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Melanie
Melanie (überarbeitet)
„Noch heute werde ich sterben.“, flüsterte sie in kaum vernehmbarem Ton und lächelte, während ihre weit geöffneten, tiefdunklen Augen glänzten und die Unendlichkeit ihrer Seele widerzuspiegeln schienen.
Ihr Name war Melanie. Manche ihrer Freunde sagten auch einfach Melly zu ihr. Obwohl ihr das nicht so gut gefiel.
Sie wusste bereits vorher, dass sie sterben würde. Sie wusste es! Und sie sollte Recht behalten. Ich hatte schon früher geahnt, dass das passieren könnte. Sie sehnte sich nach ihrem Tod und führte ihn deshalb schließlich selbst herbei. Aber ich weiß es nicht wirklich.
Ich weiß auch nicht, weshalb sie mir damals noch gerade diese Worte mitteilte. Vielleicht, weil sie mir noch Zeit geben wollte, mich auf ihr Fortgehen innerlich vorzubereiten. Sie lag damals so friedlich neben mir, in unserem tags zuvor noch frisch bezogenen, großen Bett und schlief ganz ruhig. Das dachte ich zumindest. Ich war noch ganz verschlafen, konnte kaum ein Auge öffnen. Es war früher Morgen, die Sonne lugte gerade so hinter der gegenüberliegenden Häuserwand hervor und schien hell durch einige Zeilen einer goldgefärbten Jalousie vor dem Fenster. Man konnte einige Vögel draußen fröhlich zwitschern hören. Aber meine Freundin lag im Sterben.
Sie sollte Recht behalten: Ihr Inneres griff schon seit Monaten wild um sich, wollte befreit werden. Und so kam es dann auch. Aber trotz ihres zunehmend apathisch werdenden Körpers konnte sie, wie sie zuvor immer wieder betont hatte, dennoch einer friedfertigen und erlösenden Zeit entgegenblicken: Wenn sie erstmal die Grenze des Sterbens überwände, würde sie bereits im nächsten Augenblick wieder vollständig gesund werden. In einer alternativen, jenseitigen Daseinsform.
Ihre Eltern meinten einmal zu mir, Melanie sei schon als kleines Kind leicht beeinflussbar und überaus sensibel gewesen. Von Zeit zu Zeit schien es so, dass sie allein durch ihren Willen die unterschiedlichsten Krankheiten hervorrufen konnte. Jedenfalls behauptete sie, dass sie das könne. Manchmal. Oft war es ihr dann aber wieder egal, was all die anderen um sie herum, Mama und Papa, ihr Bruder und ihre beiden, ebenso um einige Jahre älteren Schwestern über sie dachten. Wichtig war ihr wohl immer nur, sich ungestört ihren phantastischen Ideen widmen zu können — ohne jeden Morgen in die für sie langweilige Schule gehen zu müssen.
Sie perfektionierte ihre ungewöhnliche Gabe mit zunehmenden Alter: Schließlich behauptete sie mir gegenüber, dass sie selbst ihren Tod von einem Moment zum anderen allein kraft ihres Willens selbst herbeiführen könne. Ich glaubte ihr nicht.
Ihr plötzlicher Tod, herbeigeführt durch ein schlichtes Herzversagen, ohne objektiv diagnostizierbare Ursache, ohne begleitende schwere Krankheit, liegt nun schon einige Monate zurück. Ich habe diesen Vorfall nie überwunden. Und auch nie wirklich verstanden. Wie konnte sie mich nur so zurücklassen? Ich fiel in schwere Depressionen.
Melanie sprach zuletzt wie in einem Wahn, die Grenze des Todes ohne Weiteres unbeschadet überschreiten und wenig später allein durch ihren Willen wieder zurückkehren zu können. Sie glaubte fest daran, dass sie das könne. Es war für sie nur eine Frage des gewissenhaften und festen Entschlusses. Aber irgendetwas Unvorhergesehenes schien vorgefallen zu sein. Oder sie wollte einfach nicht mehr zurück, nachdem sie diese jenseitige Welt erstmal berührt hatte. Ich weiß es nicht. Aber ihr sanfter, embryogleich zusammengezogener Körper neben mir blieb damals nach ihrem Tod leblos und erwachte nicht mehr. Ich bemerkte es noch nicht einmal. Ich glaubte, sie schliefe noch. Bis mir auffiel, dass sie nicht mehr atmete.
Ich erschrak mit einem Male so sehr, dass ich umherfuhr, meine Melanie packte und nach Leibeskräften schüttelte und anschrie, sie solle wieder aufwachen. Ich hatte solche Angst. Dann ohrfeigte ich sie. Einmal. Zweimal. Ein weiteres Mal. Ihre dunklen, langen Haare verdeckten nach jedem Schlag ihr erstarrtes Gesicht auf eine stets neue Weise. Ich stand auf, zog sie mit nach oben. Unsere gemeinsame Bettdecke fiel von uns. Ich fasste sie kräftig an ihren Armen, aber ich wusste nicht mehr, was ich hätte tun können. Völlig nackt standen wir uns gegenüber. Erst jetzt bemerkte ich in meiner Panik, dass ihr Körper bereits kalt und ihre Haut blass wie die einer Leiche geworden war. Meine Muskeln entkrampften sich langsam. Es war vorbei. Behutsam ließ ich sie wieder auf das Bett hinab und deckte sie liebevoll zu. Ich weinte jämmerlich.
Gegen Mittag des gleichen Tages rief ich die Polizei und berichtete ihr alles so sachlich ich dazu in der Lage war. Ich sagte ihnen nichts von ihrem geplanten Selbstmord oder einem etwaigen Versuch, wieder in das Leben zurückzukehren. Was hätte das auch für einen Unterschied gemacht?
Die folgende Zeit fiel es mir schwer, einzuschlafen. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich ihre Ankündigung nicht ernster genommen hatte. Aber was hätte ich tun können? Ich bat sie immer wieder, von dieser gefährlichen, fixen Idee abzukommen. Den Tod nicht herauszufordern. Aber sie war wie besessen davon.
Ich war in der nächsten Zeit die Tage über ständig übermüdet. Die Erinnerung war mir vor allem kurz vor dem Einschlafen so gegenwärtig, dass ich dachte, Melanie würde wieder neben mir liegen und mir sagen, dass sie gleich sterben werde. In solchen Momenten des Halbschlafes schreckte ich regelmäßig auf und sah hastig um mich. Aber sie war nicht da.
Plötzlich tat sich unmittelbar vor mir ein tiefschwarzer Abgrund auf. Er nahm die Form eines schneller und schneller um sich schlagenden Wirbels an und begann, alles um sich herum zu verschlingen. Bestand mein Traum gerade zuvor noch aus beinahe alltäglichen Kulissen wie jenem Elternhaus, in welchem ich aufwuchs und das in mir unwillkürlich Erinnerungen an meine jüngste Kindheit aufblühen ließ, verschwand jetzt alles in diesem erschreckenden, alles vernichtenden Abgrund.
Meine Mutter kam in diesem Traum gerade durch die Tür, die zum Wohnzimmer führte und wollte mich in ihre Arm nehmen, da ich zu schreien anfing. Aber ein Arm des kreisenden, dunklen Wirbels vor mir griff um sich und griff auch nach ihr. Noch ehe sie mich, am Boden liegend, erreichte, löschte dieser Wirbel beständig Teile ihres Körpers einfach aus: zunächst ihre Füße, denn er näherte sich von unten, dann ihre Beine, während sie noch auf mich zu ging; schließlich vereinahmte er in seiner schier alles verschlingenden Gewalt auch den Rest ihres Körpers, und noch während sie mich zu erreichen versuchte und ich immer lauter schrie, bildete ich mir ein, in ihrem Gesicht eine schreckliche und gespenstische Angst ablesen zu können.
„Melanie!“, schrie ich in meiner kleinkindhaften, hohen Stimme. „Siehst du denn nicht, dass ich schrecklich Angst habe?“ Doch sie verstand nicht, denn sie hatte nie Angst vor dem Tod.
Plötzlich konnte ich nichts mehr hören. Der Wirbel verschlang selbst alles Hörbare.
„Aber was ist mit mir?“, versuchte ich zu schreien, aber der gähnende, allem gleichgültig gegenüberstehende, tiefschwarze Tod verschlang auch meine Worte.
„Aber ich schlafe doch bereits!“
Meine schreckliche Angst vor dem abgrundtiefen Tod übermannte mich jetzt. Ich konnte nicht anders: Ich beschloss in einem plötzlich ausbrechenden Affekt davonzulaufen. So schnell und so weit mich meine kurzen Beine tragen konnten. Hastig warf ich all meine Spielzeugautos von mir, stand auf und versuchte zu fliehen. In eine Richtung, welche dem Ursprung des Abgrunds möglichst genau entgegengesetzt zu sein schien. Doch ich stolperte bereits nach wenigen unbeholfenen Schritten. Denn ich versuchte, mit der Motorik eines Erwachsenen Kinderbeine zu bewegen.
Daraufhin begann ich schnell auf allen Vieren zu krabbeln.
„Ich habe Angst!“, rief ich ihr mit heller Stimme zurück.
Der Wirbel näherte sich mir immer weiter und mir wurde bewusst, dass ich für ihn zu langsam war. Und mit einem Male kam mir der Gedanke: Mein Gott, wohin sollte ich denn überhaupt fliehen? Wohin nur? Das Vergessen und der Tod dieses schwarzen Abgrunds würde mich am Ende ja doch einholen. Ich hatte keine Chance.
Dann aber fiel mir plötzlich ein: Ich musste wieder aufwachen. Raus aus diesem Albtraum. So schnell wie möglich.
Und ich erwachte. Ich war wieder ein erwachsener Mann, meine Beine hatten wieder ihre gewohnte Länge und Stärke. Jetzt hätte ich schneller laufen können. Aber jetzt war es nicht mehr nötig. Ich war entkommen.
Seitdem bereite ich mich auf meinen eigenen Tod vor. Ich werde nicht ewig flüchten können oder wollen. Wenn ich sie in einem weiteren Traum wiedersehe, werde ich mich fügen um wieder mit meiner Melanie zusammen sein zu können.
Dies ist mein Abschied von Euch allen, die mir nahe stehen. Ich hoffe, ihr könnt jetzt verstehen, weshalb ich eines Morgens nicht mehr aufwachen werde. Lasst es Euch gut gehen. Wir werden uns irgendwann im Jenseits wiedersehen.
In Liebe,
Euer Dominik