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Meine letzte Mark

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14.03.2002
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Meine letzte Mark

Die Geschichte meiner letzten Mark ist die Geschichte meines ersten eigenen Zimmers. Als ich die Mark hergegeben hatte, hatte ich nichts mehr, auch keine Fahrkarte zurück nach Borgeln, das nie jemand kennt, das zwischen Soest und Hamm liegt, es ist ein Ortsteil von Welver.

Ich war am Morgen mit dem ersten Zug von Soest aufgebrochen, ich hatte die Nacht bei Freunden verbracht, nach Hause wollte ich nicht mehr, nicht mehr zur Schule, wollte ganz weit weg. Ich wollte nach Heidelberg, dort zu einem Künstler, der einmal eine Ausstellung in Borgeln gemacht hatte, Holzbildhauerei. Damals war ich völlig begeistert von Holzbildhauerei. Ich hatte nach dem Lösen der Fahrkarte noch zweiundsechzig Mark vierzig in der Tasche. Außer meinem eigenen Geld hatte ich noch hundert Mark gehabt, die ich meinem Vater gestohlen hatte. Ich fühlte mich frei und wußte, daß ich nicht mehr zurückzukehren brauchte. Es kam mir nicht in den Sinn, daß es schwierig werden könnte, in einer Stadt wie Heidelberg ein Zimmer zu finden.

Als der Zug in Heidelberg ankam, war es mittag, und ich hatte Hunger. Ich ging durch die Bahnhofshalle, sah mich nach Backwaren um und fragte mich zum ersten Mal seit meiner Abfahrt, wie ich denn ein Zimmer finden wollte. Ich dachte eine Weile nach, schließlich kaufte ich im Bahnhof eine Regionalzeitung und eine Flasche Cola und aß eine Bockwurst mit Senf. Glücklicherweise war Mittwoch und ich fand eine ganze Menge Anzeigen. Ich blätterte in der Zeitung herum, bekam weiche Knie, als ich die Preise las und fragte mich, was die Kürzel WM, NK und NR in den Annoncen bedeuten mochten. Dann kaufte ich noch eine Schachtel Zigaretten und wählte an einem Münzsprecher die erste Nummer. Bei meinem vierten Anruf nahm endlich jemand ab. Der Vermieter, den ich nur mit Mühe verstand, hatte aber keine Zeit vor neunzehn Uhr. Ich willigte ein, merkte mir die Straße in einem Stadtteil namens Pfaffengrund und träumte bereits von einem großen, hellen Zimmer mit Parkettboden. Nach diesem Erfolg wollte ich in die Stadt. Vor dem Bahnhofsgebäude bat mich ein Penner um Almosen. Seine Haut war fettig, seine Haare unfrisiert, mich ekelte und ich gab ihm ein paar Groschen, um ihn wieder loszuwerden. Daraufhin bedankte er sich überschwenglich, was mir noch unangenehmer war als sein Betteln. Ich roch seinen Säuferatem und ließ ihn stehen. Nur mit Mühe gelang es mir, dabei nicht zu rennen.

Ich löste eine Fahrkarte für die Straßenbahn, betrachtete beim Warten den Glas-Stahl-Bau der Heidelberger Druckmaschinen, vor dem ein überdimensionales, albernes, stählernes Pferd aufgestellt war. Der Bau kam mir zu klein vor. Er wirkte lächerlich und war nicht zu übersehen. Als die Bahn kam, stieg ich ein, ich war nervös, schaute bei jeder Haltestelle aus dem Fenster, kam endlich am Bismarckplatz an. Von dort ging ich durch die Hauptstraße, wollte zum Schloß, von dem ich schon Bilder gesehen hatte. In meiner Hosentasche waren noch knapp vierzig Mark. Da ich nicht wußte, wo der Stadtteil Pfaffengrund lag, kaufte ich einen Stadtplan, mit dem ich später zu meinem Zimmer finden wollte. Nach diesem Kauf ging ich weiter, ich kam zum Kornmarkt, sah das Schloß und wollte hinauf. Es bestand kein Zweifel, daß ich in ein paar Tagen einen Job haben würde, also machte ich mir keine Gedanken um Geld, bezahlte für eine Fahrt mit der Bergbahn, fuhr nach oben und stieg beim Schloß aus. Um das Geld tat es mir nicht leid, zu Fuß wäre mir zu anstrengend gewesen.

Das Schloß war langweilig. Mir gefielen nur die ahnungsvollen Überreste des riesigen, zerstörten Turms. Ich fühlte mich einsam, gerne hätte ich mich mit jemandem unterhalten. Aus irgendeinem Grund mußte ich an meine Mutter denken, die mir nie geholfen, mich immer nur herumkommandiert hatte, dachte, daß ich sie nicht mehr sehen wollte und daran, daß ich mich schämen würde, wenn ich noch einmal zurückkommen müßte. Ich starrte auf die Altstadt hinab, hoffte, daß mein Vater den Diebstahl nicht bemerken würde, fragte mich, wieso eigentlich, er würde mich ja sowieso nie finden. Dann mußte ich lange nichts mehr denken, und das war schön.

Irgendwann fragte ich mich, was ich tun würde, wenn mir das Zimmer nicht gefallen sollte. Dann würde ich es trotzdem nehmen, immerhin wäre ich dann hier, alles Weitere würde sich finden. Diese Entscheidung beruhigte mich. Aber was, fragte ich mich, wenn der Vermieter mich nicht wollte? Ich hatte die Zeitung bereits weggeworfen, ich brauchte unbedingt noch mehr Angebote, ich ärgerte mich über mich selbst. Ärgerte mich über meine Voreiligkeit, meine Naivität, also kaufte ich noch einmal die gleiche Zeitung. Ich mußte wieder zum Kornmarkt, zum Glück waren mir die Telefonzellen dort unten aufgefallen, ich wählte alle möglichen Nummern, sprach Unzusammenhängendes auf die Anrufbeantworter von Wohngemeinschaften, es war drei Uhr nachmittags. Zweimal gingen mir die Groschen aus, zweimal mußte ich Geld wechseln. Die Verkäuferin in einem Tabakwarenladen an der Heiliggeistkirche war so unfreundlich, daß ich mich nicht getraute, gar nichts zu kaufen. Also erstand ich noch eine Schachtel Zigaretten, ungefähr fünfundzwanzig Mark waren noch übrig geblieben. Es gelang mir schließlich, für fünf Uhr einen Termin in Handschuhsheim zu vereinbaren, eine Wohngemeinschaft, die Vormieterin war bereits ausgezogen. Ich sah auf den Stadtplan, Handschuhsheim kam mir weit entfernt vor, doch beschloß ich, zu Fuß zu gehen, um Geld zu sparen. Es war noch eine Stunde Zeit, und ich hoffte, daß das reichen würde.

Ich ging über die Alte Brücke, am Neckar entlang, durch Neuenheim nach Handschuhsheim, die Adresse war Biethsstraße. Als ich vor dem Haus stand, war ich verschwitzt, ich hatte noch eine Viertelstunde Zeit. Kurz fragte ich mich, ob ich warten sollte, dann klingelte ich, die Tür wurde mir geöffnet und ich ging die Treppe ganz nach oben.

Oben in der Tür lehnte eine Studentin, sie stellte sich mir als Julia vor, wollte wissen, was ich studieren wolle, ich wußte wenig zu sagen und nachdem ich das Zimmer gesehen hatte, bot sie mir einen Kaffee an. Wir saßen in ihrer kleinen Küche, in der es nach Äpfeln und Fett und Angebranntem roch, ich redete fast nichts, traute mich schier nicht sie anzusehen, sie war unglaublich schön, vielleicht drei Jahre älter als ich, und als ich ging sagte sie, sie werde es sich überlegen, sie würde mich anrufen, ich erwiderte, das ginge nicht, sie fragte nicht nach, riet mir nur, ich solle mich dann eben nächste Woche noch einmal melden, ich nickte nur und ging wie benommen die Treppen wieder hinunter.

Als ich das Haus verlassen hatte, war ich begeistert und traurig und verliebt, und ich wußte, daß ich sie nicht wiedersehen würde. Ich hätte ihr alles erzählen können, doch ich hätte sie viel lieber beeindruckt, es war zwanzig Minuten nach fünf, ich wußte nicht, wohin.

Die Zeitung hatte ich dieses Mal behalten, ich begann, eine Telefonzelle zu suchen, wollte noch einige Versuche unternehmen. An einer Tankstelle fragte ich nach einem Apparat, der Tankwart konnte mir nicht weiterhelfen, ich versuchte es in einer Bäckerei und einem Supermarkt, am Ende gar in einer Videothek. Als ich endlich fündig wurde, war es bereits kurz vor sechs Uhr. Gleich bei meinem ersten Anruf nahm jemand ab, eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung wollte einen Termin für Samstag mit mir ausmachen, ich mußte ablehnen, fragte noch zweimal, ob es denn nicht heute noch möglich sei, irgendwann ging mir das Geld aus. Ich hatte keine Groschen mehr. Der Tag war schön, und ich hatte keine Lust mehr zu telefonieren.

Weshalb ich mir trotz aller Bedenken so sicher war, das Zimmer im Pfaffengrund zu bekommen, weiß ich nicht. Vielleicht, weil die Sonne schien, vielleicht, weil ich glaubte, daß die Waage zwischen Erfolgen und Mißerfolgen sich am Ende immer ausgleichen würde. Mir blieb noch Zeit, doch wollte ich nicht zu spät kommen. Ich entschied mich, bis zum Bismarckplatz zu Fuß zu gehen, um den Tag noch ein bißchen genießen zu können. Auf der Heuss-Brücke blieb ich kurz stehen, blickte auf das Schloß, auf die Alte Brücke weiter neckaraufwärts und konnte mir plötzlich gar nicht mehr vorstellen, hier zu leben. Das Ganze wirkte falsch, ein wenig entrückt und alt, auf eine merkwürdige Art auch billig und gemein.

Am Bismarckplatz angekommen studierte ich eine Weile unauffällig die Fahrpläne; ich schämte mich dafür, mich so gar nicht auszukennen. Ich wollte unbedingt dazugehören, wie einer wirken, der hier lebte, schließlich drehte sich mir alles und ich bat eine alte Frau um Auskunft. Vielleicht hatte ich sie gewählt, weil ich mir sicher war, daß sie mir nichts tun würde. Ich verstand nur wenig von dem, was sie sagte. Ich verstand nur "Zwei" und "Straßenbahn". Aber das reichte auch. Ich ging zur Haltestelle der bezeichneten Linie und vergewisserte mich: Sie fuhr alle zehn Minuten, brauchte höchstens zwanzig bis zu meinem Ziel. Auf der anderen Straßenseite entdeckte ich einen Chinesen und beschloß, noch etwas zu essen, bevor ich mich auf den Weg machen würde.

Ich bestellte ein Gericht mit Putenfleisch, es schmeckte nach Rind, es war mir egal. Mein Magen war leer, es war ziemlich salzig, es tat mir gut. Als ich meinen Teller wegbrachte, fühlte ich mich ein wenig überfüllt, aber auch ein wenig zufrieden. Ich steckte mir im Hinausgehen eine Zigarette an, inhalierte tief, löste eine Fahrkarte, hatte noch knapp zehn Mark, und als meine Straßenbahn hielt, beschloß ich, noch die zehn Minuten auf die nächste zu warten. Diesen Entschluß bereute ich bald. Ich begann mich zu langweilen, befürchtete, ich könnte zu spät kommen. Auf dem Bismarckplatz gab es einen Kiosk, dort kaufte ich eine Musikzeitschrift, las die Überschriften der Artikel, betrachtete die Fotos von Musikern, die ich nicht kannte. Die nächste Zwei hielt, ich stieg ein, fand einen Platz und fuhr bis zur Haltestelle Stotz, ich erinnerte mich beim Lesen der Stationen auf der elektronischen Anzeige, daß das eines der Wörter gewesen war, das ich im Gespräch mit meinem Vermieter nicht verstanden hatte.

Nach dem Aussteigen warf ich einen Blick auf meinen Stadtplan, die Straße, die ich entlanggehen mußte, hieß Kranichweg, weit hinten verlief die Parallelstraße "Im Kolbengarten". Dort war das Zimmer, dort wartete mein Vermieter auf mich. Ich hatte noch zwanzig Minuten Zeit, meine Beine taten mir langsam weh vom vielen Gehen. Ich betrachtete die Häuser, blickte in die Querstraßen, es war wie ein Friedhof hier: es gab nur rechte Winkel, niedrige, schmucklose Bauten, deren Dächer kaum über die Grundfläche hinausreichten; es war niemand auf den Straßen, keine Fußgänger, keine Kinder, nicht einmal Fahrradfahrer. Ab und zu ein Auto, dann gar nichts, nur der ferne Lärm der Autobahn. Hier, dachte ich, ist alles tot.

Schließlich kam fand ich die Straße. Dort war alles noch schlimmer, die Häuser sahen alle gleich aus. Alle hatten sie vier Stockwerke, und ich war sicher, daß man die Gespräche aller Nachbarn durch die Wände hören würde. Ich hatte mit meinem Vermieter vereinbart, daß ich vor dem Haus warten würde, also hockte ich mich auf die Straße, rauchte Zigaretten, las in der langweiligen Zeitschrift und blickte bei jedem Auto auf, das sich näherte. Ich war pünktlich gewesen, nach einer Viertelstunde war er noch immer nicht da. Auch nach einer halben Stunde noch nicht. Ich fühlte, wie eine Verzweiflung aufstieg, die ich nicht mehr würde kontrollieren können, dachte darüber nach, was ich jetzt noch tun könnte. Endlich mußte ich einsehen, daß es keinen Sinn haben würde, noch länger zu warten. Ich hatte noch vier Mark und vierzig Pfennige in der Tasche. Langsam wurde es dunkel. Da mir nichts Besseres einfiel, ging ich die Viertelstunde zurück zur Straßenbahnhaltestelle, setzte mich in das Wartehäuschen und fühlte mich endgültig und vollkommen elend.

Ich dachte darüber nach, im Freien zu schlafen, morgen den Künstler zu suchen, dann erinnerte ich mich an meine Begegnung am Bahnhof. Ich mochte keine Ahnung haben, wohin ich sollte, doch ich wußte genau, wohin ich nicht wollte. Mir wurde klar, daß ich jetzt nur noch zurück konnte. Ich war den Tränen nahe: zurück, zurück. Ich sprach es langsam vor mich hin, zurück. Es half alles nichts. Also zum Bahnhof, drei Mark vierzig für eine Fahrkarte, ich stieg in die nächste Straßenbahn ein, an der Haltestelle Czerny-Brücke wieder aus, von wo aus man den Hauptbahnhof sehen konnte, ging den Rest der Strecke zu Fuß.

Von Freunden wußte ich, daß man nachts am besten schwarzfahren konnte, also ließ ich mir zwei Verbindungen geben, die erste schon viertel nach neun, die zweite kurz vor halb drei. Bei der ersten hätte ich nachts knapp sechs Stunden in Kassel warten müssen, ich entschied mich also für die andere, Heidelberg war mir lieber, ich brauchte noch Zeit, meine Niederlage zu begreifen.

Die Mark, die ich noch hatte, reichte für keine Wurst mehr, reichte auch nicht mehr für eine Dose Cola, schon gar nicht für eine Flasche Bier. Man konnte mit ihr keine Zeitung mehr kaufen, auch keine Zeitschrift mehr. Sie war unnütz und peinigend, blanker Hohn, Sinnbild meines Scheiterns. Ich ging in der Bahnhofshalle umher, verbrachte lange Zeit vor den Schaufenstern der Buchhandlung. Dann besah ich mir ohne jedes Interesse die Auslage des Tabakgeschäftes, es gab Pfeifen und Zigarren und jede Menge Feuerzeuge, ich rauchte, setzte mich, stand auf, irgendwann war mir alles zu öde.

Ich verließ den Bahnhof, ging einfach in irgendeine Richtung. Zuerst steuerte ich auf das stählerne Pferd zu, das ich noch immer, auch aus der Nähe, albern fand. Es war inzwischen dunkel geworden, die Glas-Stahl-Konstruktion dahinter hatte einen blau erleuchteten Rand oben bekommen, sie sah kalt und groß aus, und plötzlich faszinierend und perfekt. Ich ging weiter, kam irgendwann wieder zum Bismarckplatz. Es verwunderte mich; diese Stadt war nicht wirklich groß, und langsam, bemerkte ich verwundert, begann sie mir zu gefallen. Ich hatte den Bismarckplatz wiedergefunden, vielleicht konnte ich sagen, daß ich sie schon ein wenig kannte? Ich ging umher, folgte den Straßen, überquerte den Neckar, beobachtete die Leute, die in Cafés saßen, lauschte Gesprächen, die an Haltestellen geführt wurden, sah viele Gesichter, die Zeit floß unendlich langsam. Es war, als hätte ich mich in dieser Stadt aufgelöst, als wäre ich ein Teil von ihr.

Irgendwann dachte ich nichts mehr, sah auch nichts mehr, ahnte nur noch Schatten, alles wurde flüchtig, es kam mir wie Unfug vor und zu wissen, daß ich wieder weggehen mußte, tat mir weh.

Ich sah nur noch selten auf die Uhr, es war noch lange hin, mit der Zeit nahm ich fast nichts mehr bewußt wahr. So auch nicht, als irgendwann ein Fahrrad einige Meter vor mir hielt, kaum sah ich die Gestalt, die abgestiegen war und sich an einem Zigarettenautomaten zu schaffen machte. In eine dicke Jacke gehüllt, kramte sie in einer Geldbörse, ich hörte Münzen klimpern, es fiel mir schwer, die Informationen in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Dann verstand ich, und mir fiel die Mark in meiner Hosentasche ein. Ich zog sie heraus, legte sie, fast ohne hinzusehen, auf den Automaten, wollte weiter, hörte das "Danke" schon fast nicht mehr, auch kaum noch das Einwerfen der Münzen und die Ausgabe der Schachtel. Schon war ich wieder in Trance, versunken in meinen sinnlosen Gang durch eine Stadt, die ich nicht kannte, und die in mir doch ein merkwürdiges Gefühl von Vertrautheit weckte. Dann war das Fahrrad plötzlich neben mir, die Fahrerin sagte, sie kenne mich, ich sei doch der von heute nachmittag, der sich das Zimmer angesehen habe, ich erwachte. Ich blickte auf, es war Julia, ich erkannte die Videothek und den Supermarkt, wo ich nach einer Telefonzelle gefragt hatte, ich war in Handschuhsheim.

Sie sah mich an, ich blickte zu Boden. Ihre Frage, was ich hier jetzt noch tue, um diese Uhrzeit, nicht vorwurfsvoll, nicht besorgt, mein Schulterzucken, ihr darauffolgendes, eindringliches, langgezogenes, tiefes "Na?". Ich versuchte irgendetwas zu erzählen, sie fragte nach, ich konnte ihren Fragen nicht entkommen, schließlich wußte sie alles. Und dann geschah etwas Wunderbares: sie lächelte und bot mir an, einige Tage in dem leeren Zimmer zu bleiben, bis ich etwas Besseres gefunden hätte. Ich sah sie an, wußte nichts zu sagen, sie zog mich mit sich.

Es war mein erstes eigenes Zimmer. Obwohl ich nur wenige Tage blieb, bald hatte ich einen Job als Kellner, ein bezahlbares Zimmer in Rohrbach, habe ich mich vermutlich niemals irgendwo wieder so zu Hause gefühlt wie dort. In dieser kurzen Zeit war dieses Zimmer alles für mich, vielleicht, weil es das erste war, vielleicht, weil ich dahin zurückkehren durfte, vielleicht, weil es eine Tür hatte, die ich hinter mir schließen konnte.

Julia wollte kein Geld von mir, ich durfte mit ihr frühstücken, sie gab mir einige Tips, wo ich Arbeit finden konnte, erklärte mir die Kürzel in den Annoncen, und als ich auszog wünschte sie mir viel Glück.

Den Künstler habe ich eines Tages wiedergetroffen, wenn auch nicht in Heidelberg, er hatte es vorgezogen, seinen Wohnsitz nach Straßburg zu verlegen. Als ich ihn traf, wußte ich gar nicht mehr, was mich damals so sehr an ihm oder seiner Arbeit begeistert hatte. Und doch war ich mir sicher, daß es die beste Entscheidung meines Lebens gewesen ist, ihn suchen zu gehen, hatte diese Suche doch zu meinem ersten eigenen Zimmer geführt.

Mein erstes eigenes Zimmer hat mich nur diese eine letzte Mark gekostet.

 

he, die geschichte hat mir gut gefallen, und das ende finde ich auch sehr schön.

der einzige kritikpunkt ist mE, dass du ruhig etwas mehr versuchen könntest, die gefühle des protagonisten zu beschreiben. besonders meine ich die stelle, wo er plötzlich weiß, dass er gescheitert ist. irgendwie ging mir das zu schnel, hatte seine verzweiflung vorher nicht wirklich mitbekommen. vielleicht kommt das aber auch nur mir so vor.

schöne geschichte!

liebe grüße,
franzl

 

Hallo franzl!

Vielen Dank für Dein Lob.

Was Deine Kritik angeht (danke auch hierfür), der Text solle die Gefühlssituation des Protagonisten besser herausarbeiten, so war ich ehrlich gesagt ein wenig erstaunt; ich hatte selbst nicht den Eindruck, daß dieser Teil zu kurz kommt. Sicher, die Geschichte erzählt in einem recht nüchternen Tonfall, doch erlaubt sie doch immmer wieder Einblick in die mentale Entwicklung, von der Naivität zu Beginn, den hohen Erwartungen, über Zweifel und Unruhe, die durch einen trügerischen Optimismus überspielt werden, und wie sich schließlich (und plötzlich) dieser Optimismus zusammenbrechen sieht.

Vielleicht sollte ich noch einmal ganz kritisch über den Text gehen.

Claus.

 

Hallo cbrucher!

Sorry, daß ich mich erst jetzt melde, hatte viel zu tun in der letzten Zeit.

Aus dieser Geschichte könnte man durchaus mehr machen, so wie sie jetzt dasteht, wirkt das Ganze nicht richtig auf mich, hinterläßt keinen bleibenden Eindruck.
Was franzl sagte, kann ich nur bestätigen. Die Gefühle Deines Protagonisten kommen wirklich zu kurz. Du beschreibst die Umgebung, erzählst detailiert alles, was passiert, aber streifst kaum einmal, was er dabei empfindet.

Ich denke, daß Du hier etwas erzählst, was Du genau so erlebt hast und so kommt es auch rüber: Wie eine Nacherzählung.

Den Erzählstil finde ich ziemlich monoton, was wohl auch daran liegt, daß Du sehr viele zu lange Sätze mit vielen Kommas verwendest. Ich fände es besser, wenn Du einige der Kommas durch Punkte ersetzen würdest. Ließe sich wesentlich angenehmer lesen, man könnte beim Lesen verweilen und vielleicht auch etwas besser mitfühlen.

Nur eine Stelle als Beispiel, wo Du unbedingt Sätze teilen und auch Gefühle und Gedanken reinbringen solltest:

Ich fragte mich kurz, ob ich warten sollte, dann klingelte ich, die Tür wurde mir geöffnet und ich ging die Treppe ganz nach oben, dort stand ein sehr hübsches Mädchen in der Tür, sie stellte sich vor, sie hieß Julia, ich wußte wenig zu sagen, nachdem ich das Zimmer gesehen hatte, bot sie mir einen Kaffee an. Wir saßen in der kleinen Küche, in der es nach Äpfeln und Fett und Angebranntem roch, ich redete fast nichts, traute mich schier nicht sie anzusehen, sie war vielleicht drei Jahre älter als ich, als ich ging sagte sie, sie werde es sich überlegen, sie würde mich anrufen, ich sagte "Das geht nicht.", sie fragte nicht nach, sagte nur, ich solle mich dann eben nächste Woche noch einmal melden.
Anschließend erwähnst Du, daß er sich in Julia verliebt hat, doch in der Situation kann man davon rein gar nichts merken, keine Nervosität, keine schüchternen Blicke, keine Gefühle, Gedanken, nichts. Nur eine emotionslose, schnell runtergespulte Beschreibung der Situation in zwei viel zu langen Sätzen.

"Ich" am Satzanfang und am Anfang von Nebensätzen häuft sich auffällig. Hier würde ich einige Sätze umstellen.

Auch ein paar Kommafehler habe ich gefunden.

Wenn Du möchtest, schicke ich Dir gerne eine detaillierte Kritik, sag einfach kurz Bescheid.

Ich hoffe, meine Kritik zieht Dich nicht runter, sondern ermutigt Dich dazu, die Geschichte nochmal zu überarbeiten. Auch wenn die Handlung nicht aufregend oder sehr spannend ist, könnte dies eine schöne Geschichte werden, die meine Aufmerksamkeit auf sich zieht und es mir als Leser erlaubt, mich in die Situation hineinzuversetzen und sie zusammen mit Deinem Protagonisten zu erleben. Aber dafür müßtest Du wirklich noch etwas daran feilen.

Liebe Grüße

Sav

 

Hallo raven!

Danke für Deine Kritik, war ziemlich überrascht doch noch einmal eine Reaktion darauf vorzufinden.

Ich habe die Geschichte nun noch einmal durchgesehen, Deine Kritikpunkte im Hinterkopf. Und ich stimme mit Dir überein, wenn Du sagst:

Den Erzählstil finde ich ziemlich monoton
Genau das wollte ich. Nicht, weil ich eventuelle Leser langweilen will, sondern weil ich es der Geschichte und dem Erzählten für angemessen erachte. Und diese Monotonie rechtfertigt auch, daß die Gefühle des Erzählers nur sehr implizit zum Ausdruck kommen.

Das Beispiel, das Du gewählt hast, um Deine Anmerkung

daß Du sehr viele zu lange Sätze mit vielen Kommas verwendest
zu untermauern, gehört auch dazu: der Text hetzt an dieser Stelle, kaum ist die Situation, die der Erzähler kaum zu erfassen imstande ist, vor seinen Augen erstanden, ist sie auch schon vorbei. Er ist hilflos und sprachlos, zu langsam und zu ungeschickt.

Wenn das nicht deutlich werden sollte, mag das daran liegen, daß ich zu ungeschickt vorgegangen bin, oder daß unsere Auffassungen von Erzählen divergieren.

therefore: Ich werde die Sätze an gerade dieser Stelle auf gar keinen Fall teilen oder entwirren.

Anschließend erwähnst Du, daß er sich in Julia verliebt hat, doch in der Situation kann man davon rein gar nichts merken, keine Nervosität, keine schüchternen Blicke, keine Gefühle, Gedanken, nichts. Nur eine emotionslose, schnell runtergespulte Beschreibung der Situation in zwei viel zu langen Sätzen.
Soll ich darauf eingehen? Sehe ich nämlich völlig anders.

Anderer Punkt, Du schreibst:

"Ich" am Satzanfang und am Anfang von Nebensätzen häuft sich auffällig. Hier würde ich einige Sätze umstellen.
Ist richtig. "Ich" am Satzanfang ist tatsächlich häufig. Aber ist durchaus auch gewollt. Möglich, daß nicht das zum Ausdruck kommt, was ich damit anschaulich machen wollte: der Protagonist erzählt naiv, unreflektiert und direkt. Er schert sich nicht um die Form seiner Geschichte. Weshalb auch? Sie ist gewöhnlich, wozu daraus ein Kunstwerk machen?

Zu den Kommafehlern: Da habe ich tatsächlich eine nicht zu übersehende Schwäche. Wenn Du Dir die Arbeit machen willst, noch einmal über den Text zu gehen, dann wäre ich Dir wirklich sehr dankbar, würde Dir dann aber zuerst eine aktuellere Version davon zusenden.

Wenn Du möchtest, schicke ich Dir gerne eine detaillierte Kritik, sag einfach kurz Bescheid.
Ich vermute, daß Du bereits die wichtigsten Punkte angesprochen hast und denke, daß wir durchaus verschiedener Meinung bleiben können. Wenn Du allerdings Lust darauf hast, dann halte ich Dich bestimmt nicht davon ab und verspreche, mir diese Details aufgeschlossen durch den Kopf gehen zu lassen.

Ich denke, daß Du hier etwas erzählst, was Du genau so erlebt hast und so kommt es auch rüber: Wie eine Nacherzählung.
Da muß ich Dich leider enttäuschen, ist alles erstunken und erlogen. Weshalb ich das Wort "Nacherzählung" mal ganz selbstverliebt als Kompliment mißinterpretiere, wie realistisch das Erzählte dann doch wirkt.

Ich hoffe, meine Kritik zieht Dich nicht runter, sondern ermutigt Dich dazu, die Geschichte nochmal zu überarbeiten.
Runterziehen? Auf gar keinen Fall. Eine Kritik ist wesentlich hilfreicher als ein müdes: ja, ganz nett. Allerdings sehe ich auch nach Deinem Beitrag noch keinen Grund, an der Geschichte grundlegende Veränderungen vorzunehmen, (Arroganz) sie bestärkt mich im Gegenteil noch in meinem Glauben, den richtigen Ton und den richtigen Stil gefunden zu haben.(/Arroganz)

Claus.

[ 09.05.2002, 23:39: Beitrag editiert von: cbrucher ]

 

Hallo cbrucher,
nach dem Lesen Deiner Geschichte habe ich den Eindruck, Heidelberg ein bisschen zu kennen. Du beschreibst einige Plätze, Strassen, Sehenswürdigkeiten angenehm bildlich.
Aber Deinen Prot kenne ich kaum.
Schade eigentlich, denn interessant ist seine Geschichte allemal.
Einige Sätze waren mir auch ein wenig zu lang.
Wenn Du Deinem Wohnungssuchenden noch etwas mehr Beschreibung zukommen lässt ist die Geschichte wirklich gut gelungen. :D
Liebe Grüße, die Kürbiselfe Susie :)

 

Hallo cbrucher,

ich mal wieder :)
Deine Geschichte hat mir gefallen. Ich weiß zwar nicht, was du nach den Kommentaren seit der Ursprungsversion verändert hast, aber ich hab sie gerne gelesen. Du hast das Lebensgefühl des Studenten gut eingefangen. Nett, dass Heidelberg und einige konkrete Orte wieder eine Rolle spielen. Den Kritikpunkt der anderen muss ich allerdings teilen: dein Prot bleibt sehr blass. Ich habe auch erst sehr spät begriffen, was er in Heidelberg will, nämlich studieren. Und wieso ist er so verbittert was sein Zuhause angeht?

Noch ein paar Sachen, die mir beim Lesen aufgefallen sind:

Es bestand kein Zweifel, daß ich in ein paar Tagen einen Job haben würde, also machte ich mir keine Gedanken um Geld, bezahlte für eine Fahrt mit der Bergbahn, fuhr nach oben und stieg schon beim Schloß aus.
Ein Hinweis: wer Heidelberg nicht kennt, versteht das "schon" nicht. Denn er wollte ja zum Schloss, warum sollte er zum Königsstuhl weiter fahren? ;)
Das Ganze wirkte falsch, ein wenig entrückt und alt
Nicht, dass ich die Heidelberg-Mannheim Diskussion hier vertiefen will - aber das ist ein guter Satz :D
Weitere Details, die mich irritiert haben:
Was ist mit dem Künstler? Zu Beginn dachte ich, er wolle bei ihm wohnen bzw. fährt nur wegen ihm nach Heidelberg. Brauchst du ihn überhaupt für die Geschichte? Durch ihn hast du zumindest mich auf eine falsche Fährte gelockt.
Zweite Sache: er ist auf Wohnungssuche ohne Handy? Unwahrscheinlich, oder?
Der Entschluss, doch zurückzukehren kommt auch für mich sehr plötzlich und ist nach dem vorherigen Bruch mit Zuhause kaum nachvollziehbar.
Was ich noch unrealistisch fand: Wenn man kaum Geld hat, kauft man sich eine Musik-Zeitschrift? Man gibt die letzte Mark einem Unbekannten für Zigaretten? Und warum konnte er denn bloß in diesem Zimmer bei Julia nicht bleiben? Aber wahrscheinlich bin ich mal wieder zu neugierig und zu kritisch ;)

Wie gesagt: ich fand sie gut.
Liebe Grüße
Juschi

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Claus!

Das ist eine wirklich nette Geschichte für zwischendurch. Sie geht locker dahin, obwohl sie für den Protagonisten eigentlich ja schwer wiegt, in seiner Not, oder vielmehr seinem Willen, ein Zimmer zu finden und zu studieren, sowie dem angedeuteten Hintergrund. Die anfängliche Sorglosigkeit (z.B. die Bergbahnfahrt) läßt ihn fast ein bisschen zu kindlich erscheinen und so, als hätte er eigentlich gar keine Probleme, aber gerade das paßt gut in die Geschichte, es macht den Protagonisten in meinen Augen irgendwie sympathisch, und da er ja offenbar zum ersten Mal auf eigenen Beinen steht, darf er auch ruhig ein bisschen unbeholfen wirken.

Ich stimme zwar Raven zu, daß man bei der von ihr zitierten Stelle das Verlieben nicht bemerkt, allerdings: Wenn Du an dieser Stelle ausführlicher wirst, solltest Du allgemein ausführlicher werden, sonst wirkt die Stelle dann so wie »als übliche Zutat ein bisschen Liebe beigemixt«, wenn Du weißt, was ich meine. Ich will damit nicht sagen, daß es schlecht wäre, überall noch mehr ins Detail zu gehen, nur, daß Du es, wenn überhaupt, nicht ausschließlich an dieser Stelle machen solltest.
Mir persönlich war es wie gesagt nicht zu wenig. Die Andeutungen, vonwegen hundert Mark gestohlen und nicht mehr zurückwollen, aber auch die Aussage, daß den Ort, wo er herkommt, nie jemand kennt, lassen mich einen Hintergrund erahnen. Vielleicht hätte er von seinem Vater aus gar nicht studieren dürfen und ist deshalb »geflüchtet«? Es wirkt auf mich nicht so, als wäre er nur wegen dem Bildhauer von zuhause weg, sondern nur die Wahl des Ziels aufgrund dessen erfolgt. Ich denke, da kann man sich schon was ausmalen.
Bemerkenswert fand ich die Gedanken, die er sich macht, als er überlegt, ob er im Freien übernachten soll: Daß er keinesfalls in diese Richtung will, nicht so werden will, wie die Typen am Bahnhof. Das gibt ihm offenbar Antrieb.
Eventuell würd ich ein paar Kleinigkeiten einflicken, er könnte zwischendurch einmal an sein Bett zuhause denken oder so. Ein bisschen Wehmut. Denn gerade, wenn man nicht im Guten von zuhause weggeht, tut es weh… Dein Protagonist verdrängt zwar die Gedanken an zuhause, indem er sich Heidelberg ansieht, aber es sollte ihm nicht so ganz gelingen, find ich; ein, zwei oder drei Sätze dazu könnten nicht schaden, während er wartet, daß der Vermieter kommt zum Beispiel. Da ich aber nicht weiß, wie extrem Du die Situation im Hintergrund gedacht hast, die ihn den Ort seines Studiums so unkonvetionell einnehmen läßt (so richtig geht das nicht hervor, ich hab es mir halt aufgrund der erwähnten Stellen ausgemalt und das hat mich nicht gestört), kann ich Dir wohl keine richtigen Tips geben (außerdem schreib ich ja selber so Geschichten, wo man sich die Gefühle teilweise aus dem eigenen Vorratsschrank holen muß, ist also vielleicht doch auch eine Frage des persönlichen Stils…). Vorstellen könnte ich mir, daß der Vater ihm nicht zugetraut hat, alleine in der großen Stadt bestehen zu können – dann könnte der Protagonist sich ja zum Beispiel irgendwann denken, daß er es seinem Vater schon zeigen wird, was er alles kann. Aber das ist nur eine von ~vielen Möglichkeiten.

Am Anfang könntest Du vielleicht ein bisschen weniger umständlich erklären, wie viel Geld er gerade hat. Es kam für mich an der Stelle nicht klar rüber, ob die zweiundsechzig Mark vierzig mit oder ohne den gestohlenen hundert Mark waren.

Was gut rüberkam, ist auf jeden Fall die zu wachsen beginnende Liebe zu Heidelberg. Und ich vermute, daß das Deine eigentliche Intention für die Geschichte war – was aber nicht wirklich wichtig ist, nur so ein Gedanke. ;-)

Die Verkäuferin in einem Tabakwarenladen an der Heiliggeistkirche war so unfreundlich, daß ich mich nicht getraute, gar nichts zu kaufen.

:lol: Ist das der reale Anteil an der Geschichte? :D

Sonst hab ich nur mehr ein paar kleine Anmerkungen: ;-)

»Als ich die Mark hergegeben hatte, hatte ich nichts mehr, auch keine Fahrkarte zurück nach Borgeln, das nie jemand kennt, das zwischen Soest und Hamm liegt, es ist ein Ortsteil von Welver.«
– zweimal »hatte« könntest Du vermeiden, indem Du für das zweite »besaß« einsetzt
– die beiden »das« find ich auch nicht sehr schön, Vorschlag: …das nie jemand kennt, es liegt zwischen Soest und Hamm, ist ein Ortsteil von Welver.

»Ich war am Morgen mit dem ersten Zug von Soest aufgebrochen, ich hatte die Nacht bei Freunden verbracht, nach Hause wollte ich nicht mehr, nicht mehr zur Schule, wollte ganz weit weg.«
– das zweite »ich« würd ich ersatzlos streichen
– statt dem zweiten »nicht« könntest Du eventuell »nie mehr zur Schule« schreiben

»der einmal eine Ausstellung in Borgeln gemacht hatte, Holzbildhauerei. Damals war ich völlig begeistert von Holzbildhauerei.«
– eventuell könntest Du statt dem zweiten »Holzbildhauerei« »begeistert von dieser Kunstrichtung« schreiben

»Es kam mir nicht in den Sinn, daß es schwierig werden könnte, in einer Stadt wie Heidelberg ein Zimmer zu finden.«
– da Du das ja darstellst, könntest Du Dir den Satz eigentlich sparen, verrät vielleicht ein bisschen zuviel im voraus

»Bei meinem vierten Anruf nahm endlich jemand ab, der Vermieter, den ich nur mit Mühe verstand, hatte aber keine Zeit vor neunzehn Uhr. Ich willigte ein, …«
– würde nach »ab« einen Punkt machen
– statt »keine Zeit vor neunzehn Uhr« würd ich schreiben »erst nach neunzehn Uhr Zeit«

»Das Geld tat mir nicht leid, zu Fuß wäre mir zu anstrengend gewesen.«
– das Geld tut mir auch selten leid :D – mehr ist mir um das Geld leid. ;-)
– würde sich nicht ein »es« gut machen, zwischen »mir« und »zu«?

»Also erstand ich noch eine Schachtel Zigaretten, es waren noch ungefähr fünfundzwanzig Mark übrig geblieben. Es …«
– würde schreiben »danach waren noch … übgrig. Es …«, dann wiederholt sich das »es« nicht und Du sparst Dir das »geblieben«

»Ich verstand nur "2" und "Straßenbahn".«
– zwei (*g*, »zweiundsechzig Mark vierzig« schreibst Du brav aus, und hier fängst Du mit Zahlen an…:lol: )

»Ich bestellte ein Gericht mit Putenfleisch, es schmeckte nach Rind, es war mir egal. Mein Magen war leer, es war ziemlich salzig, und es tat mir gut.«
– viermal »es« :susp:

»Schließlich kam ich an, ich fand die Straße, dort war alles noch schlimmer, die Häuser sahen alle gleich aus. Alle hatten sie vier Stockwerke,«
– würde nach »Straße« einen Punkt machen
– das zweite »alle« könntest Du vermeiden durch »Jedes hatte vier Stockwerke«

»Ich fühlte, wie eine Verzweiflung aufstieg,«
– sicher nur eine? Oder nicht doch eher zwei oder drei Verzweiflungen? ;-) Fände schöner: Ich fühlte Verzweiflung in mir aufsteigen, …

»Endlich mußte ich einsehen, daß es keinen Sinn machen würde, noch länger zu warten.«
– würde das »Endlich« weglassen: Ich mußte einsehen, …
– es heißt im Deutschen nicht »Sinn machen« sondern »Sinn haben« oder »sinnvoll/sinnlos sein« ;-) Mein Vorschlag für diesen Satz wäre somit: Ich mußte einsehen, daß es sinnlos wäre, noch länger zu warten.

»Mir wurde klar, daß ich jetzt nur noch zurückkonnte.«
– auseinander: zurück konnte

»Ich war den Tränen nahe, zurück, zurück.«
– würde das nicht als einen Satz schreiben, sondern nach »nahe« einen Punkt machen, und vielleicht sogar auch hinter das erste »zurück«, das wirkt dann wie eine Bremse beim Lesen ;-)

»Ich ging umher, folgte den Straßen, überquerte den Neckar, beobachtete die Leute, die in Cafés saßen, lauschte Gesprächen, die an Haltestellen geführt wurden, sah viele Gesichter, die Zeit floß unendlich langsam.«
– würde nach »Gesichter« einen Punkt machen, sonst liest man diesen Satz so schnell, und dann geht die Langsamkeit ganz unter. Ein Punkt nach »Gesichter« bremst, und alleinstehend macht sich doch »Die Zeit floß unendlich langsam« viel besser, findest Du nicht?

»So auch nicht, als irgendwann ein Fahrrad einige Meter vor mir hielt, kaum sah ich die Gestalt, die abgestiegen war und sich an einem Zigarettenautomaten zu schaffen machte.«
– nach »hielt« würd ich einen Punkt machen, das ist ein kompletter Satz, aber bei dem Teil danach fehlt irgendwie was, oder sollte es heißen »Ich sah die Gestalt kaum, …«? :confused:

»In eine dicke Jacke gehüllt, kramte die sie in einer Geldbörse,«
– das »die« ist zuviel

»habe ich mich vermutlich niemals irgendwo wieder so zu Hause gefühlt wie dort.«
– die Formulierung spießt sich irgendwie, wie wärs mit »habe ich mich vermutlich nie wieder irgendwo so zu Hause gefühlt, wie dort.«
Wenn Du von der Zukunft sprechen würdest, könnte der Satz in meinen Augen noch aussagekräftiger werden: »werde ich mich vermutlich niemals wieder irgendwo so zuhause fühlen, wie dort.« Du könntest aber auch betonen, daß er sich zuvor noch nie so zuhause gefühlt hat…

So, das wars auch schon. Hoffe, es hat nichts weh getan…

Alles Liebe,
Susi :)

PS.:

Ein Hinweis: wer Heidelberg nicht kennt, versteht das "schon" nicht. Denn er wollte ja zum Schloss, warum sollte er zum Königsstuhl weiter fahren?
Ich kenne Heidelberg nicht und habe mir bei der zitierten Stelle gedacht, daß die Bahn wohl weiterfuhr, er aber schon beim Schloß ausstieg - wobei es ja auch egal ist, ob die Bahn weiterfährt, Du das "schon" also überhaupt weglassen könntest: stieg beim Schloß aus :)

 

@MM:

Vielen Dank für Deine ausführlichen "Zitate mit Klemmern". Es ist erfreulich, daß Du die Geschichte "dabei anfänglich recht gut" fandest, dann mußtest Du Dich beim Lesen nicht ganz so sehr quälen.

Was Deine Kritikpunkte angeht, werde ich auf einige einmal eingehen:

  • "Ich roch seinen Säuferatem und rannte beinahe (nahezu) davon." - Die Formulierung ist ungelenk, und das soll sie auch sein. Insofern könnte ich das 'beinahe' aber natürlich auch durch 'nahezu' ersetzen.
  • "überdimensionales, albernes, (Komma raus) stählernes Pferd aufgestellt war." - Das hängt davon ab, ob 'stählernes Pferd' eine Einheit bildet. Meine Interpunktion geht davon nicht aus. Es ist ein überdimensionales und albernes und stählernes Pferd. Soll heißen: das Komma präzisiert eine Aussage.
  • "Er wirkte lächerlich und war nicht zu übersehen. (Wirkt eventuell etwas widersprüchlich - es sei denn, dass er so lächerlich aussah, dass er trotz seiner Größe nicht zu übersehen war? Dann wurde ich tatsächlich ein "trotzdem" o.ä. einsetzen.)" - Daß die beiden Satzteile in einem merkwürdigen Widerspruch stehen, hast Du sehr gut erkannt.
  • "In meiner Hose(ntasche) waren noch knapp vierzig Mark." - Klingt besser, wird geändert.
  • " ich kam zum Kornmarkt, sah das Schloß und wollte hinauf (hinein - oder wolltest Du auf den Kornmarkt?)." - Die meisten Menschen kennen das Heidelberger Schloß, so daß ich hier keinen Anlaß sehe, den Text zu ändern.
  • "(Um) Das Geld tat (es) mir nicht leid" - vgl. Kommentar von Häferl
  • "daß ich sie nicht mehr sehen wollte, (Komma raus) und daran" - Wird korrigiert.
  • "wieso eigentlich, (Fragezeichen) (Bindestrich) er würde mich ja sowieso nie finden" - durch ein Fragezeichen würde ich anzeigen, daß die Stimme beim Sprechen/ Lesen nach oben gehen soll, was hier nicht beabsichtigt ist.
  • "daß ich mich nicht ((ge))traute, gar nichts zu kaufen. Also erstand ("erstand" oder "erwarb" klingen zu gekünstelt. Ein trockenes "kaufte" wäre angebrachter.)" - Die Wortwiederholung will ich an dieser Stelle nicht.
  • "Es gelang mir schließlich, für fünf Uhr einen Termin in (im - oder gibt es diesen Ort wirklich?) Handschuhsheim zu vereinbaren" - Ja. Wie sich im folgenden Satz auch Ortsfremden erklärt.
  • "An einer Tankstelle fragte ich nach einem Apparat, der Tankwart konnte mir nicht weiterhelfen, ich versuchte es in einer Bäckerei und einem Supermarkt, ((schließlich)) (sogar) in einer Videothek. (Wenn Du "schließlich" schreibst, muss die Folge das "fündigwerden" sein, nicht ein weiterer Versuch. Vielleicht schreibst Du besser: "...wo ich dann auch fündig wurde."?).
  • "um Geld zu sparen (Hier hat in der Zwischenzeit eine Veränderung stattgefunden, die Du mit irgendeinem Satz hättest andeuten sollen: Erst ist er zu faul, um zu Fuß zu gehen, dann bemerkt er das schwindende Geld)" - Der Text ist ebenso inkonsequent wie sein Protagonist.
  • "Es war noch eine Stunde Zeit (Komma) und ich hoffte" - Wird korrigiert.
  • "(Was Dir in diesem "Satz" an Anführungsstrichen fehlt, konntest Du nicht durch "Länge" wieder gutmachen. Dieser Satz ist keine Kunst, sondern ein Unterlassen von Punkten.) - Der Satz darf keine Punkte haben. Auch wenn er dann keine Kunst ist.
  • "(einen "Münzsprecher"? Warum auf einmal diese Wortwahl...?)" - Taucht bereits zuvor schon auf, mußt Du überlesen haben.
  • "An einer Tankstelle fragte ich nach einem Apparat, der Tankwart konnte mir nicht weiterhelfen, ich versuchte es in einer Bäckerei und einem Supermarkt, ((schließlich)) (sogar) in einer Videothek. (Wenn Du "schließlich" schreibst, muss die Folge das "fündigwerden" sein, nicht ein weiterer Versuch. Vielleicht schreibst Du besser: "...wo ich dann auch fündig wurde."?)." - Die Logik erschließlicht sich mir nicht. Steht am Ende jeder Suche ein Finden?
  • "Weshalb (Warum) ich mir trotz aller Bedenken so sicher (gewesen) war" - 'Warum' ist stilistisch sicherlich ein erheblich besseres Wort. Und zu der Zeitform: die Vorvergangenheit hätte eine falsche Bedeutung.
  • "Vielleicht hatte ich sie gewählt (die Frau?)" - Ja.
  • "und vergewisserte mich: sie (Sie) fuhr alle zehn Minuten" - Wird korrigiert.
  • "gab es ein (einen) Kiosk" - Wird korrigiert.
  • "(Wieder ein "Punktverlust")" - Nettes Wortspiel.
  • "Um Dir meine Gefühle beim Lesen Deiner Geschichte zu schildern, möchte ich ein treffendes Zitat aus ih nutzen: Irgendwann dachte ich nichts mehr, sah auch nichts mehr, ahnte nur noch Schatten, alles wurde flüchtig, es kam mir wie Unfug vor und zu wissen, daß ich wieder weggehen mußte(durfte), tat mir weh (gut)." - Ich glaube, das vermittelt mir dann doch ziemlich gut, wie Du Dich gefühlt hast. Schade, daß Du das Zitat noch ändern mußtest, um die korrekte Bedeutung einzufangen. Einem Text mit seinen eigenen Worten antworten, ihn also mit seinen eigenen Waffen zu schlagen (in a manner of speaking), ist eine bewundernswerte Kunst. Respekt. Man hätte es kaum treffender formulieren können: das schwere Joch, unter das Deine Freiheit fiel, das Dir auferlegte, diesen Text zu lesen, ist nun endlich wieder von Dir genommen. Ich freue mich mit Dir.

 

@Marius Manis:

  • "Ich roch seinen Säuferatem und rannte beinahe davon." - Ich muß Dir wohl recht geben. Schade. Die ungelenke Formulierung gefiel mir, gerade in ihrer Mehrdeutigkeit. Ich hoffe, Du kannst Dich mit der neuen Version "Ich roch seinen Säuferatem und ließ ihn stehen. Mit Mühe gelang es mir, dabei nicht zu rennen." (Habe sogar einen Punkt gewonnen.)
  • "Heidelberger Schloß" - Also für die Japaner kann ich bürgen...
  • "Inkonsequenz von Autor oder Protagonist" - Mein Ideal ist Figurensicht; im Prinzip will ich mich in die Inkonsequenzen und Fehler meiner Figuren gar nicht einmischen. Und in diesem Fall ist es ein markantes Merkmal des Protagonisten, das der Leser ruhig entdecken darf. Was offensichtlich ja auch gelingt.
  • "Schließlich" - Am Ende seiner Versuche steht die Videothek, sie bildet den Abschluß. Aber ich verstehe, was Du meinst, und werde es in 'am Ende gar' ändern.

 

Hallo cbrucher,

ich gebe zu, ich hatte anfangs Schwierigkeiten mit dem Stil, er ist schon etwas gewöhnungsbedürftig. Aber nach einer gewissen "Einlesezeit" fiel er mir nicht mehr auf, die Geschichte liess sich dann angenehm flüssig lesen. Zum Ende hin fand ich das monotone als Stilmittel richtig gelungen, es differenziert die Geschichte und in gewisser Hinsicht auch den Prot. Dadurch erst gewinnt die Geschichte an Charakter :)

Gestolpert bin ich über den Chinesen - ich sah da zuerst vor mir, wie er einen chinesischen Menschen, der an der Strasse steht, nach Essen fragt. Es wurde mir dann zwar schnell klar, aber den Ausdruck "chinesisches Restaurant" oder so finde ich besser.

LG

Anea

 

@Anea:
Vielen Dank fürs Lesen und Deinen Kommentar. Deine Bemerkung zum Stil hat mich gefreut, nur kurz zum "Chinesen". Ich empfinde das tatsächlich als eine gültige Formulierung, sehr gebräuchlich. Aber das mag regional differieren.

 
Zuletzt bearbeitet:

Sie ist mir geläufig... ich bin trotzdem drüber gestolpert. Regionale Differenzen... in unserer Ecke kaum vorstellbar, im Norden vielleicht anders... :confused: keine Ahnung

ich hatte wirklich zuerst einen Chinesen vor Augen - dieses Klischee mit langem Bart und gelbem Hut...

 

Vielen Dank für die kritischen Anmerkungen.

@Anea (etwas verspätet):

Ohne die Chinesen-Diskussion vertiefen zu wollen: man geht doch auch zum Italiener, oder?

@poesiefräse:

Schwierig, darauf etwas zu antworten. Abgerissenheit würde ich in diesem Fall schon als Leitmotiv betrachten. Vielleicht sollte ich den Schluß noch einmal überarbeiten. Mal drüber schlafen.

Könntest Du (z.B. in einer pn) Deine Spannungsbogen-Argumentation noch ausführen? Mir ist gerade nicht so recht klar, was Du damit meinst.

Der Penner/ Bettler verhält sich nicht passiv. Zumindest nicht der in meiner Geschichte. Vielleicht haben wir da einfach unterschiedliche Lebenserfahrungen.

 

Und wenn ich schreibe: "Ich sah einen Italiener.", denke ich trotzdem zuerst an einen Menschen mit italienischem Pass.
Bei "Ich gehe zum Chinesen" allerdings an ein Restaurant.

 

Hallo Cbrucher,
endlich komme ich dazu, eine Geschichte von dir zu kritisieren, ich habe in letzter Zeit fast keine Geschichten mehr hier gelesen. Nun, den Plot fand ich klasse, für seine allerletzte Mark kriegt er am Schluss doch noch sein Zimmer! Aber es war mir ehrlich gesagt viel zu langatmig erzählt, z. B. die genaue Aufzählung, wieviel er wofür ausgegeben hat. Dass der Stil so wirkt wie ein naiver, gelangweilter Jugendlicher denkt und redet, ist wahrscheinlich Absicht, aber es reißt mich nicht vom Hocker. Tut mir Leid, aber das ist wohl in erster Linie Geschmackssache.
liebe Grüße
tamara

 

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