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Meltem

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04.04.2008
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Meltem

Meltem


Fabian rollte mit klammen Fingern das Transparent zusammen, während der Regen unaufhörlich von seiner Kapuze auf die Pappe tropfte und sie aufweichte.
Eigentlich Quatsch, dachte Fabian, die Sache ist gelaufen, wozu also die Pappen rollen?
Er sah sich um, streckte den schmerzenden Rücken und wäre beinahe mit dem Kopf vor die Bierflasche geknallt, die Sven ihm hinhielt. Durch den feinen Regenschleier lachte Sven ihm zu.
„Und, was sagst du? Hat doch prima geklappt, oder? Wie schnell sie verschwunden sind, diese mickrigen Phrasendrescher!“
Fabian ging nicht darauf ein.
„Hör mal, ich stecke die Pappe gleich hier in den Abfalleimer, ist ja alles schon eine einzige Matsche.“
Er ließ das Transparent auf den Boden fallen und griff nach der Flasche.
Der Bahnhofsvorplatz hatte sich geleert. Fabian und Sven waren die letzten der Initiative ‚Schüler gegen Rechts’, die sich an diesem kalten Märzmorgen vor dem Bahnhof versammelt hatten, um eine Demonstration deutschtümelnder Jugendlicher im Keim zu ersticken. Über vierzig Oberstufenschüler hatten Fabian uns Sven mobilisiert, darunter Mehmet, Cem und Yavuz, alle drei Mitglieder des örtlichen Boxsportvereins und mit Fabian seit der Kindergartenzeit befreundet.
Sogar Meltem war mitgekommen, Mehmets jüngere Schwester.
Die kleine Meltem.
Fabian trank einen Schluck Bier und sah sich um. Vor dem Bratwurststand schwammen Zettel in einer Riesenpfütze.
‚Keine Moscheen in Deutschland’ las Fabian und sah, wie ein eiliger Passant den Schriftzug unter seinen Stiefeln zermalmte.
„Na, Fabian, bist du zufrieden?“ Sein Herz tat einen Sprung und noch bevor er den Kopf wandte, wehte ein herbsüßer Duft heran und legte sich auf seine Haut.
Meltem stand lächelnd neben ihm, so nah, und neigte den riesigen Regenschirm über sie beide. Sein Mund war trocken und er schwitzte trotz der Kälte. Fabian umklammerte mit beiden Händen die Bierflasche. In seinem Kopf war plötzlich eine wattige Leere. Fabian wollte seine Gedanken zusammenhalten, was war denn jetzt bloß los mit ihm? Er versuchte, sich noch einmal auf die Demo zu konzentrieren, Meltem sollte nicht merken, wie aufgewühlt er war.
Sollen sie in Zukunft ihren kleingeistigen Mist doch ohne ihn verkleckern, diese dämlichen Rechten! Er und seine Freunde hatten schließlich kein Problem mit der Integration, hatten es auch nie gehabt. Als Mehmet mit sechs Jahren zu boxen begann, war Fabian mit klopfendem Herzen mitgegangen, hatte am Ring gestanden und gewusst, dass er sich niemals trauen würde, diese Handschuhe anzuziehen. Doch er fieberte mit Mehmet und später auch mit Cem und Yavuz, und wenn seine Freunde schmerzhafte Treffer wegstecken mussten, litt er mit ihnen. Fabians Domäne war der Schwimmverein, hier holte er Erfolge und ließ sich von Mehmet anfeuern.
„He, was ist los? Träumst Du?“ Meltem zupfte an seinem Ärmel. „Ich habe gefragt, ob Du zufrieden bist.“
„Doch, ja, ja.., sicher. Eigentlich habe ich mit viel mehr Krawallmachern gerechnet, aber es waren ja gar nicht viele.“ Er sog den Duft ein, in seinem Kopf drehte sich ein Karussell. Meltem lachte unbefangen.
„Das klingt fast nach Enttäuschung! Hättest Du gerne eine Schlägerei gehabt, mit meinem Bruder in vorderster Front?“ Sie schüttelte ihre dunklen Locken, Fabian schnappte inmitten der aufblühenden Süße nach Luft.
„Nein, natürlich nicht.“ Er schaffte es nicht, sie direkt anzusehen, „Ich dachte nur, es würden viel mehr von diesen Verwirrten kommen, weißt du, es war ja eigentlich gar keine richtige Demo.“ Er nestelte an seiner Kapuze herum, Meltem trat näher an ihn heran, neigte den Schirm noch mehr zu ihm hinunter und ihre Arme berührten sich. Stromstöße jagten durch Fabians Körper, er wäre für alle Ewigkeiten so stehen geblieben.
„Kommst du mit ins ‚Merhaba’? Die Jungs sind schon dort, wir essen alle ein Döner zur Feier des Tages.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an, ihre Augen strahlten.

Im letzten Sommer, auf Mehmets siebzehntem Geburtstag, war sie wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht, schön und duftend und lächelnd und stets mit dem großen Bruder an ihrer Seite. Sie war mit einem Glas Fruchtsaft zu ihm gekommen und hatte ihn gefragt, ob er sich noch an sie erinnern könne. Fabian konnte lediglich mit den Schultern zucken und den Kopf schütteln. Er fing Mehmets Blick auf, ein prüfender Blick. Und plötzlich war etwas zwischen ihnen anders geworden. Fabian fühlte sich von seinem Freund getrennt, Mehmets Gegenwart löste Unbehagen aus.
Wo sie gesteckt habe, hatte Fabian Meltem gefragt, es sollte wie ein Scherz klingen, doch seine Zunge klebte am Gaumen. Sie habe daheim viel geholfen und sei auf die Realschule gegangen, war ihre Antwort gewesen, und nun mache sie eine Ausbildung im Reisebüro ihres Onkels. Fabian konnte damals nur nicken, doch in seinem Kopf bohrte die Frage, wieso er sie Jahre lang nicht gesehen hatte. Fast täglich hatten sich Fabian, Sven, Mehmet und Cem getroffen, sie hatten Fußball gespielt, waren zum Boxtraining gegangen, ins Kino, ins Schwimmbad und hatten stundenlang Computerspiele gemacht, an die kleine Meltem hatte er nie mehr gedacht. Lag es daran, dass sie nicht mehr zu Mehmet nach Hause gingen, seit Fabian mit seinen Eltern in das neue Haus eingezogen war und er nun ein riesiges Zimmer hatte? Mehmet brachte zwar immer noch häufig Baklava von seiner Mutter mit und richtete Grüße aus, doch sie trafen sich alle bei Fabian.
Und dann stand sie ihm plötzlich gegenüber und hob seine Welt aus den Angeln. Fabian sah ein spöttisches Grinsen in Mehmets Gesicht. Ob er sich noch an seine kleine Schwester erinnern könne, hatte Mehmet gefragt und dabei den Arm um Meltem gelegt. Irgendwie besitzergreifend, fand Fabian und spürte ein Ziehen in seiner Brust. Und wieder zuckte er sprachlos mit den Schultern und hoffte, dass seine Füße wahrhaftig auf dem Boden blieben.
Doch Mehmet hatte längst begriffen.
In den folgenden Tagen lief Fabian kopflos umher. Er konnte sich nicht auf die Schule konzentrieren, vergaß mitten im Unterricht wo er war und gab sich Tagträumen hin, in denen es nur Meltem und ihn gab. Doch er sah sie nicht wieder, bis heute nicht.

„He, Fabian, was ist jetzt? Gehen wir, bevor der Regen uns endgültig aufweicht?“ Meltem legte ihre Hand auf seinen Unterarm und zog ihn am Ärmel.
Er würde einen Brandfleck auf der Haut haben, ganz sicher. Fabian nickte und goss das restliche Bier in den Rinnstein.
„Soll ich den Schirm halten?“ Er schaute in ihr Gesicht. Meltem stimmte zu und reichte den Schirm rüber. Sie hakte sich bei ihm unter und bemerkte nicht, dass Fabian kurz schwankte. Alle werden uns für ein Paar halten, dachte er und schluckte.
„Schreibst du was für eure Schülerzeitung über diese Demo?“ Ihre Hand ist so klein und ihre Nägel glänzen rosa. Fabian hüstelte.
„Wahrscheinlich schon, aber sicher nichts Besonderes. So, wie es halt war: kurz und schmerzlos.“ Meltem blieb stehen und sah ihn an. Fabians Hände wurden feucht.
„Ich finde es toll, dass du mit Sven diese Demo organisiert hast, auch wenn es jetzt nicht das Riesending geworden ist, weißt du?“ Ihre ernsthaften Augen erschienen ihm noch dunkler.
„Es ist wichtig, Fabian, enorm wichtig für uns alle.“ Verlegen brach sie ab und Fabian entging nicht, dass ihre Stimme zitterte. Er konnte dem Impuls, sie einfach in die Arme zu schließen, kaum widerstehen. Ihr Duft hüllte beide ein und Fabian wünschte sich, er würde sie unsichtbar machen. Sie schwiegen verlegen und der Zauber, den sie spürten, verflog im Bruchteil einer Sekunde. Eine Windbö fuhr unter den Schirm und knickte ihn um. Erleichtert lachte Fabian auf und richtete den Schirm, Meltem hielt seinen Arm fest.
„Eine richtige Brise, genau wie mein Name,“ sagte sie, doch sie lächelte nicht mehr.
Fabian begriff nicht gleich.
„Brise? Wieso Brise?“ Die Verlegenheit machte der Neugier Platz. Meltem schob die Hände in ihre Jackentaschen.
„Na ja, Meltem bedeutet ‚kleine Brise’, so etwas wie ein frischer Windhauch.“
Fabian nickte betäubt, sein Herz zog sich zusammen.
„Ach ja? Das wusste ich nicht.“ Tränen stiegen in seine Kehle und er schluckte verzweifelt.
„Es passt zu dir. Ein wunderschöner Name.“ Meltem senkte den Kopf, sie gingen schweigend nebeneinander her. Hinter der nächsten Ecke sahen sie das ‚Merhaba’. Noch hundert Schritte vielleicht, dachte Fabian und stoppte unvermittelt. Meltem zog ihre Hand zurück und steckte sie in die Anoraktasche.
„Geh ein paar Schritte vor,“ sagte sie leise, ohne ihn anzusehen.
Fabian nickte, reichte ihr den Schirm und strich einmal hastig über ihr Haar. Dann ging er weiter, während Meltem so tat, als habe sie Probleme mit dem Schirm.
Es war Versprechen und Abschied zugleich.
Mehmet lehnte im Türrahmen des ‚Merhaba’ und sah ihnen aufmerksam entgegen.
„Da bist du ja endlich,“ begrüßte er Fabian lächelnd und versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter. „Prima gelaufen, die Demo, findest du nicht?“, sagte Mehmet und trat zur Seite.
„Ja, wirklich prima“ murmelte Fabian und ging an seinem Freund vorbei in das Lokal.

 

Hat zwar mit dem Thema nicht wirklich etwas zu tun, ist aber eine Geschichte, die ich gerne gelesen habe. Da steckt Herzblut drinnen.
Weckt viele Gefühle, Wut, Traurigkeit, Mitleid.
Auf den politischen Aspekt gehe ich nicht ein, das ist mir zu aufgeladen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jutta,


Mir hats gefallen. Er hält Demos gegen rechts, ist aber in eine Türkin verliebt, die er nie im Leben haben kann, weil ihre Familie nicht zulässt, dass sie einen Deutschen als Freund hat. Scheiße, sag ich da nur. Er steht draußen im Regen und kämpft für seine Liebe, doch so ganz klar sind hier die Fronten nicht. Cool!
Das ist wohl was die Amis unter Reverse Rascism verstehen, wobei Amis, die davon reden, meistens scheiße sind, und das bist du nicht, also ist das vielleicht kein passender Vergleich.
Ich weiß nicht, ob der Anfang mir gefällt. Das dauert irgendwie, und mich haben die Pappen verwirrt, von dem dauernd die Rede ist, weil Pappe für mich irgendwie etwas Undefiniertes ist. Ansonsten gern gelesen, der Fabian ist ja echt hammermäßig verliebt, fast zu krass eigentlich, aber das macht es ja gerade süß und spannend.

mfg,

JuJu

 

Hallo phiberoptic und Juju!

Vielen Dank für Eure Kommentare.
Ja, ja ich weiß, es ist schon ein wenig schmalzig (Herzblut...), doch dazu stehe ich, denn trotz der Liebesgeschichte ist der Aspekt der kulturellen Grenze, die bis zur unausgesprochenen Ablehnung geht, ja da. Liese zwar, doch nicht weniger endgültig. Eine stille Gewalt halt.
LG,
Jutta

 

Gerade den Aspekt der Kulturgrenzen finde ich gelungen.
Kleine, nette Geschichte.
lg
lev

 

Hallo Jutta,

Du schreibst feinfühlig und läßt deutlich spüren, was hier passiert, allerdings auch mit vielen Beschreibungen, wo der Dialog oder die Situation fast ausreichen. Macht nichts; es wirkt natürlich und zurückhaltend. Nur diesen Satz:

Es war Versprechen und Abschied zugleich.

brauchte ich nicht zur Erklärung. Weniger ist mehr.
Sehr schön, diese kleine Geschichte. Und wieder einmal brauchst Du nur wenige Zeilen, um die Tür zu einer ganzen Welt zu öffnen.

Gruß Set

 

Hallo Jutta!

Ich find das wichtigste verliert sich unter der Masse der Details. Diese Liebesgeschichte ist doch nur Mittel, um die eigentliche Problematik darzustellen. Ich weiß nicht, warum du das so gemacht hast und nicht anders, das Grundproblem nämlich die Bigotterie dieser Freundschaft der Deutschen und Türken, oder Moslems und Christen oder einfach nur zweier Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen wird im letzten Absatz angedeuet und nicht ausgeführt. Das ist für mich dermaßen unbefriedigend.
Die Liebesgeschichte interessiert mich überhaupt nicht, die Romeo-Julia Thematik und das gehört nicht unbedingt hierhin oder nur bedingt. Wenn man nämlich die Umstände, die hier die Geschichte ausmachen sollten, auch aufklärt.
Am Anfang zeichnest du diese heile Welt, Sieg über Nazis, Ehrlichkeit, Reinheit und nur unterschwellige Unzufriedenheit, da denkt man, okay, das könnte noch interessant werden, Mittelteil ist langweiliges Liebeszeug, und erst am Ende fängt die heile Welt an zu bröckeln, um die Verhältnisse zu kippen. Es gibt ein leichtes Beben, aber mehr nicht. Aber genau dieses Bröckeln und vielleicht sogar ein Wiederaufbau sind der der interessante Teil. Die Beantwortung der wichtigsten Frage, nämlich warum das alles so passiert und nicht anders, bleibt aus, statt dessen verlässt du den Leser mit seiner üblichen Meinung über den islamischen Bruder, es findet keinerlei Konfrontation statt.
Schade eigentlich. Das Thema ist brisant und in unserer Zeit und in vielen Schulen/Gemeinden ets. allgegenwärtig. Ich hätte es sehr gerne gelesen.


JoBlack

 

Hallo Lev und Set,
danke fürs Wohlwollen euch beiden, und nun,

Hallo Jo Black,
ja , Du hast ganz sicher recht mit dem viel ausführlicheren Ansatz, das ist mir schon klar; doch ich wollte es mal stiller probieren, nicht so eine ausgefeilte Problemstory, wo alles bis ins Detail ausgearbeitet wird, mit kämpferischer Attitüde. Es war mir den Versuch wert, die Problematik anhand der Liebesgeschichte aufzuzeigen, denn die Tragweite wird sicher auch auf diese Weise deutlich und ich biete keine Lösung an, weil ich die gar nicht habe. Es genügt mir, wenn es Denkanstöße gibt. Doch ganz sicher verstehe ich Deine Einwände; es gibt halt viele Möglichkeiten. Danke Dir.
LG,
Jutta

 

Hallo Maria,

Meltem bedeutet tatsächlich 'kleine Brise, Windhauch', jedenfalls aht s mir eine Meltem so erklärt! Deine Kritik geht in die gleiche Richtung wie die von Jo Black und ist mir verständlich, wahrscheinlichnehme ich eine andere Perspktive ein: Durch die Schilderung der langjährigen Kinderfreundschaft sollte man denken können, dass es hier endlich mal keine Konflikte zwischen den Kulturen gibt. Da gibt es sie ja wirklich nicht. Doch in der Zeit des Erwachsenwerdens greifen plötzlich wieder die alten Traditionen und tauchen wie aus dem Nichts auf. So habe ich es bei 2 türkischen Freundinnen meiner Töchter zum Teil sehr krass erlebt. (Gemeinsam Abi gemacht, in die Disko gegangen, nur selten in die Moschee, doch dann stand plötzlich eine Verlobung ins Haus mit einem jungen Landsmann, den im Freundeskreis niemand kannte und es wurde eine riesige Hochzeit gefeiert) Hiermit meine ich keine Zwangsehe, denn diese Freundinnen haben gesagt, dass es für sie überhaupt nicht denkbar sei, KEINEN Türken zu heiraten.
Dieses plötzliche Sichtbarwerden der tiefsitzenden traditionellen Prägungen wollte ich in dieser Geschichte aufblitzen lassen, zurück bleibt erst einmal Irritation. Vielen Dank an Dich und schönen Sonntag.
Jutta

 

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