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Meine Frau Mary
In der letzten Zeit habe ich viel gelernt. Zum Beispiel, dass einem eine Situation einfach entgleiten kann. Oder dass man sich selber oftmals falsch einschätzt, wenn man von sich denkt, immer alles unter Kontrolle zu haben. Man kann sich für einen Mann des Handelns halten, und es gibt trotzdem Situationen, in denen man einfach bewegungsunfähig ist.
Und ich habe gelernt, dass ein einziges Fläschchen Parfüm eine Familie zerstören kann.
Das Läuten der Türglocke zerrt mich aus einem unruhigen Schlaf wieder an die Oberfläche des Bewusstseins. Anhand der Lichtverhältnisse im Wohnzimmer ist es früher Nachmittag, also war ich für längere Zeit auf dem Sofa eingedöst und in eine halb sitzende, halb liegende Körperhaltung zusammengesackt. Ein klares Zeichen dafür, dass ich in letzter Zeit einfach zu wenig Schlaf bekomme. Viel zu wenig. Oftmals schlafe ich nur zwei oder drei verschwitzte Stunden die Nacht und verbringe den Rest der Zeit bis Sonnenaufgang mit Grübeln, gedankenverlorenem Gewinnspiel – oder Sexhotlinezapping oder Angebotserstellungen für meine Kunden. Die Nächte sind eine Qual – und die Tage sind, wenn überhaupt, nur einen Deut besser. Ich vermisse die Zwillinge, Antje und Mark, und ich vermisse Mary. Oh mein Gott, wie sehr ich Mary vermisse! Es gibt keinen wachen Augenblick an dem ich nicht an sie denken muss.
Ich richte mich in eine sitzende Position auf, schiebe die schlimmsten Befürchtungen beiseite, und mache mich auf den Weg durch das Wohnzimmer zur Haustür. Dort angekommen, drücke ich auf den Knopf der Gegensprechanlage und murmele ein „Ja?“.
Die förmliche Entgegnung machte mir klar, dass sämtliche von mir gehegten Hoffnungen, dass es sich bei dem Besucher doch um einen Verkäufer für fußgemalte Osterkarten oder meinetwegen auch die Zeugen Jehovas handeln würde, umsonst waren.
„Herr Becker? Mein Name ist Lothar Homm, bei mir ist mein Kollege Horst Brenner, Kriminalpolizei. Dürfen wir reinkommen?“
Ich schlucke und schließe die Augen. Alles dreht sich. Ich muss mich zusammenreißen und darf mir nichts anmerken lassen. Lange habe ich versucht, mich auf diesen Moment vorzubereiten, denn mir war klar, dass es zu dieser Situation kommen musste. Doch jetzt habe ich einfach nur noch Angst vor dem was kommen wird.
„Herr Becker?“, tönt die verzerrte Stimme Homms durch das Mikrofon der Gegensprechanlage.
„Ja … ja, natürlich. Bitte kommen Sie rein. Ich mache Ihnen auf.“ Ich versuche möglichst normal zu klingen und drücke auf den Knopf zur Entriegelung der Eingangstür, dann lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Haustür und achte darauf, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Wir wohnen im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses und so wird es noch
ein paar Sekunden Schonfrist geben, bis die beiden Polizisten bei mir sind. Allmählich werden die Schritte im Treppenhaus lauter und ich sehe mich noch einmal kurz im Spiegel an: Die Haare sind ein wenig durcheinander geraten während meines Schlafes auf der Couch, und
tiefe Ränder unter den Augen zeugen von zu viel wachen Stunden bei zu wenig Erholung. Die Wangen sind leicht eingefallen, aber ansonsten bin ich recht vorzeigbar, zumindest nach außen. Wie es in mir drinnen aussieht, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Ich öffne die Tür in dem Moment als der größere der beiden – Homm, wie ich vermute – die Hand zum Klopfen erhebt und die Bewegung dann in ein Händeschütteln mit mir enden lässt.
„Guten Tag Herr Becker, mein Name ist Homm, Oberkommissar.“ Noch während er spricht, drängt er sich, seine Dienstmarke vor meiner Nase schwenkend, an mir vorbei in den schmalen Flur.
Homm ist schlank, fast hager, und trägt die Mütze seiner Uniform unter dem Arm geklemmt. Mit wachen Augen beginnt er sofort die Umgebung zu sondieren, und das macht mich verdammt nervös. Auch Brenner gibt mir die Hand, nickt dabei aber nur. Brenner ist kleiner und bullig, ein Ringertyp. Auch er nimmt seine Mütze ab, rollt sie allerdings anders als sein Kollege zusammen und steckt sie in die Hemdtasche seiner Uniform.
Ich mache eine vage Geste in Richtung Wohnzimmer und gehe voraus, nicht ohne zu bemerken, dass auch Brenner einen Blick aufgesetzt hat, mit dem er die Umgebung regelrecht zu scannen scheint.
„Nun meine Herren, was darf ich für Sie tun?“, frage ich betont locker. „Ich habe leider nicht viel Zeit, ich muss gleich einen Termin wahrnehmen, und ich fürchte, ich muss mich vorher noch ein wenig frisch machen.“ Ich streiche über meine Haare, um meine Worte zu verdeutlichen und lächle entschuldigend während ich die Polizisten in das Wohnzimmer führe.
Brenner und Homm lächeln nicht, sondern setzen sich wortlos auf das Sofa. Ich lasse mich ihnen gegenüber nieder.
„Das verstehen wir, Herr Becker, und wir wollen auch gleich zur Sache kommen.“ Homm nickt beim Sprechen Brenner zu, der daraufhin anfängt, in einer seiner Uniformtaschen zu wühlen, bis er einen etwa DIN A 5 großen Umschlag herausholt.
„Wir fürchten, dass, was Sie jetzt sehen werden, wird sehr hart für Sie, Herr Becker.“, fährt Homm fort, während Brenner sich an die Öffnung des Umschlages macht.
Homms Worte lassen mich Schlimmes befürchten, und ich versuche, vorsichtig, ohne dass es einer der beiden mitbekommt, meine schweißnassen Handflächen an meiner Jogginghose abzuwischen. Den Schweiß, der mir anfängt auf der Stirn zu stehen, kriege ich nicht so ohne weiteres weg.
Auch wenn ich wusste, dass die Polizei irgendwann unweigerlich auftauchen würde, musste ich schockiert tun, um nicht auffällig zu wirken.
„Was wollen Sie mir zeigen?“, frage ich ängstlich, und das brauche ich nicht spielen. Ich fürchte mich vor dem, was ich gleich zu sehen bekommen werde.
„Ein Foto, aufgenommen letzte Nacht von einer Überwachungskamera am Rathausplatz. Haben Sie Radio gehört heute, oder Nachrichten geschaut?“, diesmal ist es Brenner der spricht, er hat das Foto aus dem Umschlag befreit.
Ich verneine, was der Wahrheit entspricht.
Homm spricht weiter. „Sie werden sehen was dort passiert ist, und Sie können uns dabei helfen, den Dingen auf den Grund zu gehen, Herr Becker. Dafür müssen Sie jetzt stark sein und ihren ganzen Mut zusammen nehmen.“ Damit nimmt er sich das Foto aus Brenners Hand und dreht es in meine Richtung.
„Herr Becker, ist diese Frau auf dem Foto ihre Ehefrau Mary?“
Ich schaue das Bild an und merke, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht und mein Herz
sich zu weigern scheint, weiter schlagen zu wollen.
Oh mein Gott, das Bild zeigt Mary! Meine Mary!
Und doch wieder nicht.
Eine meiner schlechten Angewohnheiten besteht seit jeher darin, alles, was nicht sofort und gleich geschehen muss, so lange wie irgend möglich aufzuschieben. Doch am letzten Tag vor Weihnachten fuhr ich dann nach meinem letzten Kundentermin ins Main-Taunus-Zentrum um noch ein Geschenk für Mary zu besorgen. Während der Fahrt über die Autobahn und bei der wahrhaft ermüdenden Parkplatzsuche, die mich fast eine Dreiviertelstunde kostete, bevor ich meinen Astra rücksichtslos in eine freie Lücke manövrierte, überlegte ich mir auf Nummer sicher zu gehen und Mary ein Parfüm zu kaufen. An sich brauchte ich nur ein kleines Geschenk zusätzlich, etwas das sie anfassen konnte und sofort einsatzbereit wäre, denn das zweite Präsent war ein Gutschein für ein Wellness-Wochenende an der Nordsee im kommenden Sommer. Also stieg ich aus in die wunderbare Abendluft, die geschüttelte Faust einer Frau in einem Porsche ignorierend, der ich den Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hatte. Auf der Hauptstrasse, die mittig im Zentrum angelegt war, und zu allen Geschäften führte, empfingen mich Weihnachtsmusik, Crepes-Stände und die unvermeidlichen „Ho Ho Ho“ – Rufe mechanischer Weihnachtsmänner, der Duft nach Zimtgewürz und Kräuterbonbons, eine liebevolle Dekoration in sämtlichen Schaufenstern und der wunderbar geschmückte, etwa 15 Meter hohe Weihnachtsbaum. Um diesen Baum setzten sich Familien mit ihren Kindern auf Bänke, um noch den ein oder anderen Happen zu sich zu nehmen, bevor sie sich frisch gestärkt ins Einkaufsgetümmel stürzten. Das erste mal in diesem Jahr erreichte auch mich die wohlige Wärme der Weihnachtsvorfreude, gerade noch rechtzeitig, wie ich schmunzelnd feststellte. Ich merkte, wie sehr ich mich jetzt, nach der Arbeit, darauf freute, mit den Zwillingen am nächsten Tag erstmal einen Tannenbaum kaufen zu gehen und später zu schmücken. Sie waren jetzt drei Jahre alt, und Mary und ich freuten uns sehr auf die hoffentlich leuchtenden großen Augen der beiden, wenn die vielen Lichter im Baum sich im Lametta spiegelten und ihre Geschenkpakete, ihre gesamte Aufmerksamkeit gewannen.
Mit diesen Gedanken betrat ich die Parfümerie, nicht ahnend, dass mein Leben sich durch die Taten der nächsten Minuten komplett verändern würde. Und nicht zum Guten, wenn ich soviel schon verraten darf.
Auf der Suche nach der Damenabteilung und dann nach einem Parfüm, welches Marys Anforderungen an einen guten Duft entsprach („Nicht zu schwer, und auch nicht blumig. Es soll frisch riechen, sportlich!“). Wahrscheinlich habe ich ziemlich hilflos gewirkt, wie ich an den Regalen mit den kunstvoll gestalteten Glasfläschchen auf und ab schritt, teils diesen Duft probierend, dann wieder einen anderen einer Prüfung unterzog, denn eine in einer cremefarbenen Einheitsarbeitskleidung gewandete junge Verkäuferin mit schwarzen Augen und einem 1000 Watt-Lächeln, stand mit einem mal vor mir und stellte fest:
„Sie brauchen Hilfe!“ Ihre Stimme war freundlich und ich musste unwillkürlich lächeln. Ihre offene Gesprächseinleitung fand ich absolut entwaffnend.
Ich erklärte ihr, welche Vorstellungen Mary von einem gelungenen Duft hatte, und nach verschiedenen Geruchsproben stellte die Verkäuferin mir „Shadow of Moonlight“ vor, ein, wie sie sagte, neuer, unverbrauchter Duft, der alle genannten Anforderungen meiner Frau erfülle. Auf der Verpackung war ein Vollmond zu sehen, der teilweise von einer schwarzen Wolke verdeckt wurde. „Und“, betonte sie, „ihre Frau wird es nicht einfach nur mögen. Ihre Frau wird es lieben und nicht mehr ohne „Shadow of Moonlight“ sein wollen!“
Wie recht sie doch hatte.
Nach dem obligatorischen Raclette-Weihnachts-Essen saß ich satt und zufrieden auf der Couch und filmte Antje und Marc beim Auspacken ihrer Geschenke – kleine Traktoren und Mähdrescher für Marc, der ein Faible für sämtliches landwirtschaftliches Gerät hatte ( eine Charaktereigenschaft, die er definitiv nicht von mir geerbt hat ) sowie ein Puppenhaus für Antje. Beide fingen sogleich begeistert an, ihre neuen Spielsachen auszuprobieren, und es war wunderbar, ihrem unschuldigen und reinen Glück beizuwohnen, zuzusehen, wie beide in ihrer besten Kleidung – Mary hatte die Kinder zur Feier des Tages sehr hübsch zurecht gemacht – um den Tannenbaum herumrutschten, imaginäre Felder bearbeiteten und Kaffeekränzchen im Puppenhaus abhielten.
Ich erhielt einen neuen Lacoste – Pullover in einem hellblau von Mary, sowie einen neuen Nassrasierer, da ich mit dem alten nicht sonderlich zurecht kam. Zum Schluss war Mary dran mit auspacken. Ich gab ihr einen Umschlag mit dem Gutschein und natürlich „Shadow of Moonlight“ welches die nette Verkäuferin in der Parfümerie noch weihnachtlich eingepackt hatte. Mary schenkte mir ein strahlendes Lächeln und begann mit dem Gutschein. Sie schaute mich aus großen Augen an und warf sich mir dann in die Arme bevor sie mir einen dicken, intensiven Kuss gab.
„Oh danke Dir mein Schatz! Das ist ein wunderbares Geschenk!“ Ich kannte Mary gut genug um zu wissen, dass sie es ernst meinte, dass sie sich wirklich unheimlich auf dieses Wochenende im Juli freute. Nachdem ich sie wieder auf dem Boden absetzte, nahm sie das Parfüm, hielt es sich ans Ohr und schüttelte sanft.
„Nicht so fest!“, ermahnte ich sie lachend. „Du machst es noch kaputt!“
Ganz langsam löste sie die Geschenkverpackung. Mary hasste es, wenn jemand seine Geschenke einfach aufriss, und das aus mehreren Gründen. Zum einen, meinte sie, sah es wie der Inbegriff von Gier aus, gepaart mit dem Fehlen jeglicher Selbstdisziplin. Zum anderen hat sich ja auch jemand schließlich mit dem Einpacken Mühe gegeben, so dass man schon aus Rücksicht demjenigen gegenüber seine Geschenke sorgfältig öffnen müsse.
„Shadow of Moonlight“, las sie nach dem Auspacken von der Flasche ab. „ Das habe ich noch nie gehört.“
„Es ist ganz neu, Mary. Ich habe mich beraten lassen, und ich denke, es wird Dir gefallen.“ Ich beobachtete, wie Mary das Fläschchen öffnete, sich einen Spritzer auf einen Handballen setzte, und dann mit dem anderen verrieb. Dann ließ sie ihre Hände kurz kreisen, um die Flüssigkeit zu trocknen. Endlich roch sie daran. Ich hatte gespannt gewartet und versuchte, ihre Reaktion ihres Gesichtsausdruckes zu deuten. Aber das gestaltete sich nicht als allzu schwierig. Ihre braunen Augen weiteten sich, ihre kirschroten, heute ausnahmsweise mal mit Lippenstift nachgezogenen Lippen weiteten sich zu einem Lächeln, so dass ihre Zähne mit dem ganz leichten Überbiss, den ich so sehr liebte, sichtbar wurden.
„Das riecht wunderbar, Frank! Das ist einfach der Knaller!“ Wieder warf sie sich mir in die Arme und küsste mich. „Ich liebe es.“, fügte sie nach unserer Umarmung hinzu.
Ich schaute ihr in die Augen. Eine lockige Strähne war ihr in ins Gesicht gefallen und ich beförderte die widerspenstigen Haare wieder an ihren Platz zurück, hielt danach aber noch ihr Gesicht in meiner Hand.
„Und ich liebe Dich!“, flüsterte ich.
„Noch etwas Tee?“, fragte Antje ihre Puppe und obwohl diese natürlich nicht antwortete, bekam sie reichlich nachgeschenkt, während Mark kleine Plastikheuballen in seinen Mähdrescher lud.
Es war der letzte glückliche Abend mit der gesamten Familie an den ich mich erinnern kann.
Ich weiß nicht, welches Licht es auf die Beziehung zwischen mir und Mary wirft, aber das erste mal, als ich mir Gedanken über Marys verändertes Verhalten machte, war nach dem Sex. Das Liebesspiel mit meiner Frau war immer befriedigend gewesen, jedoch war für gewöhnlich ich der aktivere Part gewesen, während Mary sich darauf beschränkte, in die Rolle der schüchternen Verführten zu schlüpfen. In meinem Hinterkopf hatte ich oft einen unerwünschten nagenden Gedanken, der mich piesackte, ob Mary überhaupt Spaß am Sex mit mir hatte, ob ich Mary Freude und Befriedigung verschaffen konnte. Sprach ich sie darauf an, so versicherte sie mir immer, dass dies natürlich der Fall sei, und ich konnte den Gedanken wieder in eine tiefe Ecke meines Bewusstseins schieben, wo er eine Zeit lang ruhig verharrte und auf sein Comeback wartete, welches ein paar Wochen später auch unweigerlich erfolgte.
Seit etwa Mitte Januar drehte sich dieses Bild jedoch deutlich; war früher ich der Auslöser für sexuelle Aktivitäten, so übernahm eindeutig Mary nun nach und nach die Führung. Nicht nur, dass wir jetzt wesentlich häufiger miteinander schliefen, auch die Intensität war eine ganz andere. Mary, früher nach dem Sex darauf bedacht, im Arm gehalten zu werden, wurde immer fordernder, fast unersättlich, und das erste mal seit ich sie kannte, wusste ich ganz bestimmt, dass sie die Zärtlichkeiten genoss. Mehr noch, Mary forderte mich zu Praktiken auf, bei denen sie früher nicht im Traum daran gedacht hätte, bei so etwas mitzuwirken. Es wäre natürlich nicht glaubwürdig, wenn ich behaupten würde, dass mir diese Wesensveränderung Marys nicht gefallen hätte, nein, ich gab mich dem Geschehen voll und ganz hin und war viel zu verzückt (und nach den schweißtreibenden und auslaugenden Aktivitäten viel zu erschöpft) um groß darüber nachzudenken. Dies tat ich erst an jenem Tag im Februar, als Mary mich von der Arbeit abholte und mich auf der Autobahn aufforderte, „sie auf dem Standstreifen zu nehmen.“ Während sie sprach, zog sie ihren Rock hoch und ich bemerkte, dass sie keine Unterwäsche trug, etwas, was ich bei ihr noch nie erlebt hatte und dies bis zu jenem Tag auch für völlig ausgeschlossen gehalten hätte. Mein erschrockener Blick brachte sie zum Lachen, und ein Hauch von „Shadow of Moonlight“ wehte zu mir hinüber.
„Na komm schon, mal ein wenig was anderes als ständig im Bett übereinander herzufallen.“ Sie lachte immer noch, und ich nahm wahr, dass ihre Zähne weiß wie Perlen funkelten. -
Gleichzeitig drehte sie den Beifahrersitz herunter, so weit, bis die Rücklehne auf dem Hintersitz auflag. Dann zog sie sich den Pullover über den Kopf und ich bemerkte, dass sie sich ebenfalls nicht die Zeit genommen hatte, einen Büstenhalter oder ein sportliches Top, welches sie so gerne trägt, anzuziehen. Ihre Augen sprühten Funken und ihre Zunge umspielte ihre spitzen Eckzähne und fuhr über ihre Lippen.
Ich schaltete den Warnblinker an und kam auf dem Seitenstreifen zu stehen. Wer kann schon von sich behaupten, immer stark zu sein?
Nach dieser Episode auf dem Seitenstreifen der A 66 im Feierabendverkehr beobachtete ich Mary ein wenig genauer, und als ich noch andere Veränderungen in ihren Verhaltensweisen feststellte, verschärfte ich meine Beobachtungen weiter. Eines Abends, Mary war mit den Zwillingen zum Einkaufen gefahren, hatte ich die Wohnung für mich alleine. Ich nutzte die Zeit dafür - ich schäme mich ein wenig dies zuzugeben - in den persönlichen Dingen meiner Frau zu stöbern, auf der Suche nach etwas, welches das veränderte Verhalten meiner Frau erklärte oder mir zumindest einen Ansatzpunkt gab, den ich weiter zu des Rätsels Lösung verfolgen konnte. Angefangen habe ich im Schlafzimmer, wo ich vorsichtig, um mich nicht
zu verraten, die Schublade, in der sie ihre Unterwäsche aufbewahrte, einer Prüfung unterzog,
Doch außer ein paar neuen String-Tangas, die Mary sich vor einigen Wochen noch strikt geweigert hätte zu tragen, konnte ich hier nichts finden. So ging ich weiter in unser
Ankleidezimmer, jedoch auch hier erfolglos, ebenso hielten das Badezimmer, die Küche und das Wohnzimmer keine Überraschungen für mich bereit. Fündig werden sollte ich schließlich im Kinderzimmer, auch wenn ich nach meiner Entdeckung eher noch ratloser als vorher war, und einer Lösung weiter entfernt als zuvor. Im gemeinsamen Raum der Kinder, das von dem mächtigen kombinierten Etagenbett mit Rutsche beherrscht wurde, steht ein massives eichenes Sideboard, auf dem die Zwillinge als Säuglinge gewickelt wurden, und in dem wir früher Windeln für Antje und Marc verstauten. Nachdem die Windeln endlich überflüssig wurden, sind verschiedene Spielsachen der Kinder hier verwahrt worden. Ich bückte mich und öffnete eine der Schranktüren, doch was ich sah, konnte ich erstmal gar nicht einordnen, und so musste ich eine geschlagene Minute wie ein Idiot in das geöffnete Sideboard gestarrt haben, bevor ich die Hand ausstreckte und nach einer 100 ml – Packung „Shadow of Moonlight“ griff. Doch war dies nicht das einzige Parfümfläschchen, welches dort im Schrank auf Benutzung wartete - insgesamt 27 Packungen des Dufts hatte Mary hier verstaut. Wer brauchte so viel Parfüm? Ich freute mich ja darüber, dass ich mit meinem Geschenk so sehr ins Schwarze getroffen hatte, doch war dies hier definitiv erklärungsbedürftig. Sorgfältig räumte ich die Verpackungen wieder in das Sideboard, darüber nachgrübelnd, wie ich Mary darauf ansprechen konnte, ohne den Anschein zu erwecken, ich hätte ihr hinterher spioniert.
Als Mary nach Hause kam, beladen mit vier Einkaufstüten, zwei Kleinkindern und einem unglaublichen Lächeln, schaute ich geistesabwesend die Sportschau. Sie streckte den Kopf in das Wohnzimmer und mir fiel auf, dass sie nicht mehr versuchte ihre von Natur aus lockigen Haare zu bändigen, wie sie es seit ich sie kenne meist erfolgreich praktiziert hat. Jetzt ließ sie die braune Haarmähne einfach fallen, wie sie eben fielen, und es gefiel mir außerordentlich gut. Nach Jahren der Ehe konnte Mary aus meinem Gesicht herauslesen, dass etwas nicht in Ordnung war.
„Alles klar bei Dir?“, fragte sie.
Ich entschied mich dafür, Mary direkt zu konfrontieren.
„Mary, kannst Du mir erklären, warum das ganze Sideboard gerammelt voll mit „Shadow of Moonlight“ ist?“
Sie warf den Kopf zurück und ließ ein kehliges Lachen hören, welches so überhaupt nicht zu ihr passte und das man eher einer jahrzehntelangen Raucherin zutrauen würde als Mary, die in
ihrem Leben wenn es hoch kommt drei Zigaretten konsumiert hatte. Trotz allem hörte es sich
sexy an, irgendwie wild.
„Das kann ich Dir sagen Frank. Sie hatten einfach nicht genug davon da, auch noch unseren Kleiderschrank damit zu füllen!“ Immer noch lachend drehte sie sich um und ging zu den Kindern, während ich für mich allein diese Aussage einzuordnen versuchte.
In der folgenden Zeit hatte ich ein waches Auge in Bezug auf meine Ehefrau, jedoch konnte ich natürlich nicht rund um die Uhr jedem ihrer Schritte beiwohnen. Deshalb verpasste ich sehr wahrscheinlich viele Anzeichen ihrer Veränderung, und die Kinder waren zu jung, um etwas zu bemerken. Und selbst wenn sie erkannt haben sollten, dass ihre Mutter sich ganz langsam zu einer anderen Frau entwickelte - man spricht Kindern ja eine hohe Gabe bei der Wahrnehmung ihrer Umgebung zu – waren sie zu klein um dies anderen mitzuteilen. Trotzdem nahm ich verschiedene Ereignisse auf, und im Nachhinein frage ich mich, ob Mary sie mich absichtlich hat beobachten lassen. Eines Abends zum Beispiel kam ich nach Hause und wollte als erstes nach den Kindern schauen. Im Zimmer der Zwillinge – ich vermutete, dass diese schon schlafen würden – erwischte ich meine Frau dabei, wie sie sich den Zerstäuber einer Flasche „Shadow of Moonlight“ vor die Nase hielt und mehrmals hintereinander abdrückte, das Parfüm tief inhalierte und genussvoll ausatmete, ganz so als würde sie eine wohl schmeckende Zigarre genießen. Wenige Tage später fühlte ich mich wie
ein Voyeur, als ich Mary durch einen Türspalt im Bad dabei beobachtete, wie sie sich von Kopf bis Fuß mit dem verdammten Parfüm einrieb, als handele es sich um eine Body-Lotion. Und dann, dieses mal zufällig, wurde ich Zeuge, wie sie in unserer Küche die Verschlußkappe des Parfümfläschchens abschraubte und sich einen Schluck Parfüm in ihre dampfende Kaffeetasse goss, ganz so, wie ein Alkoholiker es mit einem Flachmann anstellen würde.
Und zu diesem Zeitpunkt beschloss ich endlich zu handeln.
Es ist ein Klischee, doch würde ich nicht bereits sitzen, würden meine Beine just in diesem Moment versagen. Selbst jetzt, sitzend auf der Couch, fühle ich mich, als seien meine Knochen aus Gummi und ich könnte einfach aus dem tiefen Sessel hinaus fließen.
„Schauen Sie sich das Foto bitte aufmerksam an, Herr Becker.“ Homm schaut mir in die Augen und versucht, aus meiner Reaktion Rückschlüsse zu ziehen. Er sieht einen geschockten Mann, ganz sicher. Einen geschockten Ehemann.
Ich muss mich zwingen, nicht in Tränen auszubrechen, denn das wäre verräterisch und würde alles verraten. Also schiebe ich das Foto von mir weg und sage:
„Tut mir leid meine Herren, aber das ist nicht meine Frau auf dem Foto.“
Natürlich war Mary auf dem Foto zu sehen. Mary in ihrer ganzen neuen Schönheit.
Zweifelnd sah mich Brenner an. „Sind Sie sich sicher, Herr Becker? Ich muss Ihnen nicht sagen, wie wichtig es ist, dass Sie die Wahrheit sagen.“
„Sie haben Recht Herr Brenner, Sie brauchen es mir nicht zu sagen. Und das auf dem Foto dort ist nicht Mary. Und ich bin weiß Gott wirklich froh und erleichtert darüber!“ Ich bluffe, aber natürlich nimmt mir das keiner der beiden ab.
„Und warum sehen Sie dann nicht erleichtert aus, Herr Becker?“ Das ist wieder Homm, der mich mit immer noch fixiert.
„Nun, das Foto ist grausam. Wirklich grausam.“
„Dürften wir uns ein wenig in ihrer Wohnung umsehen, Herr Becker?“, fragt Brenner, und seine Stimme wirkt nun angespannter als zuvor, so als geht die ganze Chose hier nun auf eine Entscheidung zu.
„Ehrlich gesagt, kommt das nun nicht gelegen, die Herren. Ich habe gleich einen Kundentermin und …“
„Es wird auch nicht lange dauern, Herr Becker.“, unterbricht mich Brenner, während Homm schon aufsteht und durch das Wohnzimmer schlendert.
Brenner greift nach dem Foto, und beginnt, es wieder in dem Umschlag zu verstauen.
„Meine Herren, ich darf Sie nun bitten zu gehen, denn ich habe Ihnen nichts weiteres zu sagen. Ich werde Sie noch zur Tür begleiten.“ Ich stehe auf und Homm dreht sich zu mir:
„Herr Becker, wir können in einer halben Stunde mit einem Durchsuchungsbefehl wieder hier sein, und dann werden hier 20 Polizisten in ihrer Unterwäsche stöbern. So wären es nur ich und mein Kollege, die kurz mal in jeden Raum schauen.“
Homm ist gut, aber ich erkenne, dass auch er nicht die ganze Wahrheit sagt.
„Warum haben Sie den Durchsuchungsbefehl nicht gleich mitgebracht, wenn Sie ihn so problemlos ausgestellt bekommen?“, fragte ich. „Also, ich bitte Sie zu gehen. Auf Wiedersehen!“
Brenner hält mich auf, und schiebt sein kantiges Gesicht ganz nah an meins heran. Ich kann billiges After - Shave und Nikotin riechen. Es ist nicht „Shadow of Moonlight“.
„Wie werden uns jetzt hier umsehen, mein Freund! Und sollten Sie uns nicht lassen, kriegen wir Sie wegen Behinderung dran!“
In dem Moment, als er seine Warnung zu Ende spricht, ertönt aus dem Flur ein ohrenbetäubender Schrei, wie ich ihn noch nie zuvor gehört habe. Dieser Schrei ist weder menschlich, noch kann man ihm etwas Tierisches zusprechen, nur eines lässt sich daraus zweifelsfrei entnehmen: Es ist ein Ausbruch an Wut, an alles vernichtendem Zorn. Mir stellen sich sämtliche Körperhaare auf und das Kreischen reißt an meinen Trommelfellen, während die Polizisten beide den Verschluss ihres Holsters lösen, in dem ihre Waffe steckt. Gleichzeitig explodiert die Wohnzimmertür nach innen.
Unter dem Vorwand, Mary und ich haben eine schwierige Zeit durchzumachen (was ja weiß Gott nun wirklich der Wahrheit entsprach), übergab ich die Zwillinge in die Obhut meiner Eltern. Mary hat die Kinder immer vorbildlich behandelt, jedoch habe ich mich trotzdem nach dem merkwürdigen „Shadow of Moonlight“ – Cocktail dazu entschlossen, die beiden erstmal aus der Reichweite meiner Frau zu bringen, bis sich die Lage wieder normalisieren würde. Als ich Mary erzählte, dass ich die Kinder weggebracht habe, wurde sie wütend. Sie schrie mich an und ihr Gesicht verzerrte sich in einer Weise, wie ich es noch nicht bei ihr gesehen hatte. Ihre Eckzähne schienen länger geworden zu sein, und sie waren strahlend weiß. Ihre Augen hatten einen anderen Farbton angenommen, irgendwie dunkler. Ihre Pupillen waren nicht mehr vollkommen rund, sondern länglich, ähnlich denen einer Katze. Nachdem sie sich beruhigt hatte, schliefen wir miteinander. Das hört sich jetzt verrückt an, aber „miteinander schlafen“ ist auch nicht der richtige Ausdruck für das, was sich im Abstellraum unserer Wohnung abgespielt hat. Würde ich sagen, sie schlief mit mir, hatte Sex mit mir, und ich war einfach nur das Werkzeug auf dem Weg zu ihrer Befriedigung, träfe das viel mehr den Kern der Sache. Nach dem Sex bat ich sie inständig darum, einen Arzt aufzusuchen, da ich mir Sorgen um sie machte. Ihre Reaktion bestand wieder aus diesem kehligen, so Un-Maryhaftigem Lachen, das ich zusammenzuckte ob dieser Andersartigkeit meiner Frau.
„Frankie-Boy“, raunte sie, obwohl sie genau wusste, wie sehr ich diesen Spitznamen hasse, „ich habe mich noch nie in meinem Leben so gut gefühlt wie heute. Ich war noch nie so lebendig wie jetzt!“ Damit ließ sie mich stehen und ging ins Bad um sich mit diesem gottverdammten Teufelszeug einzureiben.
Die nächste Zeit verging damit, dass ich auf die Arbeit fuhr um sie zu vernachlässigen und dann nach Hause fuhr - oft auch mit einem kleinen Abstecher zu meinem Eltern um mich zu überzeugen, dass die Zwillinge sich auch benahmen – um Marys willenloses Spielzeug zu sein.
Lange spielte ich mit dem Gedanken, einfach mal einen Arzt zu konsultieren und ihm zu erzählen, was sich mit meiner Frau abspielte. Doch letztlich entschied ich mich immer dagegen, und das aus zwei Gründen: Zum einen hoffte ich immer noch, dass sich wieder alles geradebiegen würde, und zum anderen kam ein schweres Element hinzu – ich hatte mittlerweile panische Angst vor meiner Frau! Die Entwicklung von meiner Mary zu einer anderen Frau – zu einem anderen Wesen – schien immer schneller zu verlaufen. Im Haus roch es jetzt unaufhörlich nach dem Drecksparfüm, da Mary sich mehrmals täglich komplett mit dem Duft einrieb und ich fand volle sowie leere Flaschen „Shadow of Moonlight“ im Laufe der Zeit in fast jeder Schublade, jedem Schrank, jedem Nachttisch.
Marys Eckzähne wurden immer länger, so dass sie aus den Lippen herausschauten, wenn sie den Mund schloss. Ihre Haare schienen einen immer dunkleren Ton anzunehmen und ihre Pupillen wurden immer länglicher, während die Iris einen Rotstich annahm.
Ihre Körperhaltung war auch nicht mehr dieselbe. Mary hatte stets darauf geachtet, gerade zu
sitzen und zu gehen, um Rückenerkrankungen vorzubeugen. Nun war ihre ganze Haltung eher gebückt, die Schultern nach vorne gezogen, aber auf eine aufmerksame Art und Weise, bei der man das Gefühl hatte, sie wäre bereit, einen jederzeit anzuspringen. Sie sah so gespannt aus wie ein Klappmesser, das auf Knopfdruck explodieren konnte. Ihre Fingernägel wuchsen schnell, und sie waren sehr hart und liefen vorne spitz zu, wobei ich hier nicht sicher bin, ob Mary sie sich extra so hinfeilte. Mein ganzer Körper hatte beim Sex unter diesen Nägeln zu leiden.
Ich merkte immer mehr, wie ich Mary als Mann nicht mehr reichte, wie ich ihr nicht mehr zur Befriedigung verhelfen konnte. Daraufhin ging sie abends immer öfter weg. Kam sie die erste Zeit noch vor Mitternacht zurück, wurde es immer später, teilweise sah ich sie gar nicht mehr, bevor ich zur Arbeit aufbrach. In meinem Schädel ging es drunter und drüber; ich begann, Pläne zu schmieden, mit den Zwillingen wegzuziehen, woanders neu anzufangen. Ich raste anderseits vor Eifersucht, weil ich nicht wusste, was – und vor allem, mit wem! – Mary es trieb in den Nächten. Sprach ich sie darauf an, lachte sie nur ihr neues Starkraucherlachen und sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen, es gebe keinen anderen. Sie fühle sich nur ein wenig unausgelastet und wolle ein wenig unter die Leute gehen, „gerade jetzt, wo sie sich doch so lebendig fühle, und ich ihr doch die Kinder weggenommen hätte.“
Eines Abends folgte ich ihr. Sie ging in eine von den Kaschemmen, in der Hits aus den 70ern gespielt wurden und man am besten alles direkt aus der Flasche trsnk, um sich keine Krankheiten zu holen. Solche Lokalitäten waren noch nie Marys Stil, aber ich habe in letzter Zeit Komischeres erlebt als diese Auswahl, ein abendliches Vergnügen zu suchen. Ich setzte mich in eine Nische ganz am dunklen Ende des Gastraumes und beobachtete meine Frau, wie sie den ganzen Abend Billard spielte, während ich Bier trank. Wie eine Maschine baute sie die Kugeln auf, um sie dann mit irrsinniger Geschwindigkeit und fast roboterhafte Präzision in die Löcher zu stoßen. Dann baute sie wieder auf um das noch einmal zu wiederholen. So ging das den ganzen Abend weiter. Mary unterbrach das Spielen nur, um etwas zu trinken. Bier, wie ich erkannte.
Von meinem Platz aus konnte ich jedoch nicht ersehen, ob sie sich auch wieder einen Schuss „Shadow“ gönnte. Billard war für Mary schon immer ein Hobby, aber es war mehr der Spaß der sie dabei hielt als der Erfolg. Heute aber saß fast jeder Stoß: Einbänder, Zweibänder, sogar Vorbänder und Kombinationen spielte sie mit traumwandlerischer Sicherheit. Ich bin kein Experte, aber ich vermute, dass Mary an diesem Abend Profiniveau spielte. Nach einigen Stunden ließ sie einen Geldschein auf den Tisch fallen und ging ohne ein Wort zu sagen, und ohne mich zu bemerken, aus dem Lokal.
Als ich in jener Nacht nach Hause kam, saß Mary im dunklen Wohnzimmer auf der Couch und hielt ein Kissen an ihren Bauch gedrückt. Als ich zu ihr ging um sie zu begrüßen, stellte ich überrascht fest, dass ihr Tränen die Wangen hinunterliefen.
„Was ist los, Mary?“ Ich setzte mich neben sie und nahm eine ihrer Hände in die meine, wobei ich mir an ihrem Fingernagel - ihrer Kralle - wehtat.
Sie drehte mir den Kopf zu, und im Dunklen leuchteten ihre Augen rötlich, was mir eine Heidenangst einjagte.
„Frank, ich weiß nicht was mit mir los ist.“ Marys Stimme war tränenerstickt, und es fiel mir schwer, sie zu verstehen. „Es ist dieses Parfüm weißt Du? Es macht irgendwas mit mir.“
Ich nickte nur, denn ich hatte Angst, etwas Falsches zu sagen und diesen Augenblick, den ersten Moment seit langem, in dem Mary eine menschliche Regung zeigte, zu zerstören. Ich nahm auch ihre andere Hand und drückte fest zu, ohne auf den Schmerz zu achten, den ihre Fingernägel mir verursachten. Ich wollte ihr zeigen, dass ich nah bei ihr war, und dass ich sie nicht im Stich lassen würde.
Dann fuhr sie fort: „Ich weiß, dass ich mich verändere, Frank, aber es fühlt sich so verdammt gut an!“ Sie weinte heftiger, und ich umarmte sie, während sie ihren Kopf an meine Schulter drückte und ihre Tränen mein Polohemd durchnässten.
Es fühlte sich gut an. Es fühlte sich real an. Es fühlte sich wie Mary an.
Kurz bevor sie so einschlief, flüsterte sie: “Ich werde damit aufhören, Frank! Bei Gott, ich werde damit aufhören und dann werden wir wieder eine Familie sein.“
Ich sagte immer noch nichts, aber meine Tränen der Erleichterung waren Antwort genug.
Doch es kam anders. Ich gab Mary eine Woche Zeit, den Konsum von „Shadow“ zu reduzieren und schließlich ganz aufzugeben, doch von einer Einschränkung war nichts zu spüren. Eher das Gegenteil war der Fall. Marys Metamorphose ging immer weiter, ebenso meine Verzweiflung, denn ich sah keinen Ausweg. So gab ich mich der Hoffnung hin, dass sie ihr Versprechen doch noch wahr machen würde, auch wenn rein gar nichts dafür sprach, ich musste ihr nur in ihre mittlerweile blutroten Augen schauen, um es besser zu wissen. Aber manchmal ist die Hoffnung das einzige was uns bleibt. Trotzdem nahm ich eines Nachts, Mary war unterwegs, Billardspielen oder weiß der Himmel wo, meinen Mut zusammen und durchsuchte das Haus nach der unseligen Flüssigkeit, um sie komplett wegzuschmeißen und meine Frau so auf einen kalten Entzug zu schicken. Als Mary nach Hause kam, war ihr erster Weg ins Badezimmer, um dort einen tiefen Zug ihres Suchtmittels einzunehmen, wie ich vermutete, denn schon bald hörte ich sie in verschiedenen Schubladen immer ungeduldiger wühlen. Dann lief sie in das Kinderzimmer um im Sideboard zu suchen, doch auch da wurde sie nicht fündig, denn ich hatte gründlich jeden Tropfen entsorgt. Im Bett liegend wartete ich die weitere Entwicklung ab. Nach einer Viertelstunde wurde die Schlafzimmertür aufgerissen.
„Wo hast Du es?“ Das Licht im Flur war aus, Mary hatte die Wohnung komplett im Dunklen durchsucht, eine weitere Gabe, die sie neuerdings besaß. Ihre Augen leuchteten in ihrem schattenhaften Umriss. Ihre Stimme war dunkel und Furcht einflössend.
„Du wolltest damit aufhören!“, gab ich zurück.
Ich nahm die Bewegung kaum wahr, doch Mary war innerhalb eines Sekundenbruchteils auf mir und ihre Nasenspitze war nur einen Zentimeter von meiner entfernt. Ihre Zähne blitzen in einem Lichtstrahl einer Straßenlaterne, der durch ein Loch des Rollladens fiel.
„Wo hast Du es?“
Ich bekam Angst, richtig Angst. Mary war ein Junkie, ein Pendant zu einem Fixer, der seinen Dealer einzuschüchtern versucht, ihm Stoff zu geben. Und ich wusste nicht, wozu sie fähig war. Trotzdem versuchte ich es.
„Nein Mary! Du musst mit dem Zeug aufhören! Schau Dich an, schau Dich nur mal im Spiegel an! Ich schwöre Dir, ich nehme die Kinder und verschwinde! Wir werden abhauen!
„WO … IST … ES?“
Ein Speichelfaden, fiel ihr aus dem Mund und landete direkt in der Mulde zwischen Nase und Mund. Ein intensiver Geruch nach „Shadow of Moonlight“ füllte meinen Geruchssinn aus.
Die Drohung mit den Kindern erzielte eine Wirkung, ihre roten Augen schienen ein wenig schwächer zu illuminieren, und sie ließ mich los, machte sich jedoch wieder auf die Suche nach dem Parfüm und fand schließlich die Müllsack, den ich blöderweise nicht direkt in den Container geschmissen hatte,
Geschlagen ging ich aus dem Schlafzimmer auf die Wohnzimmercouch und kurz bevor ich weinend einschlief, hörte ich Mary noch einmal aus dem Haus gehen.
Den nächsten Tag nehme ich Mark und Antje und verschwinde. Am nächsten Tag nehme ich Mark und Antje und verschwinde. Mit diesem Mantra schlief ich ein um am nächsten Nachmittag von Brenner und Homm geweckt zu werden.
Die Wohnzimmertür wird aus den Angeln gerissen und fliegt mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit quer durch den Raum, wo sie Homm trifft, der keine Zeit zum Reagieren hat. Der Polizist stürzt, und die Tür begräbt ihn zur Hälfte unter sich. Brenner zieht seine Pistole, wobei er den Umschlag mit dem Bild fallen lässt. Das Bild rutscht heraus und ich sehe es noch einmal in allen Einzelheiten, obwohl es sich sowieso für alle Zeiten in meine Netzhaut eingebrannt hat. Das körnige Schwarz/Weiß – Foto zeigt den Rathausplatz bei Nacht, der von Straßenlaternen sowie von Scheinwerfern erhellt wird, die das hässliche Gebäude in einem wohlmeinenden Licht erstrahlen lassen sollen. Außerdem ist auf dem Foto auch Mary zu sehen, wie sie über einem alten Mann gebeugt Blut aus dessen Kehle trinkt. Ihre Augen reflektieren auf dem Foto und das Blut läuft an ihrem Kinn hinab.
„Stehen bleiben!“, ruft Brenner und zielt mit der Waffe auf die Person in der Tür. „Stehen bleiben oder ich schieße!“
Mary steht nackt in der Türöffnung, und sie sieht selbst aus wie eine tödliche Waffe. In ihrem so hübschen Gesicht, das nun wieder vor Wut verzerrt ist, leuchten rot pulsierend ihre Augen. Ihre Eckzähne scheinen noch mal gewachsen zu sein, oder es hat nur den Anschein, denn sie fletscht die Lippen wie ein wildes Tier. Ihre Körperhaltung ist noch gebückter, geschmeidiger als zuvor, während sie die Umgebung sondiert. Homm liegt unter der Tür und rührt sich nicht, Brenner zielt weiterhin mit seiner Waffe auf Mary. Ich sollte dazwischen gehen, doch ich kann mich nicht bewegen.
„Nehmen Sie die Hände hoch und legen sie sich hin!“
Einen Wimpernschlag, nachdem Brenner fertig gesprochen hat, steht Mary vor ihm und reißt mit einer ihrer klauenbewehrten Händen seine Kehle auf, so dass ihr eine Fontäne Blut ins Gesicht spritzt.
Brenner gluckst unverständlich, als er mit leeren Augen auf die Knie sinkt. Dann sinkt er nach vorne und klatscht mit dem Gesicht auf den Parkettboden. Jetzt gluckst er nicht mehr. Mary leckt sich derweil sein Blut von ihren Lippen und wendet sich dann dem bewusstlosen Homm zu. Völlig mühelos, so handele es sich um eine Wolldecke, räumt sie mit einer Hand die Tür von ihm herunter.
Ich kann mich immer noch nicht bewegen, ich stehe einfach nur da und fühle mich wie in einem Alptraum, zur Untätigkeit verdammt, wo man doch um Himmels Willen etwas unternehmen müsste. Doch ich kann nicht.
Manche Tiere, zum Beispiel Katzen, haben sehr viel bessere Augen als wir Menschen. So kommt es, dass sie schnelle Bewegungen mühelos verfolgen können, wo es dem menschlichen Auge nur gelingt, schemenhaft zu sehen. Hätten wir eine Katze, so könnte sie jetzt also einwandfrei sehen, wie Mary mit einem ihrer Füße, welche auch diese krallenartigen Auswüchse wie ihre Finger aufweisen, in einer geschmeidigen, blitzartigen Bewegung Homms Kehle aufreißen. Danach beugt sie sich über ihn, so dass es wie eine Kopie des Fotos aussieht und trinkt sein Blut.
Jemand schreit ohrenbetäubend laut, und ich merke, dass ich es bin. Doch ich kann nicht aufhören. Mein Gesicht ist tränennass und ich habe dass Gefühl, wahnsinnig zu werden.
Mary dreht sich zu mir um und endlich verstumme ich.
„Wir holen die Kinder, Frank! Wir hauen ab!“
Ich traue meinen Ohren nicht. Was hatte Mary da gesagt? Sie hat gerade zwei Polizisten umgebracht, sie kann doch nicht ernsthaft daran glauben, wir könnten untertauchen.
„Mary, ich kann nicht mehr!“ Ich rutsche an der Wand hinunter und vergrabe mein Gesicht in den Händen, hemmungslos schluchzend.
„Ich höre auf das Zeug zu nehmen! Ich schwöre es Dir!“ Mary kommt zu mir, ich will wegrutschen, aber in der Ecke geht es nicht mehr weiter. „Nun nimm den Polizeiwagen, stell´ ihn irgendwo in eine Tiefgarage und komm wieder her. Wir holen die Kinder und verschwinden.“
Sie nimmt meinen Kopf in die Hände, die Hände, mit denen sie mindestens drei Menschen umgebracht hat und dreht ihn so, dass ich sie angucken muss.
Meine Mary, meine wunderschöne Mary!
„Und Du hörst auf dieses Zeug zu nehmen?“
Sie hebt drei Finger, von denen buchstäblich Blut tropft. „Ich schwöre es!“
„Du wirst niemanden mehr töten? Du wirst wieder … Du?“
„Ich schwöre.“
Ich stehe auf und gehe in die Küche zum Wasserhahn, wasche mein Gesicht.
Etwas klimpert an meinem Ohr und ich sehe Mary, wie sie mir den Autoschlüssel des Polizeiwagens hinhält.
„Du musst Dich beeilen. Sie können den Wagen orten. Geh jetzt!“
Ich nehme den Schlüssel und gehe zur Wohnungstür. Was soll ich machen, ich liebe meine Frau. Und sie sagte, sie würde niemanden mehr umbringen.
Manchmal ist Hoffnung alles was wir haben.