bridge and looked at the Donau, then i heard a voice...it said to me `Keith, this is your home´.”
Das klingt ziemlich pathetisch, aber Keith meinte es ernst.
Mittlerweile war er zwei Wochen hier. Ich sah ihn noch nicht als Freund; für mich war Keith eher eine exotische Bereicherung meines Bekanntenkreises.
Wegen seiner Durchgeknalltheit versprach ich mir Erlebnisse, die meinem Alltag Farbe geben und mir neue Kontakte einbringen könnten.
Bei drei Kneipentouren lernten wir uns, und er seine zukünftige Heimatstadt besser kennen.
Keith war bereit, die alten Pfade zu verlassen.

Er fuhr nach England, regelte die nötigen Formalitäten und holte seine Habseligkeiten.

Nach zwei Wochen kam er zurück und meldete sich bei mir.
Bis von Hamburg musste er auf der für ihn ungewohnten rechten Straßenseite ganz Deutschland der Länge nach durchqueren, bis er vor meiner Haustüre stand.
Als es läutete kam ich hinunter auf den Parkplatz und begrüßte Keith, der mir voll stolz seinen überladenen Opel Corsa präsentierte.
Jeden Kubikzentimeter des Kleinwagens hatte er ausgenutzt, und sogar noch mehr: Auf dem grünen Corsa war ein Dachträger montiert, auf welchem ein zwei Meter hoher Berg voll Kleidung, Koffern und Kleinmöbeln geschnürt waren.
Ich sah Keith neben dieser Ameise namens Auto, stellte mir vor, wie er am Steuer sitzt, auf der Seite, die für uns die Beifahrerseite ist, und dachte nur:
„Ja, Engländer, du bist es! Du bist Mr. Bean!“


2. Keith in Regensburg


Bis Keith eine Bleibe in Regensburg fand, nahm ich ihn bei mir auf.
Seinen „Stuff“, also die Fracht auf und in dem Corsa, lagerte er auf meinem Dachboden.
Stolz führte er mir einen großen karierten Koffer vor, der voll von CD´s war. Vieles davon kannte ich nicht, und er spielte mir etwas vor. Es war coole Musik, bei uns würde man es in die Sparte „Independent“ einordnen, aber vielleicht war vieles in England besser bekannt.
Er richtete sich provisorisch in meiner Wohnküche ein und schlief auf der Couch.
Ein paar mal aß er mit, dafür spülte er das Geschirr, welches ich dann argwöhnisch in den Schrank räumte, nicht ohne das ein oder andere Teil nachzuspülen.
Ordentlich war er, alles hatte seinen Platz, und oft kam der Spruch „I´m well organized“, worauf ich ihm recht gab.
Wenn ich mich morgens für die Arbeit fertig machte, saß er meistens in der Küche und meditierte. Dabei sprach er fernöstliche Gebete zu Tara, Siddhartha, allen Bodhisattvas und sonstigen Wesen. Rituale eben, die man einhält, wenn man ernsthaft praktiziert.

Außer mit spirituellen Übungen vertrieb sich Keith die Zeit tagsüber mit Wohnung suchen und „Wandering“. Kilometerweit erkundete er per pedes Stadt und Umland, und bald kannte er sich in Regensburg fast besser aus als ich.

So liebenswert mein seltsamer Bekannter auch war, und so gut er es auch meinte, so anstrengend war er als Person.
Seine Aussprache war ziemlich undeutlich, hinzu kam die Verstaubtheit meines Englisch, also war jedes Gespräch mit ihm eine Konzentrationsübung.
Keith konnte reden wie ein Wasserfall. Er laberte, ich unterbrach, fragte nach, fragte nach der Bedeutung dieses oder jenes Wortes, stammelte selbst ein paar Beiträge zu den meist tiefsinnigen Themen, schaltete resignierend auf Durchzug, nahm den Faden wieder auf, ließ ihn reden, lachte mit, wenn ich an seiner Mimik erkannte, dass er einen Scherz gemacht hatte, und war froh wenn ich ihn wieder los hatte.

In der Anfangszeit bekam er Geld vom britischen Staat, „Benefiz“, wie er es nannte.
Dabei sprach er das Z so gelispelt aus, dass mich das ganze Wort erheiterte.

Nach zehn Tagen fand Keith eine Unterkunft. Christine gab ihr Zimmer in einer WG in der Altstadt auf und bot ihm an, ihr Nachmieter zu werden. Das Haus war in einer Sackgasse, die „Am Römling“ heißt. Die Mitbewohner wurden erst eingeweiht, als Keith sich vorstellte: „Hello, i am from England and I live here“.
Lange ging es nicht gut.
Keith´s neuer Mitbewohner Sascha konnte ihn nicht mehr ertragen, und so zog mein englischer Kumpel im Juni 2000 in ein Zimmerchen, nur zwei Häuser weiter.


Es war eine trostlose Kammer, nicht besser als eine Gefängniszelle. Das Klo auf dem Gang musste er sich mit zwei Studenten teilen.
Das Bett füllte schon ein Drittel des Raumes aus. Ein Waschbecken war an der Wand, in dem er das Geschirr abspülte.
Sonst stand in dem dunklen Loch noch ein Kleiderschrank und seine neue Anlage mit 3-fach-CD-Wechsler, die er sich in Deutschland gekauft hatte.
Keith reichte das. Er nahm die buddhistische Lehre ernst und wusste, wie wichtig es ist, sich nicht an materielle Dinge zu klammern.
Ob es nur sein Bemühen war, ein guter Buddhist zu sein, oder ob er wirklich schon so bedürfnislos war...die Wahrheit liegt wohl in der Mitte.
Trotz aller Einschränkungen reichte ihm das Geld nicht zum Leben.
In diesem Sommer fand er Arbeit als Tellerwäscher in der Alten Linde, einem Gasthaus mit Biergarten an der Steinernen Brücke.
Nebenher nahm er an einem Deutschkurs teil und lernte Rachel aus Nigeria, zwei Mädels aus Rumänien und noch ein paar andere Leute aus verschiedenen Nationen kennen.
Die Arbeit in der Alten Linde machte ihm angeblich Spaß, und den Rest seiner Zeit verbrachte er mit Meditieren, Wandering und Deutschlernen.
Vom Tellerwäscher zum Millionär...mit seiner positiven Einstellung hätte man Keith den amerikanischen Traum zutrauen können, doch die schöne Welt aus seinem Mund und die Realität waren zwei unterschiedliche Filme.

Anstrengend war Keith noch immer. Für Andere scheinbar noch mehr als für mich.
Einmal wollte er Regina besuchen, jene Regina, durch die er über Gran Canaria hier gelandet war.
Er läutete unten, bis sie zum Fenster herausschrie, er solle sich verpissen.
Als er mir das erzählte, wirkte er ziemlich verletzt.

Ein paar Mal traf ich mich mit ihm, einige meiner Freunde machten mit ihm Bekanntschaft. Die einen fanden ihn lustig, viele fanden ihn cool und interessant, andere sonderbar, und ein paar meiner Freunde dachten, dass mit ihm etwas nicht stimmte.
Letztere sollten am Ende Recht behalten.
Einerseits nervte er, andererseits nahm ich ihn auch als Beispiel, als Beweis dafür, dass man einfach sein sicheres, zwanghaftes Leben hinwerfen kann, dass der Lebensweg in den konventionellen gesellschaftlichen Bahnen nicht die einzige Alternative ist.
Dass es möglich ist, mit fast fünfzig noch in ein anderes Land zu gehen, ohne die Sprache zu verstehen und zu leben wie ein Student, Pläne schmieden, Spaß haben.

Ich erinnere mich an einen Dult(Volksfest)besuch im August 2000. Michi, Miriam und noch eine Hand voll Leute waren dabei. Alle außer mir trafen Keith zum ersten Mal.
Er stand gerne im Mittelpunkt, und dafür machte er sich zum Clown. Seit einiger Zeit hatte er eine ständige Begleiterin: The Duck. So nannte er seine neongrüne Stoffente, eine Handpuppe mit weißem Haarschopf und der Aufschrift „Lets Dance“ auf dem Bauch.
Gekonnt ließ er sie gestikulieren und verlieh ihr eine schnatternde Stimme.
Nach dem Dultabend hatte wohl die Hälfte aller Dultbesucher diese Ente kennen gelernt.

Keith war liebenswert, hilfsbereit und freigiebig, doch seine übertriebene Heiterkeit wirkte meist aufgesetzt. Wenn er etwas Verrücktes, Übertriebenes machte, lachten ein paar Fremde, doch von denen, die ihn besser kannten, lachten die meisten nur noch aus Höflichkeit.
Er genoss den Beifall, und es wirkte so, als halte er sich selbst für unwiderstehlich komisch.

In Erinnerung ist mir auch ein Abend im Irish Harp.
Höchstens zehn Leute waren da, eine Liveband spielte schnelle, harte Musik, und Keith stellte sich in die Mitte des Pubs und tanzte wie im Koksrausch.
Die langen Arme streckte er verheißungsvoll in alle Richtungen, die Augen meist geschlossen, dann animierte er wieder die Leute, als wäre es sein Konzert und sein Publikum.
Sogar die Band sprach von „unserem Freund“ bei einer Ansage, und Keith rief mit seinem gebrochenen Deutsch nach vorne: „Ick bin Engländer!“
Sein Verhalten war eine Mischung aus Euphorie, Exzentrik, Egozentrik, Nächstenliebe, Zufriedenheit und Unzufriedenheit.
Manchmal erschien er mir sonderbar, als sei er beleidigt, obwohl beleidigt sein so gar nicht zu ihm passte; deshalb hielt es auch nie lange an, ließ aber den Schatten ahnen, der über seiner Ausgelassenheit lag.


3. Der Absturz


Der Herbst kam, und die Biergartensaison ging zu Ende.
Keith fand neue Arbeit bei der Großmetzgerei Wolf in Schwandorf. Die Kollegen waren meist Ausländer, kamen zum Großteil aus Russland, und die wenigen Deutschen kannten weder soziales Verhalten, noch hatten sie einen Schulabschluss. Morgens um fünf sammelte ein Kleinbus die Männer ein und brachte sie nach Schwandorf zur Schlachthalle.
Es war einer von den Jobs, die nur Menschen ohne jede Perspektive machen.
Die Männer halbierten tote Schweine, zerstückelten sie und warfen das Fleisch portionsweise in Plastikkisten.
Keith erzählte mir das, als wir uns nach Wochen der Funkstille mal wieder zu einer kleinen Kneipentour trafen. Er erzählte mir auch von Scherzen der Kollegen, die sich gegenseitig mit Fleischabfällen bewarfen oder mit kaltem Wasser bespritzten.
Keith war ausgebildeter Diplomkaufmann und Vegetarier.
Diese Arbeit musste ihn zugrunde richten.

Es war an einem grauen, trüb-herbstlichen Tag im November.
Wieder waren vier Wochen vergangen, seit unserer letzten Begegnung.
Wenn wir telefonischen Kontakt hatten, so ging das meistens von Keith aus, denn ich war einfach zu bequem und scheute das anstrengende Zuhören, das ein Gespräch mit ihm erforderte.
Daher hatte ich fast ein schlechtes Gewissen, als ich seine Stimme hörte, doch sie klang weder zynisch, noch anklagend, nur traurig.
„Hello Stefan, here is Keith.“
“Hi Keith!”, ich legte eine heuchlerische Freude über seinen Anruf in meine Stimme.
„Stefan. I wanted to hang me up.“
“What?”
Und er wiederholte den Satz und schilderte mir seinen Selbstmordversuch.
Auf dem Speicher des Altbaus in dem er wohnte, hatte er einen Strick um einen Dachbalken gebunden, war auf das Treppengeländer gestiegen und hatte die Schlinge um seinen Hals gelegt.
Halbherzig hatte er zum Sprung angesetzt, begann zu fallen, und in diesem Moment dachte er an seinen Sohn, brachte noch einen Fuß auf den Handlauf, ergriff mit einer Hand den Strick über seinem Kopf, und schaffte es, sich selbst zu befreien.
Dann hatte er die 110 gewählt und gesagt „I need a doctor“.
Das war einen Tag vor diesem Telefonat, das er von der geschlossenen psychiatrischen Abteilung aus dem Bezirksklinikum mit mir führte. Hier beruhigten sie seinen Geist mit Medikamenten und führten psychologische Gespräche.
Ab morgen könne ich ihn besuchen, sagte er mir. Das wollte ich definitiv tun.
Bis dahin konnte ich nur nebelhaft über seine Tat spekulieren.
Ein Leben in einer erbärmlichen Bude, und der unwürdige, ekelhafte Job, das alles untermalt von trüben, regnerischen Novembertagen. Gut, das waren wirklich keine Gründe zur Erheiterung, aber ebenso wenig konnte dies allein zu einem Suizid führen.
Die Ärzte stellten später fest, er sei manisch-depressiv... Manisch-depressiv! Eine Stoffwechselkrankheit also. Ein Wechselbad zwische Euphorie und Depression.
Keine Frage, das entsprach dem Verhalten, das ich kennen gelernt hatte, aber ich bin mir sicher, dass es nicht nur ein dummer chemischer Zufall in seinem Körper war.
Ich glaube an die gängige Methode der Psychologen, in der Kindheit eines Menschen zu graben.
Keith hatte vier Geschwister. Alle wurden vom Vater regelmäßig verdroschen. Von der Mutter weiß ich nur, dass sie seit seiner Übersiedlung nicht mehr mit ihrem Sohn spricht.
„You are no longer my son, because you live with the enemy“, sagte sie ihm, als er zum letzten Mal versuchte, ein Telefongespräch mit ihr zu führen.

Vier Wochen hatte ich mich nicht mehr bei ihm gemeldet. Er kennt eine Menge Leute in Regensburg. Carola, Dani, Michael, und wie sie alle hießen. Oder Sonja, ein achtzehnjähriges Mädchen, von dem er mir vorschwärmte, und die ihn bei unserem Kneipenbesuch in ihrer Stammkneipe kaum beachtete.
Er kommt auch ohne mich aus, hatte ich gedacht.
Nach einer Tat, bei der er seine Existenz in Frage stellte, einsam auf dem Dachboden des alten Hauses, als er sein neues Leben als gescheitert verurteilte, nach Überdauerung seiner schwärzesten Stunde, nachdem Ärzte und Klinikpersonal die erste menschliche Hilfe nach Tagen oder Wochen sein mussten, so am Boden, fiel ihm niemand anders ein als ich, der ihn nur aus unbeholfener Gutmütigkeit ertragen und sich später elegant dünn gemacht hatte.
Mich rief er einen Tag nach seinem Selbstmordversuch an, und das erfüllte mein Herz mit einem Stück Verantwortungsgefühl für einen Menschen, der niemanden hatte.

Als ich ihn am nächsten Tag in der geschlossenen Abteilung besuchte, saß er mir ruhig gegenüber und strahlte eine gelassene Wärme aus.
Ich sah in ein blasses Gesicht und bestaunte den Beweis seiner Tat, einen streichholzlangen, violetten Bluterguss, quer auf dem weißen Hals. Entspannt hörte ich seine leisen, deutlichen, langsam gesprochenen Worte.
Kein verkrampftes Konzentrieren mehr, wenn ich ihm zu hörte.
Ich musste ihn nicht mehr unterbrechen und nachfragen, es gab keine Verständnislücken mehr für mich.
Keith wirkte zuversichtlich, erzählte mir die ganze Geschichte, wie er an seinen Sohn gedacht und die Unsinnigkeit der Aktion im letzten Moment noch erkannt hatte.
Gut fühlte es sich an, dieses erste Gespräch nach seiner unglaublichen Tat. Erst schob ich es komplett auf die Wirkung der Tranquilizer, der beruhigenden Medikamente. Heute weiß ich, das wäre zu einfach, denn der anstrengende, wirklich nervige Keith kam nie wieder zurück.

Vier oder fünf Wochen blieb er im Klinikum. In der geschlossenen Abteilung musste er nur die erste Woche bleiben, später kam er in die Offene.
Alle vier oder fünf Tage schaute ich für ein Stündchen bei ihm vorbei. Ein Mal begleitete mich Christine zu einem Krankenbesuch.
Sonst besuchte ihn niemand.

Sogar hier hatte er schon Kontakte geknüpft. Ich sah schräge Gestalten im Flur Tischtennis spielen oder einfach herumstreunen. Es war wie bei Dreharbeiten für „Einer flog aus dem Kuckucksnest“.
„Was willst Du jetzt machen“, fragte ich ihn bei einem meiner Besuche.
„I will go back to England“, sagte er.
In den letzten beiden Wochen durfte er das Gelände stundenweise verlassen. Keith nutzte die Zeit, um die Wohnung zu kündigen und den Auszug vorzubereiten.
Mit Hilfe eines Freundes, der bei einer Spedition arbeitet, besorgte ich Umzugskartons und regelte die Verschiffung seiner Sachen.
Mehr tat ich nicht für ihn.
Ich weiß nicht mal mehr, ob ich ihn bei seiner Abreise zum Bahnhof begleitet hatte.
Heute bin ich froh über die paar Besuche und die kleine Hilfe beim Umzug, und als er mich später bei Leuten als seinen „Head Doctor“ vorstellte, war ich auch ein bisschen stolz.

Die ersten paar Wochen in England nahm ihn seine Noch-Frau übergangsweise bei sich auf, passend zur Adventszeit; dann besuchte Keith einen Kurs in einem Buddhist-Centre in Brighton, machte die Studentenstadt an der Südküste zu seiner neuen Wahlheimat und zog in das Buddhistenkloster.
Das Leben in dem Kloster war nur für Mönche kostenlos, aber bald konnte sich Keith sein kleines Zimmer durch einen Job in einem Call-Center finanzieren.

Im Frühjahr des Jahres 2001 besuchte er mich für ein paar Tage in Regensburg.
Damals war er für mich noch immer kein echter Freund. Ich nahm mir nicht mal Urlaub, ließ ihn die Tage in Regensburg alleine verbringen und opferte an den drei Abenden nur ein paar Stunden für Keith.

Aber er hatte sich verändert.
Er ernährte sich jetzt streng vegetarisch und meditierte noch mehr.
Mit seinem Buddhismus gab er mir ein gutes Gefühl. Er bemühte sich andauernd, seinen Geist auf das Wohl der Anderen zu richten, und das spürte man.
Da war Keith, der jeden Tag praktizierte, und dabei sein Ego klein machte, beinahe ausblendete, und da war ich, der Nichtpraktizierende, mit meinen Verblendungen. Es war, als ob die Energie, die durch das Wegfallen seines Egos frei wurde, sich mit meinem Ego verbündete und es auf diese Weise einbalsamierte, ebenfalls verminderte. Das tat gut.
Es war der Anfang von Keiths spiritueller Entwicklung und der wirkliche Anfang einer Freundschaft.
Die Fortsetzung folgte ein gutes Jahr später.


4. Mein Trip nach England: Frankreich


Früh am Morgen im September 2002 setzte ich mich in meinen japanischen Wagen und machte mich auf den Weg nach Brighton.
Wenn ich schon durch Frankreich fuhr, wollte ich auch davon etwas sehen, und so war die elsässische Stadt Straßburg das erste Ziel meiner Reise.
Über Heilbronn, an Karlsruhe vorbei, passierte ich kurz nach Saarbrücken die Grenze und war gegen Mittag in Straßburg.
Nachdem ich von allen Seiten das Straßburger Münster besichtigte, das mir fast doppelt so hoch erschien wie der Regensburger Dom, setzte ich mich nahe einer Gutenberg-Statue an einen Restauranttisch im Freien und bestellte mir eines der vielen belgischen und französischen Biere, die zur Auswahl standen. Ich mag diese hochprozentigen, honiggelben belgischen Biere lieber als unsere bayerischen. Sie schmecken süßlich, nicht so hopfenbitter. Mein Bier in Straßburg schmeckte malzig und ein bisschen nach Vanille.
Anschließend spazierte ich eine Weile in der Stadt herum. So viel Mulit-Kulti hätte ich von der Stadt im Elsaß nicht erwartet. Muslime, Schwarze, auch Asiaten prägten das Bild an Plätzen oder Busstationen.

Bei starkem Regen fuhr ich am Nachmittag mit Flammkuchen im Magen weiter in Richtung Westen.
Ich orientierte mich an den größeren Städten, die laut Straßenatlas zwischen Straßburg und Dieppe lagen: Metz, Reims, Amiens. Dieppe ist auf der Landkarte durch eine gestrichelte Linie mit Newhaven verbunden. Hier konnte man also mit einer Fähre übersetzen.

Mein Weg führte die meiste Zeit durch unbesiedelte Gebiete. Viele Kilometer fuhr ich einsam dahin. Es war dunkel geworden. Selten blickte ich in Scheinwerfer entgegenkommender Autos. Nach ein paar Stunden Fahrt war ich in der Champagne; die Autobahn führte mich durch Wald oder weite Felder, während mich der sanfte Gesang von Simon and Garfunkel im Auto in eine Mischung aus Weihnachts- und Lagerfeuerstimmung lullte.
Die Nacht verbrachte ich am Stadtrand von Reims in meinem Wagen.

Morgens um neun fuhr ich weiter. Die nächst größere Stadt auf der Landkarte war Amiens. Paris lag zwar fast auf meiner Strecke, aber ich denke nicht, dass so eine Metropole für einen kurzen Abstecher geeignet ist. Deshalb ließ ich die Hauptstadt unten liegen und passierte bald die Grenze zur Normandie, kam an Mauthäuschen vorbei, bezahlte Autobahngebühren und wurde freundlich Monsieur genannt. Das schmeichelte mir. „Monsieur“, sagte ich zu mir selbst; hier bin ich ein Monsieur!
Die Sonne schien warm auf diese weiten Flure, ein Bild wie von Gott in Frankreich inszeniert.
Ich hörte Reinhard Mey. Für mich passte der plaudernde Chanson-Gesang und die menschlichen Texte so gut zu diesem Wetter und zur Landschaft, dass ich die Musik noch heute mit meiner Frankreich-Durchquerung verbinde.
Reinhard Mey lebte in der Anfangszeit seines Schaffens in Frankreich, seine ersten Chansons sang er auf französisch, und seine erste Frau war Französin. Mir kommt es vor, als schwinge dieses Land immer noch in seinen Liedern.

Spontan hielt ich in einem kleinen Dorf zwischen Reims und Amiens. An den Namen des Ortes erinnere ich mich nicht, aber die kleine Kirche mit ihren hellroten Ziegelsteinen ist mir noch genau so im Gedächtnis wie ein kleiner Laden, eine Scheune, ein Postamt und die Häuser mit hölzernen Balkonen und Blumen am Fenster. Sie schienen gerade groß genug für eine kleine Familie. Der Geräuschpegel in diesem Ort bestand aus französischen Vogelgesang, französischem Hundegebell und französischem Glockengeläut. Sogar ein Motorrad klang tiefer brummend, lebensfroher, unaufgeregter als daheim.
Ich ging in einen kleinen Lebensmittelladen, wurde begrüßt mit einem erfrischenden Bonjour und kaufte französisches und belgisches Bier, ein Croissant und etwas Obst.
Die Verkäuferin packte mir alles geduldig in eine kostenlose Plastiktüte. Mit deutlich artikulierten Merci bedankte sie sich für meinen Einkauf, und ich antwortete mit meinem deutschen Bauern-Merci. Von Herzen kam auch ihr Au revoir, und mit einem guten Gefühl kehrte ich auf der sonnigen Straße zu meinem Auto zurück.
Ob die Franzosen mehr Herz in ihre Begrüßungsfloskeln legen, kann ich nicht sagen, aber die Bonjours und Mercies sind gekonnter, klingen wichtiger als unsere Grüßgotts und Dankes und Bittes. Die Franzosen haben die Höflichkeit erfunden, das habe ich gesehen und gehört!

Am frühen Nachmittag fuhr ich an einem großen Holzfass vorbei, das zusammen mit einem Pfeil mit der weiß gepinselten Aufschrift „Cidre“ am Straßenrand aufgestellt war. Der Pfeil zeigte auf ein einzelnes Gehöft unterhalb der Straße, das aus zwei Ziegelroten Häusern mit Strohdächern und einer Scheune bestand.
Wenn ich mich mit echtem Cidre und Calvados eindecke, dann hier, dachte ich, kehrte um und bog ein in den Feldweg, der zu den Apfelbrennern führte.
Ein freundlicher Franzose mittleren Alters zeigte mir eine Produkt-Karte.
Ohne Worte verstanden wir uns, und ich nahm ein Sechserpack Cidre in urigen Flaschen mit Korken und zwei Flaschen Calvados.

Um halb fünf kam ich an der Nordseeküste an. Die Straße zur Fährstation lag auf einem Pass, so dass ich bei meiner Ankunft von oben auf das glitzernde Meer sehen konnte, auf dem ein paar teuer aussehende Boote tuckerten. Zur Rechten war die Fährstation, und links um die Ecke, von den Felsen verdeckt, lag die Hafenstadt Dieppe.

Meine Fähre ging erst um einundzwanzig Uhr, so konnte ich noch die Stadt besichtigen.
Große Hafenbecken bildeten den Parkplatz für die sauberen, mit bunten Fähnchen geschmückten Yachten. Mit ihren strahlendweißen Anstrichen wetteiferten die Luxusboote mit der Sonne, wer denn nun das Hafenbecken heller und prächtiger aussehen ließe.
Ich schlenderte durch die Fußgängerzone an Ständen mit Fischen und anderen Köstlichkeiten vorbei und ging zum Meer. Strand und Uferstraße waren durch eine breite Rasenfläche voneinander getrennt, und ich hatte genau den Tag erwischt, an dem eine Drachenschau stattfand. Auf kilometerweiten Rasenflächen waren Zelte von den Drachenbesitzern aufgebaut. Übungen und Testflüge bildeten schon von weitem ein fröhliches Bild von tanzenden Figuren am blauen Himmel.
Ich spazierte an den bastelnden Drachenprofis vorbei, schnupperte zehn Minuten am Meer und schlug dann den Weg zurück zu den Restaurants und Geschäften ein.
Nachdem ich in einem kleinen Laden für Keith eine Buddhafigur gekauft und in einem Restaurant ein Fischgericht gegessen hatte, ging ich zur Fährstation.

Die PKWs werden in diesen Fähren von souveränen Einweisern in ihre Parklücken gelotst. Jeden Zentimeter nutzen sie aus, um möglichst viele Fahrzeuge in mehreren Schichten unterzubringen. Die Sitzaufteilung an Bord war ähnlich der in den Flugzeugen, mit einer breiten Mittelreihe und Dreiersitzen am Fenster. Man konnte auch in ein Cafe gehen und auf Barhockern an Theken sitzen.
Zwei mal ging ich raus an Deck, wo ich alles an mir festhielt, was nicht angewachsen war, damit es der Wind nicht in die Nordsee schleuderte.

Es war irgendwann frühmorgens um vier oder fünf, als die Fähre in Newhaven anlegte.
Als ich mit meinem Wagen in der Kolonne aus dem Fährhafen fuhr, mahnte ich mich selbst zu höchster Konzentration und stellte den Radio aus, denn schließlich war ich noch nie im Linksverkehr gefahren. Außerdem waren es nicht die besten Bedingungen; ich hatte in der Fähre wenig geschlafen und es war dunkel.
Die ersten Meter gingen gut – geradeaus fahren war auch in England nicht schwieriger – doch direkt nach der Straße, die von der Fähre weg führte, ging es in einen Kreisverkehr.
Entgegen meiner Instinkte musste ich links in den Kreis fahren, zugleich nach einem Hinweis in Richtung Brighton suchen und auf die kommenden Autos von rechts achten.
Letzteres hätte ich nochmals tun sollen, als ich hinter meinem Vordermann einbog, doch ich hatte großes Glück: Als von rechts ein Wagen in den Kreisverkehr schoss, bremsten wir beide gerade noch rechtzeitig, um unsere Kisten Zentimeter an Zentimeter zum Stehen zu bringen.
Spätestens jetzt war ich wach, und spätestens jetzt hatte ich vom Linksverkehr die Schnauze voll.
Auf der Motorway, der Landstraße, fühlte ich mich im Dunkeln auch nicht sehr wohl, als mir auf der rechten Spur die dicken Trucks entgegen kamen. Mein Kopf musste meine Reflexe immer wieder davon abhalten, „auszuweichen“.

Schliesslich erreichte ich Brighton und konnte mit Keith einen Treffpunkt an einem der Piers, der Schiffsanlegestellen, vereinbaren.
Keith hatte drei Tage frei, und so lange wollte ich bei ihm im Buddhist Centre wohnen.


5. Mein Trip nach England: Brighton

Keith hatte für mich ein eigenes Zimmer für die zwei Nächte organisiert.
Er führte mich durch das Haus, in dem Buddhisten wie Keith, Gäste wie ich und Mönche lebten.
Es war wie eine große WG mit einem Arbeitsplan, auf dem eingetragen war, wer zu kochen hatte und wer abspülen musste, oder wer bestimmte Dinge im Garten verrichten musste.
Unten gab es einen größeren Gemeinschaftsraum, an den eine Gemeinschaftsküche mit Gasofen und robustem Kochplatz grenzte.
Musik war verboten. Rauchen und Alkohol ebenfalls.

Nachmittags trieben wir uns in Brighton herum.
Eine richtige Urlaubsstadt!
Wir saßen uns ans Meer, wanderten durch kleine Gassen und stöberten in Plattenläden.
Für einen Imbiss führte mich Keith in ein Bistro, in dem wir erstaunlich leckere vegetarische Sandwiches aßen und Milchshakes tranken. Das Bistro war in weiß gehalten und das Tageslicht erhellte den Raum durch die Fensterfront noch mehr. Coole Leute unterschiedlichen Alters waren hier, und untermalend liefen Simon and Garfunkel.

Den Abend verbrachten wir in dem Buddhist-Centre, das eigentlich ein Kloster ist, und so möchte ich es ab jetzt auch nennen.

Alle Leute hier strahlten echte Herzenswärme aus. Ich wurde nie misstrauisch beäugt, fühlte mich sofort angenommen als die Person, die ich bin.
„Can you feel the peace“, fragte mich Keith, als wir leise über die schmale Treppe zu unseren Zimmern im ersten Stock gingen. Ich konnte den Frieden in diesen Mauern wirklich spüren.

Der Frieden war auch in dem Garten, in dem alles zu wachsen schien was wachsen wollte. Trotz der latenten Verwilderung sah man ihm an, dass sich täglich jemand um ihn kümmerte und sich von ihm bediente. Ein Garten mit kleinen gelben und blauen Blumen, aber auch mit Tulpen und Rosen. Ein ernährender Garten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten, deren Früchte ihn enger mit der buddhistischen Gemeinde verbanden.
Stiller Frieden wohnte in diesem Haus. Die Meisten Leute, vor allem aber die Mönche und Mönchinnen, die ich in den Gemeinschaftsräumen antraf, waren unmittelbar bei sich selbst, durch nichts abgelenkt.
Keine schrillen Töne, nicht mal ein Anheben der Stimmen, sondern beruhigende Anreden, sachlich und zugleich menschlich. Das war mein erster Eindruck, und meist war es auch so, obwohl ich später bemerkte, dass auch die kahlrasierten Möchmädels tratschten, und zwar im Normalfall so schnell und undeutlich, dass ich nicht viel verstehen konnte.

Die Hauptemotion in dem Kloster war Frieden. Jeder übte sich mehr oder weniger in Nächstenliebe und Altruismus, und das spürte man.
Vieren oder fünfen von den Mönchmädels war ich in den zwei Tagen begegnet, hauptsächlich in der Küche. Sie hatten diese rot-gelben Gewänder, und ihre Köpfe waren kahlrasiert.
Mit einer kam ich kurz ins Gespräch, und sie sagte, sie mache eine Art Novizenjahr, dann könne sie sich entscheiden, ob sie Nonne würde oder nicht. Irgendwie wünschte ich mir das nicht für sie, denn sie war kaum über zwanzig und hatte ein sehr ästhetisches Gesicht.
Genau, Nonne heißt es, nicht Mönchmädchen!

Es gab auch ein besonderes Zimmer, das Keith mir zeigte.
In dem Zimmer war ein Altar mit einer goldenen, drei Meter hohen Buddhafigur, und auf dem Tisch vor der Figur standen einhundert kleine Wassergläser. Sie mussten jeden Tag von einem der Buddhisten frisch aufgefüllt werden, zu Ehren des Buddha.

An einem Abend nahm ich mit Keith und cirka dreißig Leuten außerhalb des Klosters an einem Vortrag teil, den ein Mönch hielt, der aus London stammte und ein direkter Schüler des berühmten Geshe-La war.
Von Geshe-La las ich nach meinem Brighton-Aufenthalt mehrere Bücher, und sein Buch „Acht Schritte zum Glück“ ist für mich zu einer Art Bibel geworden.
Der Vortragende sprach gut verständliches Englisch in einem kurzweiligen und witzigen Plauderton. Buddhismus für Anfänger quasi. Er erzählte von Sauforgien in seiner Jugend und von seiner früheren materialistischen Einstellung. Auf eine erfrischende Art legte er die Sinnlosigkeit solch oberflächlicher Werte dar.
Am Ende des Vortrages meditierten wir unter seiner Anleitung. Es muss so etwas wie Auren oder Energien geben – wie sonst hätte ich bei dieser Meditation inmitten der Leute so gut abschalten können? Ich schloss die Augen und beobachtete, wie sich meine Gedanken auflösten, dann wieder sanft auftauchten und erneut von meinem Geist losgelassen wurden. Ich nahm mir vor, in Zukunft regelmäßig zu meditieren.

An meinem letzten vollständigen Tag, dem 11. September, nahmen wir an einem Friedensmarsch zum ersten Jahrestag der Zerstörung des Wort Trade Centers teil.
In einer Schlange mit ein paar hundert Menschen marschierten wir einzeln hintereinander die Uferstraße entlang und eine Runde durch die Innenstadt.
Stillschweigend gaben wir damit ein effektvolles Statement für den Frieden in der Welt ab.

Am Abend gingen wir zusammen mit einem netten Typen und einem asiatischen Mädchen, die auch in dem Kloster wohnten, in eine Kneipe, und obwohl um punkt elf Uhr der Bierhahn abgedreht wurde hatte ich einen gesprächigen und harmonischen letzten Abend.

Meine Fähre nach Dieppe ging am nächsten Morgen um acht Uhr.
Nach meinen Schwärmereien über Dieppe wollte Keith einen Tag in der Normandiestadt verbringen, und so begleitete er mich noch auf der Überfahrt.

Keith hatte die Kosten für meine Übernachtungen im Kloster übernommen und war auch sonst ein hervorragender Gastgeber für mich.
Ich freute mich schon auf seinen nächsten Besuch in Regensburg.
Dieses Mal würde ich mir Urlaub nehmen und ein paar Aktivitäten planen.

6. Keith besucht mich in Regensburg.


Im März 2003 war es dann so weit. Keith kam mit dem Zug nach Regensburg, wo wir zusammen meinen Freund Alex besuchten und am nächsten Tag mit dem Auto nach Dresden fuhren. Seit Mitte der Neunziger leben mein alter Freund Erwin und seine Frau Daniela mit ihrem zweijährigen Sohn Maximilian in der Stadt an der Elbe.

Am ersten Abend vergnügten wir uns in einer spanischen Bar, und nächsten Tag, nach einem gemütlichen Frühstück, zeigten wir Keith die Stadt.
Den Nachmittag verbrachten wir in der Wohnung bei Gesellschaftsspielen und Unterhaltungen. Keith hatte weitere Fortschritte im Ausleben seines buddhistischen Glaubens gemacht, und als Maximilian am Nachmittag schlief, nutzten wir die Ruhe für eine Meditationseinheit unter seiner Anleitung. Er sagte uns, an was wir denken sollten und las Sprüche aus einem Buch vor.
Wir sollten uns ein Land vorstellen, in dem alle Wesen in Reichtum und Frieden Leben, reine Buddhas. Dann meditierten wir darüber, dass wir selbst reine Buddhas sind, um unseren Geist zu reinigen. Die Tage seit ich mit Keith zusammen war spürte ich eine innere Ruhe in mir. Daniela und Erwin bemerkten diese Ausstrahlung auch, doch Daniela fiel zudem eine unfreie, klamme Körperhaltung an ihm auf, die ich noch nie bemerkt hatte. Sie hatte wohl Recht.
Nicht alle Schäden, welche die Psyche in der Kindheit beschädigen, sind reparabel.

Von Dresden aus verbrachten wir nach einer idyllischen Autofahrt durch die sächsische Schweiz einen Tag in Prag.
Keith meditierte auf dem Geländer der Karlsbrücke.

Seitdem haben wir unregelmäßigen Mailkontakt. Keith schreibt mir von Trips nach Paris, Spanien, Irland oder von verbrachten Wochenenden auf Rock- oder Buddhistfestivals.
Nach drei Jahren wird es Zeit für ein Wiedersehen.


Nachtrag im Februar 2007

Die Ereignisse der letzten Wochen verlangen einen Nachtrag für diese Geschichte.

Ende 2006 kündigte Keith in einer seiner E-Mails an, er werde für sechs Monate nach Thailand gehen, wo er als Lehrer englisch unterrichten könne und bei einer Bekannten wohnen dürfe. Diese Bekannte heißt Bailey oder so ähnlich, und er kannte nur ihre Cousine. Die Cousine gab ihm Baileys Mail-Adresse, und so konnte Keith mit der unbekannten Thailänderin aus einem kleinen Dorf schon mal alles schriftlich besprechen.

Anfang Januar ging es dann los. Keith flog nach Thailand. Eine Woche später schrieb er in einer Mail, dass das Treffen mit Bailey Liebe auf den ersten Blick gewesen sei, und sie heiraten würden.

Und zwei Wochen später schickte er einen Haufen Fotos von der thailändischen Hochzeitszeremonie.

Als nächstes wünschen sie sich Kinder.

 

Hi Bacardi,

obwohl ich die Erzählweise als passend empfinde, birgt sie die Gefahr des mentalen Abschaltens beim Leser. Sie plätschert dahin wie ein kleiner Bach mit niedrigem Gefälle.
Dadurch fallen auch die Längen auf, die du in der Geschichte hast. Die ganze Frankreichepisode empfand ich zum Beispiel als verschenkt, da sie mit dem Freund nur in sofern etwas zu tun hatte, dass der Prot gerade auf dem Weg zu ihm war. Aber da hätte es auch gereicht, die Ankunft in Brighton zu schildern.
Zum Ende hin lässt deine atmosphärische Geschichte für mein Gefühl ohnehin stark nach. Es wird nur noch in mehreren Variationen erzählt, dass Keith hilfreichen Trost im Buddhismus findet und sich in der Übung verbessert. Ein Satz stellt es in Frage, aber auf ihn wird keine Bezug mehr genommen.
Die Passagen über den ungewöhnlichen etwas ausgeflippten Keith lesen sich da sehr viel interessanter, man gewinnt einen besseren Eindruck über ihn und er wird plastischer als in der Zufriedenheit.
Details:

Einmal bedrohte er seinen Vater sogar mit einem Messer.
Einmal hatte der seinen Vater sogar mit einem Messer bedroht. (Tempus und Bezug)
Durch Spinnerein
Spinnereien
er habe sich in die Stadt Regensburg verliebt und wolle hier Leben.
leben
and looket at the Donau
looked
Bis von Hamburg musste er auf der für ihn ungewohnten rechten Straßenseite ganz Deutschland der Länge nach durchqueren, bis er vor meiner Haustüre stand.
Das "bis" vor Hamburg würde ich weglassen.
der mir voll stolz seinen überladenen Opel Corsa präsentierte.
voller Stolz
und war froh wenn ich ihn wieder los hatte
Idiom?
Ich erinnere mich an einen Dult(Volksfest)besuch im August 2000
so würde ich die Erklärung nicht einschieben.
mE Konjunktiv 2: hielte
Ich glaube an die gängige Methode der Psychologen, in der Kindheit eines Menschen zu graben.
Keith hatte vier Geschwister. Alle wurden vom Vater regelmäßig verdroschen. Von der Mutter weiß ich nur, dass sie seit seiner Übersiedlung nicht mehr mit ihrem Sohn spricht.
Der Wechsel in die Gegenwart scheint mir hier unmotiviert. Bei "Ich glaube" geht er noch an, bei "Von der Mutter" müsste der Erzählform aber die Vergangenheit bleiben.
„You are no longer my son, because you live with the enemy“, sagte sie ihm, als er zum letzten Mal versuchte, ein Telefongespräch mit ihr zu führen.
und hier entsprechend im Perfekt.
Er ernährte sich jetzt streng vegetarisch und meditierte noch mehr.
er war zuvor schon Vegetarier. Wo ist der Unterschied zum strengen Vegetarier?
ich hatte in der Fähre wenig geschlafen
mMn auf der Fähre
dass auch die kahlrasierten Möchmädels tratschten
Möchmädels? soll wohl Mönchmädels heißen, aber auch darunter kann ich mir nicht so richtig was vorstellen.
Auf eine erfrischende Art legte er die Sinnlosigkeit solch oberflächlicher Werte dar.
würde vielleicht zu theoretisch, aber von der erfrischenden Art hätte ich gern etwas erfahren.
doch Daniela fiel zudem eine unfreie, klamme Körperhaltung an ihm auf, die ich noch nie bemerkt hatte. Sie hatte wohl Recht.
Nicht alle Schäden, welche die Psyche in der Kindheit beschädigen, sind reparabel.
erscheint mir als Hinweis für die Geschichte irgendwie verloren, da später nichts mehr darauf Bezug nimmt.

Lieben Gruß, sim

 

Tag Bacardi,

auch wenn es sich doof anhört: Sim hat die meisten Dinge schon angesprochen, die auch mir aufgefallen sind.

Die Erzählweise gefällt mir sehr gut und passt auch hervorragend zur Story. Allerdings verleitet der Plauderton wirklich dazu, manche Passagen nicht allzu ernst zu nehmen und einfach drüber zu lesen.

Circa ab der Mitte lässt die Geschichte sehr stark nach. Anfangs empfand ich sie noch als atmosphärisch dicht, doch danach wirkt alles sehr hastig. Stellenweise sogar so, als hättest du die Geschichte unbedingt schnellstmöglich fertig haben wollen.

Andere Passagen empfand ich als eher unwichtig. Zum Beispiel die bereits von Sim angesprochene Frankreichpassage. Auch wenn du das hiesige Flair meines Erachtens gut eingefangen hast, so finde ich den Abschnitt für die Geschichte an und für sich eher unwichtig.

Die Idee jedenfalls gefällt mir sehr gut und auch Keith als Charakter gibt sehr viel her.

Lieben Gruß, Bella

 

Hallo Bella und Sim,

da liegt ja doch einiges im Argen bei der Geschichte. Es ist die einzige meiner Geschichten, die auf wahren Tatsachen beruht ist, darum habe ich sie wohl zu unreflektiert einfach so runtergeschrieben. Das hat den Vorteil, dass es glaub ich schon ziemlich locker geschrieben ist. Dafür ist sie wohl andererseits zu dürftig strukturiert.
Ohje, das "looket" werd ich jedenfalls gleich ausbessern, war nur ein Tippfehler, ehrlich :-)

doch danach wirkt alles sehr hastig. Stellenweise sogar so, als hättest du die Geschichte unbedingt schnellstmöglich fertig haben wollen.
uiui, ich sollte an meiner Geduld arbeiten, wenn das so ist.

Danke fürs Lesen und rezensieren!
Gruß
Bacardi

 

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