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Meline
Ein knackendes Geräusch ließ Meline, die hinter einem Busch kauerte, aufschrecken. Langsam erhob sie sich und zupfte dabei Erdekrümel und
vertrocknete Blätter von ihren Knien.
Hinter ihr stand Elano, ein alter Mann, der von allen für verrückt gehalten wurde.
Meline erinnerte sich noch genau an die mahnende Stimme ihrer Mutter, sie solle diesem Menschen auf keinen Fall zu nahe kommen, Gott bewahre, was er sonst tun würde.
Seltsamerweise empfand Meline keine Angst.
Vielleicht war es die Tatsache, dass er nicht besonders kräftig aussah oder dass sein mit einem grau- weißen Bart überwuchertes Gesicht eher gutmütig als angsteinflößend wirkte, vielleicht auch, weil sie sich in der Dunkelheit noch nie gefürchtete hatte.
Sie lächelte leicht, als sie sich an den Unglauben ihrer Geschwister erinnerte, die schon beim Schrei einer Eule am liebsten davongelaufen wären.
Das war etwas, was ihr niemand nachmachen konnte, niemand sonst traute sich bei Dunkelheit alleine in den Wald.
Doch das war nicht der Grund, warum sie sich nun, wenige Stunden vor der Morgendämmerung, am Rande einer Lichtung befand, barfuß und nur mit einer fleckigen Jacke über ihrem dünnen Nachthemd.
Elanos krächzende Stimme weckte sie aus ihren Gedanken und sie richtete seinen Blick wieder auf ihn, betrachtete ihn, wie er vor ihr stand in seiner schmutzigen Bekleidung und mit mehreren stark riechenden Kräutern in der Hand, die ihren würzigen Duft in die Luft verströmten.
„Was tust du hier, Kind?“, fragte er und machte dabei eine wedelnde Handbewegung.
„Ist gefährlich, nachts im Wald.“
Meline straffte unwillkürlich ihre Schultern und versuchte gleichzeitig, selbstsicher zu wirken. Dennoch klang ihre Antwort seltsam belegt und das Flattern ihrer Augen war nicht zu übersehen, selbst nicht für Elano, oder vielleicht auch besonders nicht für Elano.
„Ich… Ich warte auf die Elfen.“
Elano fixierte sie einen Moment lang aus blauen Augen unter dichten Brauen und brach dann in schallendes Gelächter aus.
„Du… du willst zu den Elfen!“, stieß er glucksend hervor und lachte noch mehr. Vergnügt klatschte er sich auf die Oberschenkel und schien dabei nicht zu bemerken, dass er die Kräuter in seiner Hand fallen gelassen hatte, so sehr amüsierte ihn ihre Antwort.
„Sie will zu den Elfen!“
Meline stand da und spürte, wie ihr langsam die Röte ins Gesicht stieg.
Sie wurde von einem Verrückten ausgelacht!
Eine größere Demütigung konnte sie sich nicht vorstellen.
Als sie sich umdrehte, um das Weite zu suchen, hörte er abrupt mit dem Lachen auf und packte sie am Arm.
„Warte, warte, Mädchen, geh nicht gleich weg!“, sagte er und strich sich über den Bart. „Musst aufpassen, im Wald.“
Meline riss sich heftig los.
„Lassen Sie mich los, oder ich schreie!“, zischte sie und die Wut trieb ihr die Tränen in die Augen.
„Ich muss zu den Elfen!“
„Ja, ja, hab schon verstanden.“, murmelte Elano bedächtig, ließ sie aber immer noch nicht los.
„Nur… Hier wirst du sie nicht finden.“
„Was-“ begann Meline und starrte ihn an.
„Kommen nie hierher. Den Platz mögen sie nicht.“, fuhr er fort.
„Hier bist du umsonst, Mädchen.“
„Aber… aber ich muss doch… ich…“ stammelte sie, brach aber schließlich ganz ab.
Einerseits war da die Enttäuschung, dass sie die ganze Zeit umsonst gewartet hatte, andererseits die Ungläubigkeit, dass Elano, der verrückte Elano, solche Dinge wissen sollte.
Seltsamerweise, und das wurde ihr jetzt bewusst, hatte sie keine Sekunde an seinen Worten gezweifelt.
„Komm mit. Zeig es dir, bring dich hin. Komm mit, Mädchen.“
Meline blieb einige Sekunden lang unschlüssig stehen.
Doch als Elano sich einfach in Bewegung setzte und mit zielsicheren Schritten durch den Wald wanderte, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und folgte ihm.
Etwa zwei Stunden später sah Meline sich mit großen Augen um.
Sie stand am Rande einer Waldlichtung, die nicht besonders groß war, doch gleichzeitig von einer besonderen Aura umgeben war, das spürte sie ganz deutlich.
„Siehst du“, sagte Elano und zeigte darauf. „Waldlichtung, Bach und Eiche, so muss es sein. Hier bist du richtig.“
Langsam ließ sie sich auf den Boden fallen und konnte dennoch ihre Augen nicht von dem lösen, was dort zu sehen war.
Ein kleiner Bach floss sprudelnd durch die Wiese und in seiner Mitte, dort, wo er einen kleinen Knick machte, stand majestätisch und groß eine alte Eiche.
Meline wandte sich Elano zu, der nun ebenfalls, genau neben ihr, im Gras kauerte.
„Wann kommen sie?“, wisperte sie kaum hörbar, um diese Idylle nicht zu zerstören.
„Sind schon da, sind schon da. Musst sie nur rufen.“
„Rufen?“
„Musst sie nur rufen.“
„Aber ich kann sie nicht rufen!“, erwiderte Meline lauter als beabsichtigt und ihr war, als würde kurz ein entrüstetes Murmeln in der Luft zu hören zu sein.
„Aber ich kann sie nicht rufen“, wiederholte sie mit gedämpfter Stimme und zog ihr Nachhemd ein Stück weiter über ihre Beine.
Nach über drei Stunden hier draußen begann sie nun, ihre klammen Finger zu spüren, und ihre Fußsohlen waren von der langen Wanderung durch den Wald aufgerissen und zerkratzt.
Sie flocht ihre Finger ineinander und versuchte, sich innerlich zu sammeln. Konzentrier dich! sagte sie sich selbst und schloss kurz die Augen.
Ich habe doch nur einen Wunsch… Einen Wunsch…
<Was ist dein Begehr?>
Meline schreckte auf.
Sie wusste nicht, woher die helle Stimme, die wie ein sanftes Glockenspiel klang, gekommen war, doch als sie ihren Blick nach vorne wandte, sah sie dort, umgeben von silbernem Licht, eine Gestalt.
Sie schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, hinunter und ballte mit der rechten Hand kurz eine Faust, bevor sie sich wieder entspannte.
„Ich… Ich habe einen Wunsch“, antwortete sie zittrig und zwang sich, den Blick aufrecht zu halten.
<Sprich ihn aus.>
„Ich bitte euch, meinen Bruder Disonés gesund zu machen.“
Die Gestalt hielt einen Moment lang inne.
<Komm her!> befahl sie dann und Meline stand mit wackeligen Beinen auf und trat auf sie zu.
Die Gestalt war eine Frau, wie sie nun erkannte, mit weißen Locken und großen, transparenten Flügeln.
Sie lächelte.
Diese Schönheit…
Sie hatte noch nie eine Elfe gesehen, doch ihre Erwartungen wurden in keinem Fall enttäuscht.
Sie wurden viel mehr noch übertroffen… Meline schluckte abermals.
Die Elfe legte ihr kurz eine weiche Hand auf die Stirn und sah Meline dabei in die Augen.
<Dein Bruder ist schwerkrank?>
„Er schläft. Er schläft seit mehr als drei Monaten und wacht nicht mehr auf.“
Meline spürte eine Träne, die über ihre Wange lief und verwünschte sich für ihre Schwäche.
<Dein Wunsch ist ehrbar und deine Seele rein.> sagte die Frau schließlich und strich kurz über Melines Wange, ein Gefühl, als würde ein Schmetterling sie mit seinen Flügeln berühren.
<Doch du weißt, dass wir Wünsche nie ohne Gegenleistung erfüllen?>
„Das weiß ich“ erwiderte Meline mit fester Stimme und hob den Kopf.
„Und ich bin bereit, diese zu erfüllen. Was muss ich tun?“
<Nun… Das, was du tun musst, ist nicht leicht, deshalb überlege gut.>
Die Frau breitete ihre Flügel aus.
<Bleib bei uns, und dein Wunsch wird dir erfüllt.>
Meline erstarrte.
„Aber… Aber ich kann nicht gehen… Ich habe mich nicht einmal verabschiedet…“
Die Elfe sah sie aus klaren Augen an.
<Das ist es, was du tun musst.>
Meline überlegte.
Sie dachte an ihr Zuhause und an ihre Geschwister, daran, wie hart sie arbeiten musste und wie wenig sie als Mädchen für die Eltern galt.
Sie dachte an ihren kleinen Bruder, der mit weißem Gesicht in seinem Bett lag und ruhig und gleichmäßig atmete…
Ihren Bruder, den sie mehr liebte als alle anderen und dessen Gesicht nun von keinem Lächeln mehr erhellt wurde…
Und sie dachte daran, wie sehr sie die Nacht liebte und die Natur, wie gerne sie fliegen würde…
„Ich bin einverstanden.“
Die Elfe nickte leicht.
<So soll es sein.>
Die Sonne erschien am Horizont und berührte mit sanften Strahlen tastend das Land, das noch kühl und feucht von der Nacht dalag..
Elano ging pfeifend durch die Gassen des Dörfchens. Er hatte eine neue Geschichte zu erzählen... Eine Geschichte von einem Mädchen, das zu einer Elfe wurde. Doch niemand hörte ihm zu...
In dem kleinen Haus am Marktplatz schlug Disonés die Augen auf.