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Mein Weg zum Leben
Eines Tages bin ich aufgewacht und hatte dieses merkwürdige Gefühl. Nicht dieses eine merkwürdige Gefühl, dass etwas passiert ist oder etwas passieren wird, aber doch ein unangenehmes Gefühl. Ich öffnete an diesem Morgen meine Augen, starrte an die Decke und wusste nicht, wie es mir geht. Ging es mir schlecht? Oder doch gut? Ich brauchte erst einmal ein paar Minuten, bis ich mich, unfähig, meinen emotionalen Zustand zu ergründen, aufrichtete, mir mit der Hand durch meine ungepflegten Haare und über meine Kopfhaut fuhr, meine Bartstoppeln abtastete, die Augen rieb, mich noch einmal kratzte und dann endlich zum Frühstückstisch schlurfte.
Dort angekommen war ich immer noch am Überlegen, aber wie es so ist mit diesen merkwürdigen, unergründbaren Gefühlen, so schnell, wie sie aufkommen, so schnell verschwinden sie auch wieder. Und während ich mit einem Löffel in meinem Kaffee herumrührte, schweiften meine Gedanken schon wieder um ganz andere Dinge. Dieses Gefühl war allerdings nicht verschwunden, ich verdrängte es nur.
Mir ging es nicht sonderlich gut zu dieser Zeit, aber auch nicht wirklich schlecht. Ich hatte einen schlechtbezahlten nullachtfünfzehn Job und lebte allein in einer Zwei Zimmer Wohnung, die eigentlich schon lange eine Generalüberholung notwendig hatte. Da ich aber sowieso keinen Besuch bekam, hielt ich diese für unnötig. Wenn mich überhaupt jemand besuchte, dann war es meine Mutter, die sich dann auch jedes Mal beim Anblick meiner Wohnung Sorgen um meine Gesundheit machte und mich wieder und wieder fragte, wie ich in solch einem „Schweinestall“ hausen konnte. Ich hatte nie Verständnis für ihre Sorge, ich fühlte mich, so meinte ich zumindest, wohl in meiner Wohnung, hier war mein zu Hause. Hatte ich dieses Thema, welches immer gleich nach der Begrüßung anstand, überstanden, kam auch schon die nächste mütterliche Frage nach einer Frau in meinem Leben:
„Dir fehlt eine Frau,“, sagte meine Mutter immer. „die dich liebt und sich um dich sorgt, die dir . . . dies und das . . . “
Von diesem Zeitpunkt an begann ich immer abzuschalten. Meine Gedanken schweiften zwei Stunden lang um andere, irrelevante Dinge, bis ich meine Mutter verabschiedete und ich einfach so wie vorher weiter lebte. Und während ich also am Frühstückstisch saß, meinen Kaffee schlürfte und langsam wach werdend dümmlich in der Gegend rumstarrte, wurde es mir schlagartig bewusst: Mir fehlte etwas. Ich wusste nicht, was es war, ich wusste nur, dass ich deshalb dieses merkwürdige Gefühl hatte. Unwillkürlich musste ich an meine Mutter denken. Eine Frau. Das war es, so meinte ich. Leichter gesagt, als getan. Von heute auf morgen, sich zu verlieben und zusammen zu ziehen, das erschien mir doch sehr unwahrscheinlich. Überhaupt ist es falsch, zu sagen, mir fehlte eine Frau oder Freundin, eher fehlte mir Zuneigung, die Gesellschaft Anderer, man könnte sagen, dass nicht etwas in meinem Leben fehlte, sondern dass mir überhaupt ein Leben fehlte. Ich hatte keine wirklichen Freunde, von Frauenbekanntschaften mal ganz zu schweigen. Die einzigen Personen, zu denen ich regelmäßig Kontakt hatte, waren meine Mutter und gelegentlich mein älterer Bruder.
Mein Bruder. Er hatte Alles. Ich sah ihn nie als Vorbild, aber genauso sollte ein Mann sein Leben führen. Er hatte eine hübsche und nette Freundin, er hatte richtige, wahre Freunde, er hatte einen geregelten und gut bezahlten Job, ein gepflegtes Äußeres, ja, er hatte eine Leben. Und er kümmerte sich dennoch um mich, kam mich besuchen, wann immer er Zeit dazu hatte und sorgte auch für unsere Mutter. Man könnte sagen, er war das genaue Gegenteil von mir. Man könnte auch sagen, er war ein Spießer, aber solche Aussagen kommen nur aus Neidermündern. Trotz meiner eigenen, doch schon erbärmlichen Lebensweise war ich überhaupt nicht neidisch auf ihn. Andererseits freute ich mich auch nicht für ihn. Ich war einfach der klassische Einzelgänger, dem alles am Arsch vorbei ging, die gut gemeinten Predigten seiner Mutter so wie das fast schon perfekte Leben seines Bruders.
Doch in diesem Augenblick am Küchentisch, in dem mir meine Einsamkeit bewusst wurde, nahm ich mir fest vor, mein Leben zu ändern. Aber wie findet man eine Freundin, wenn man Jahre lang nur als Single gelebt hat, in sexueller Hinsicht total unerfahren ist und keine Ahnung vom Flirten hat? Ebenso, wie findet man Freunde, einfach so, von jetzt auf gleich? Ich hielt mich längst nicht für so verzweifelt, mich bei einer Singleagentur anzumelden und erst recht nicht, fremde Männer auf der Straße oder in Diskotheken anzuquatschen, ob sie nicht noch einen weiteren Freund bräuchten.
Solche Männer, wie ich damals einer war, sieht man heute noch alleine in einer kleinen Kneipe sitzen, alleine ihr Essen zu sich nehmen, sich immer umguckend, ob nicht ein potenzieller Freund in der Nähe ist. Und dies ist nur die Vorstufe zum kompletten Versager ohne Frau und Arbeit, der jeden Tag alleine in seiner Stammkneipe sitzt, an der Theke zehn Bierchen zu sich nimmt, bis er in Stimmung ist und mit dem fremden Mann neben sich, den er für seinen besten Freund hält, eine Diskussion über Politiker, Fußball und die verschieden Formen von Straßenlaternen anfängt.
Nein, so wollte ich nicht enden.
Also kaufte ich mir einen Hund. Einen Jack Russel Terrier. Bobby. Ein Hund hat einige Vorteile. Mit ihm ist man nie alleine, er ist sozusagen eine Art „Ersatzfreund“. Außerdem kommt man dadurch, dass man ihn ausführen muss, nach draußen, unter Menschen. Ein weiterer, nicht unbedeutender Grund dafür, dass ich mich entschied, Bobby zu kaufen war der, dass ich gelesen hatte, dass beinahe nichts attraktiver auf eine Frau wirkt, als ein alleinstehender Mann mit Hund. Das Einzige, was angeblich noch attraktiver wirken sollte, waren schon vergebene Männer und ein alleinstehender Mann mit Baby. Da ich aber kein Baby hatte, entschied ich mich für Bobby.
Anfangs gab es einige Probleme mit ihm, da wir uns erst nicht leiden konnten. Ich mochte ihn nicht, weil er dauernd in meine Hausschuhe pinkelte und einmal sogar in die Badewanne gekackt hatte und er mochte mich nicht, weil ich ihm, so oft es nur irgend möglich war, versehentlich auf die Füße trat. Ein Mal biss er mich deswegen sogar leicht in die Wade, so dass ich nicht abgeneigt war, ihn durch die ganze Wohnung zu treten. Aber mit der Zeit gewöhnten wir uns aneinander und lernten uns lieben.
Ein kleines Problem war, dass ich nicht wusste, wohin mit ihm während ich arbeiten ging. Dieses löste sich aber durch die ältere Dame in der Wohnung unter mir, die sich auch über jedes Stückchen Gesellschaft freute. Mit Bobby ging ich oft durch den Park und schon bald entpuppten wir uns als eingespieltes Team. Und während er nach jungen Hündinnen Ausschau hielt, hatte ich nur Augen für ihre Besitzerinnen. Ich lernte einige Frauen kennen, die richtige war allerdings nicht dabei und es entwickelte sich auch nur einmal eine kurze Bettgeschichte daraus, die sich aber schnell wieder erledigt hatte, da die besagte Dame nur für einige Tage zu Besuch bei ihrem Bruder war und ich nie wieder etwas von ihr hörte. Keine Adresse, keine Telefonnummer, Kontakt abgebrochen.
Irgendwann dann beschloss ich, meine Jagd nach Zuneigung nicht mehr im Stadtpark fortzusetzen, beziehungsweise, sie nicht darauf zu beschränken, sondern mein Glück auch in den Diskotheken der Stadt zu versuchen. Ich rief also meinen Bruder an, fragte, ob er und seine Freundin nicht Lust und Zeit hätten und so begaben wir uns in die Nacht. Das erste Mal endete den nächsten halben Tag über der Kloschüssel, auch beim zweiten Mal konnte ich mich nicht mehr an sehr viel vom vorangegangenen Abend erinnern. Aber mit der Zeit wurde ich, ja, ein sogenannter „Partylöwe“, knüpfte Kontakte, lernte Frauen kennen und hatte meinen Spaß. Ein Mal landete ich nach solch einer durchfeierten Nacht mit einer ominösen Dame im Bett, genauer gesagt, in meinem Bett, und als ich aufwachte waren meine Brieftasche samt Inhalt sowie jene Frau spurlos verschwunden.
Zu dieser Zeit zählten zu meinen besten Freunden Paul, den ich dadurch kennen gelernt hatte, dass er mir, wir beide schon völlig besoffen, auf dem Klo einer Diskothek von der Idee erzählte, die Toilette für Betrunkene kompatibler zu machen. Seiner Meinung nach müsste es ein extra Kotzbecken so wie eine Stehhilfe vor den Pissoirs geben. In meinem Zustand ließ ich mich von der Idee begeistern und noch in derselben Nacht versuchten wir, wie gesagt immer noch völlig betrunken, bei ihm Pläne und Entwürfe auszuarbeiten. Dabei tranken wir noch mehr und irgendwann holte Paul sogar ein wenig Kokain zum Vorschein. Als wir am nächsten Tag aufwachten, konnte keiner von uns unsere Pläne mehr entziffern, überhaupt hielten wir die Idee im nüchternen Zustand für völlig schwachsinnig. Aber da wir so gut miteinander auskamen, blieben wir in Kontakt und es entwickelte sich, so wenig ich diesen Ausdruck auch mag, eine echte Männerfreundschaft.
Eine weitere gute Freundin zu dieser Zeit war Saskia, die neu in der Stadt war und sich in dem Club, in dem ich sie das erste Mal traf, eigentlich mit jemandem verabredet hatte, der ihr aber abgesagt hatte. Sie interessierte mich und so sprach ich sie an. Es ergab sich daraus, dass ich ihr am nächsten Tag die Stadt zeigen sollte und so lernten wir uns näher kennen.
Ebenfalls ein sehr guter Freund war Philip, der irgendwann bei mir gegenüber eingezogen war. Eines Tages klopfte er einfach an meiner Haustür und sagte: „Hi, ich bin Philip. Ich bin hier neu eingezogen.“ Ich lud ihn ein, hereinzukommen und etwas zu trinken. Auch mit ihm verstand ich mich super. Ich hoffte, dass alles so bleiben würde, wie es war, aber alles ist vergänglich.
Zu erst starb Bobby. Der alte Mann von gegenüber überfuhr ihn. Einige Zeit später zogen erst Paul und dann Saskia weg. Philip kam ins Gefängnis, weil er in seiner Wohnung Marihuana verkauft hatte, weswegen ich als ein guter Freund von Philip auch einige Verhöre über mich ergehen lassen musste. Ich stand jetzt wieder da, wo ich am Anfang auch stand. Ich hatte sogar noch weniger.
Meine Mutter war einige Monate zuvor gestorben, mein Bruder und seine Freundin hatten geheiratet und waren ins Ausland gezogen und ich war wieder allein. Keine Freundin. Keine Freunde. Nicht ein Mensch, der mir nahe stand. Ich verfiel in eine tiefe Depression, ging kaum noch raus, dachte oft an Selbstmord. Doch einige Lichtblicke hielten mich davon ab, so wie der Besuch von Saskia oder der von meinem Bruder. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, sah ich einen heruntergekommenen Penner, der mich mit ekelhaftem Selbstmitleid in seinen Augen anstarrte. Ich hatte wieder dieses Gefühl, ich wusste genau, was es war, aber ich konnte diesmal nichts dagegen tun. Ich war nicht so naiv zu glauben, dass ich mir einfach einen neuen Bobby kaufen könnte, einen neuen Paul, eine neue Saskia und einen neuen Philip kennen lernen würde und langsam fand ich mich mit meiner Situation ab, zog alleine durch die Stadt und trauerte alten Zeiten hinterher. Ich war auf dem besten Weg, und hatte mich auch schon damit abgefunden, mein weiteres Leben als einsamer Einsiedlerkrebs zu führen und auch zu beenden.
Und dann kam sie.
Ich saß im Park, rauchte eine Zigarette, eine gewisse Melancholie, die ich mir angeeignet hatte, umgab und erfüllte mich und plötzlich stand diese schwarzgelockte Schönheit vor mir, lächelte mich an und fragte mich nach Feuer. Verzaubert hielt ich es ihr hin.
„Das ist aber ein schönes Feuerzeug.“
„Es ist ein Geschenk von meinem Vater. Kurz bevor er gestorben ist hat er es mir überlassen, zu meinem achtzehnten Geburtstag.“
„Es ist sehr alt, nicht?“
„Ja, ich glaube, es hat mal einer Berühmtheit gehört, die mein Vater gekannt hat.“
Sie lächelte mich an und ich lächelte zurück.
„Elena.“
„Max.“
Ein paar Monate darauf zog sie bei mir ein, mit ihrem kleinen Hund, Jack, einem Mischling. Einige weitere Monate heirateten wir und bekamen bald zwei wundervolle Kinder.
Oft besuche ich noch heute mit meiner eigenen, kleinen Familie, auf die ich sehr stolz bin, das Grab meiner Mutter, um ihr endlich zeigen zu können, dass ich es geschafft habe, mein Leben in den Griff zu kriegen. Dieses merkwürdige Gefühl, dass ich diesen einen, bestimmten Morgen so stark gespürt habe, das mich dazu bewegt hat, mein Leben komplett umzukrempeln, ist nie wieder gekommen.