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Meine Strecke
Ich war nie der große Sportfreak gewesen. Wahrscheinlich werde ich es auch nie sein; das Einzige, was ich jemals und heute immer noch für meine Figur tue, ist die Runde joggen am Morgen gleich nach dem Aufstehen.
In aller Herrgottesfrühe, wenn alle noch schlafen und in ihren Träumen die wildesten Phantasien ausleben.
Das ist immer die allerschönste Zeit. Beim Laufen kann man beobachten, wie die Sonne langsam am Horizont aufgeht.
Abgesehen von der unüberhörbaren Ruhe, schätze ich das am meisten.
Auch an diesem Morgen zog ich meine Joggingshorts und ein weites T-Shirt an und verließ das Haus.
Ich war 18 Jahre alt und seit zwei Jahren lief ich nun schon jeden Morgen, soweit ich nicht andersweitig verhindert war, und jedes Mal dieselbe Strecke.
Zwei Meilen hatte ich gerade hinter mich gebracht, als mein Schnürsenkel aufging. Hockend und den Kopf gesenkt, sah ich nicht was sich vor, hinter, rechts oder links von mir abspielte. Erst als ich ein dumpfes, plumpes Geräusch hörte, blickte ich auf und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass sich jemand direkt vor mir in den Sand hatte fallen lassen.
Ich beachtete den jungen Mann, der ungefähr in meinem Alter sein musste, nicht weiter und konzentrierte mich wieder auf meinen Schnürsenkel, in den ich mir auf unerklärliche Weise einen Doppelknoten rein gelaufen hatte.
„Er ist wunderschön, nicht wahr?“
Abermals hob ich den Kopf und blickte unverwandt in die dunkelgrünen Augen des Fremden. Er musste meinen Gesichtsausdruck richtig interpretiert haben.
„Den Sonnenaufgang meine ich“, sagte er und grinste.
Ich wandte den Kopf und nickte.
„Ja, er ist mal wieder überwältigend.“
„Bist du öfter um diese Uhrzeit hier?“
„Warum?“
„Weil es sich gerade so anhörte, als hättest du den Sonnenaufgang schon öfter beobachten dürfen.“
„Stimmt, seit zwei Jahren laufe ich regelmäßig hier lang.“
Der Fremde stieß einen leisen Pfiff aus.
„Darf ich dich vielleicht ein Stück begleiten?“
Die Frage kam unerwartet und mein Herz machte einen Sprung. Ich wusste, dass mir dieser Kerl vollkommen fremd war, aber ich empfand Sympathie für ihn, was ich mir nicht erklären konnte, da ich gegenüber Leuten, die ich nicht kannte, eher misstrauisch war.
„Ja, natürlich.“
Und so lief ich mit einer mir unbekannten Person den Rest der Strecke und noch viel weiter.
Wir unterhielten uns, aber über nichts persönliches, wie Namen, Geburtstage oder –orte, Hobbys, Eltern, Geschwister oder Vorlieben. Auch Probleme wurden kein einziges Mal angesprochen.
Unsere Themen waren Gott, die Welt und deren Philosophie vom Leben.
Doch auch solch ein Tag musste irgendwann zu Ende gehen. Es hatte sehr gut getan, mit ihm zu reden, es war ungezwungen und befreiend gewesen.
„Tja, der Tag neigt sich dem Ende zu.“
Er drehte sich um und lief los. Ich wollte auf Wiedersehen sagen, doch ich kannte seinen Namen ja gar nicht.
„Machs gut, Fremder.“
Er blieb nicht stehen und drehte sich nicht um, er hob nur eine Hand und winkte. Ich schaute ihm noch nach bis er fast nicht mehr zu sehen war, dann wandte auch ich mich um und lief nach Hause.
Am nächsten Morgen machte ich mich zur selben Zeit auf zum Joggen wie am Tag zuvor und hoffte in einem kleinen Teil meines Herzens, dass der Fremde auch wieder herumlaufen würde.
Nachdem ich mehrere Stunden am Strand verbracht hatte und alle Orte abgelaufen war, an denen wir am gestrigen Tag auch waren, gab ich auf.
Vielleicht am nächsten Tag…
Doch auch am darauf folgenden Morgen war der Unbekannte nirgends zu sehen.
Genauso die nächsten Tage und Wochen.
Ich sah ihn nie wieder…
Und während ich suchte und suchte, vergaß ich über die Zeit völlig, was ich finden wollte…