Mitglied
- Beitritt
- 04.04.2008
- Beiträge
- 442
Meltem
Meltem
Fabian rollte mit klammen Fingern das Transparent zusammen, während der Regen unaufhörlich von seiner Kapuze auf die Pappe tropfte und sie aufweichte.
Eigentlich Quatsch, dachte Fabian, die Sache ist gelaufen, wozu also die Pappen rollen?
Er sah sich um, streckte den schmerzenden Rücken und wäre beinahe mit dem Kopf vor die Bierflasche geknallt, die Sven ihm hinhielt. Durch den feinen Regenschleier lachte Sven ihm zu.
„Und, was sagst du? Hat doch prima geklappt, oder? Wie schnell sie verschwunden sind, diese mickrigen Phrasendrescher!“
Fabian ging nicht darauf ein.
„Hör mal, ich stecke die Pappe gleich hier in den Abfalleimer, ist ja alles schon eine einzige Matsche.“
Er ließ das Transparent auf den Boden fallen und griff nach der Flasche.
Der Bahnhofsvorplatz hatte sich geleert. Fabian und Sven waren die letzten der Initiative ‚Schüler gegen Rechts’, die sich an diesem kalten Märzmorgen vor dem Bahnhof versammelt hatten, um eine Demonstration deutschtümelnder Jugendlicher im Keim zu ersticken. Über vierzig Oberstufenschüler hatten Fabian uns Sven mobilisiert, darunter Mehmet, Cem und Yavuz, alle drei Mitglieder des örtlichen Boxsportvereins und mit Fabian seit der Kindergartenzeit befreundet.
Sogar Meltem war mitgekommen, Mehmets jüngere Schwester.
Die kleine Meltem.
Fabian trank einen Schluck Bier und sah sich um. Vor dem Bratwurststand schwammen Zettel in einer Riesenpfütze.
‚Keine Moscheen in Deutschland’ las Fabian und sah, wie ein eiliger Passant den Schriftzug unter seinen Stiefeln zermalmte.
„Na, Fabian, bist du zufrieden?“ Sein Herz tat einen Sprung und noch bevor er den Kopf wandte, wehte ein herbsüßer Duft heran und legte sich auf seine Haut.
Meltem stand lächelnd neben ihm, so nah, und neigte den riesigen Regenschirm über sie beide. Sein Mund war trocken und er schwitzte trotz der Kälte. Fabian umklammerte mit beiden Händen die Bierflasche. In seinem Kopf war plötzlich eine wattige Leere. Fabian wollte seine Gedanken zusammenhalten, was war denn jetzt bloß los mit ihm? Er versuchte, sich noch einmal auf die Demo zu konzentrieren, Meltem sollte nicht merken, wie aufgewühlt er war.
Sollen sie in Zukunft ihren kleingeistigen Mist doch ohne ihn verkleckern, diese dämlichen Rechten! Er und seine Freunde hatten schließlich kein Problem mit der Integration, hatten es auch nie gehabt. Als Mehmet mit sechs Jahren zu boxen begann, war Fabian mit klopfendem Herzen mitgegangen, hatte am Ring gestanden und gewusst, dass er sich niemals trauen würde, diese Handschuhe anzuziehen. Doch er fieberte mit Mehmet und später auch mit Cem und Yavuz, und wenn seine Freunde schmerzhafte Treffer wegstecken mussten, litt er mit ihnen. Fabians Domäne war der Schwimmverein, hier holte er Erfolge und ließ sich von Mehmet anfeuern.
„He, was ist los? Träumst Du?“ Meltem zupfte an seinem Ärmel. „Ich habe gefragt, ob Du zufrieden bist.“
„Doch, ja, ja.., sicher. Eigentlich habe ich mit viel mehr Krawallmachern gerechnet, aber es waren ja gar nicht viele.“ Er sog den Duft ein, in seinem Kopf drehte sich ein Karussell. Meltem lachte unbefangen.
„Das klingt fast nach Enttäuschung! Hättest Du gerne eine Schlägerei gehabt, mit meinem Bruder in vorderster Front?“ Sie schüttelte ihre dunklen Locken, Fabian schnappte inmitten der aufblühenden Süße nach Luft.
„Nein, natürlich nicht.“ Er schaffte es nicht, sie direkt anzusehen, „Ich dachte nur, es würden viel mehr von diesen Verwirrten kommen, weißt du, es war ja eigentlich gar keine richtige Demo.“ Er nestelte an seiner Kapuze herum, Meltem trat näher an ihn heran, neigte den Schirm noch mehr zu ihm hinunter und ihre Arme berührten sich. Stromstöße jagten durch Fabians Körper, er wäre für alle Ewigkeiten so stehen geblieben.
„Kommst du mit ins ‚Merhaba’? Die Jungs sind schon dort, wir essen alle ein Döner zur Feier des Tages.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an, ihre Augen strahlten.
Im letzten Sommer, auf Mehmets siebzehntem Geburtstag, war sie wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht, schön und duftend und lächelnd und stets mit dem großen Bruder an ihrer Seite. Sie war mit einem Glas Fruchtsaft zu ihm gekommen und hatte ihn gefragt, ob er sich noch an sie erinnern könne. Fabian konnte lediglich mit den Schultern zucken und den Kopf schütteln. Er fing Mehmets Blick auf, ein prüfender Blick. Und plötzlich war etwas zwischen ihnen anders geworden. Fabian fühlte sich von seinem Freund getrennt, Mehmets Gegenwart löste Unbehagen aus.
Wo sie gesteckt habe, hatte Fabian Meltem gefragt, es sollte wie ein Scherz klingen, doch seine Zunge klebte am Gaumen. Sie habe daheim viel geholfen und sei auf die Realschule gegangen, war ihre Antwort gewesen, und nun mache sie eine Ausbildung im Reisebüro ihres Onkels. Fabian konnte damals nur nicken, doch in seinem Kopf bohrte die Frage, wieso er sie Jahre lang nicht gesehen hatte. Fast täglich hatten sich Fabian, Sven, Mehmet und Cem getroffen, sie hatten Fußball gespielt, waren zum Boxtraining gegangen, ins Kino, ins Schwimmbad und hatten stundenlang Computerspiele gemacht, an die kleine Meltem hatte er nie mehr gedacht. Lag es daran, dass sie nicht mehr zu Mehmet nach Hause gingen, seit Fabian mit seinen Eltern in das neue Haus eingezogen war und er nun ein riesiges Zimmer hatte? Mehmet brachte zwar immer noch häufig Baklava von seiner Mutter mit und richtete Grüße aus, doch sie trafen sich alle bei Fabian.
Und dann stand sie ihm plötzlich gegenüber und hob seine Welt aus den Angeln. Fabian sah ein spöttisches Grinsen in Mehmets Gesicht. Ob er sich noch an seine kleine Schwester erinnern könne, hatte Mehmet gefragt und dabei den Arm um Meltem gelegt. Irgendwie besitzergreifend, fand Fabian und spürte ein Ziehen in seiner Brust. Und wieder zuckte er sprachlos mit den Schultern und hoffte, dass seine Füße wahrhaftig auf dem Boden blieben.
Doch Mehmet hatte längst begriffen.
In den folgenden Tagen lief Fabian kopflos umher. Er konnte sich nicht auf die Schule konzentrieren, vergaß mitten im Unterricht wo er war und gab sich Tagträumen hin, in denen es nur Meltem und ihn gab. Doch er sah sie nicht wieder, bis heute nicht.
„He, Fabian, was ist jetzt? Gehen wir, bevor der Regen uns endgültig aufweicht?“ Meltem legte ihre Hand auf seinen Unterarm und zog ihn am Ärmel.
Er würde einen Brandfleck auf der Haut haben, ganz sicher. Fabian nickte und goss das restliche Bier in den Rinnstein.
„Soll ich den Schirm halten?“ Er schaute in ihr Gesicht. Meltem stimmte zu und reichte den Schirm rüber. Sie hakte sich bei ihm unter und bemerkte nicht, dass Fabian kurz schwankte. Alle werden uns für ein Paar halten, dachte er und schluckte.
„Schreibst du was für eure Schülerzeitung über diese Demo?“ Ihre Hand ist so klein und ihre Nägel glänzen rosa. Fabian hüstelte.
„Wahrscheinlich schon, aber sicher nichts Besonderes. So, wie es halt war: kurz und schmerzlos.“ Meltem blieb stehen und sah ihn an. Fabians Hände wurden feucht.
„Ich finde es toll, dass du mit Sven diese Demo organisiert hast, auch wenn es jetzt nicht das Riesending geworden ist, weißt du?“ Ihre ernsthaften Augen erschienen ihm noch dunkler.
„Es ist wichtig, Fabian, enorm wichtig für uns alle.“ Verlegen brach sie ab und Fabian entging nicht, dass ihre Stimme zitterte. Er konnte dem Impuls, sie einfach in die Arme zu schließen, kaum widerstehen. Ihr Duft hüllte beide ein und Fabian wünschte sich, er würde sie unsichtbar machen. Sie schwiegen verlegen und der Zauber, den sie spürten, verflog im Bruchteil einer Sekunde. Eine Windbö fuhr unter den Schirm und knickte ihn um. Erleichtert lachte Fabian auf und richtete den Schirm, Meltem hielt seinen Arm fest.
„Eine richtige Brise, genau wie mein Name,“ sagte sie, doch sie lächelte nicht mehr.
Fabian begriff nicht gleich.
„Brise? Wieso Brise?“ Die Verlegenheit machte der Neugier Platz. Meltem schob die Hände in ihre Jackentaschen.
„Na ja, Meltem bedeutet ‚kleine Brise’, so etwas wie ein frischer Windhauch.“
Fabian nickte betäubt, sein Herz zog sich zusammen.
„Ach ja? Das wusste ich nicht.“ Tränen stiegen in seine Kehle und er schluckte verzweifelt.
„Es passt zu dir. Ein wunderschöner Name.“ Meltem senkte den Kopf, sie gingen schweigend nebeneinander her. Hinter der nächsten Ecke sahen sie das ‚Merhaba’. Noch hundert Schritte vielleicht, dachte Fabian und stoppte unvermittelt. Meltem zog ihre Hand zurück und steckte sie in die Anoraktasche.
„Geh ein paar Schritte vor,“ sagte sie leise, ohne ihn anzusehen.
Fabian nickte, reichte ihr den Schirm und strich einmal hastig über ihr Haar. Dann ging er weiter, während Meltem so tat, als habe sie Probleme mit dem Schirm.
Es war Versprechen und Abschied zugleich.
Mehmet lehnte im Türrahmen des ‚Merhaba’ und sah ihnen aufmerksam entgegen.
„Da bist du ja endlich,“ begrüßte er Fabian lächelnd und versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter. „Prima gelaufen, die Demo, findest du nicht?“, sagte Mehmet und trat zur Seite.
„Ja, wirklich prima“ murmelte Fabian und ging an seinem Freund vorbei in das Lokal.