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Mensch, ärgere dich nicht!
Mensch, ärgere dich nicht!
Marga ließ den Fleischklopfer mit aller Kraft auf das Nackenkotelett sausen. Sie schnaufte vor Anstrengung, und Jonas sah fasziniert auf das bebende, welke Fleisch ihres Oberarms.
„Alfons ist ein gottverdammter Sturkopp,“ schimpfte sie, „er treibt mich noch in den Wahnsinn!“
Der Klopfer malträtierte das Fleisch erneut, diesmal begleitet von kleinen Speichelfontänen.
Jonas beschloss, heute nicht bei seinen Großeltern zu essen. Er rieb seine Schulter am Türrahmen und sah seiner Großmutter gelangweilt zu. Mit einem Holzlöffel schabte sie ein Stück Margarine aus der Plastikschale. Bevor sie es in die Pfanne gab, drehte sie sich zu Jonas um. Mein Gott, jetzt fällt der Fettkringel gleich auf den Boden, befürchtete er, doch die Margarinelocke balancierte auf dem Löffelrand, den seine Großmutter wie einen Taktstock in der Luft schwang.
„Seine Rechthaberei ist es, die mich so wütend macht. Immer hat er Recht, immer nur er! Was ich sage zählt gar nicht, ja glaubst du denn, er würde mir überhaupt mal zuhören? Ne, ich bin Luft für ihn, aber wehe, das Essen steht nicht Punkt Eins auf dem Tisch! Dann krakeelt er noch mehr herum!“ Jonas atmete erleichtert auf, als die Margarine zischend in der Pfanne landete.
Seine Großmutter trug heute keine Strümpfe. Dicke Krampfaderäste schlängelten sich an ihren Waden hoch, unterbrochen von blauroten Knoten, die Jonas an Straßenkreuzungen erinnerten. Knotenpunkte, dachte er und wandte sich ab.
„Ich gehe jetzt mal zu ihm, bestimmt hat er das Spielbrett schon aufgebaut.“
„In zehn Minuten ist das Essen fertig, es reicht wohl nicht ganz für eine Partie.“
Ihre Stimme klang warnend.
Es wäre so simpel, ins Treppenhaus zu gehen und die ausgetretenen Holzstufen hinunterzustürmen, dass es nur so krachte. Einfach nur links rum.
Jonas atmete schneller und wandte sich nach rechts.
Sein Großvater saß vorgebeugt am Esstisch und stellte die roten Spielfiguren auf die Ausgangsfelder. Die verbogene Lesebrille drohte von seiner Nasenspitze zu rutschen. Die dürren Finger hantierten steif und ungeschickt. Eine Figur entglitt ihm und rollte über das Spielbrett. „Verdammt,“ murmelte er, grapschte ungeduldig danach und stieß mit dem Jackenärmel zwei weitere um.
Alfons sog schwer atmend die Luft ein. Er setzte sich auf, ließ die Faust auf den Tisch krachen und begann zu keifen. „Verdammter Mist! Wo ist der verflixte Bengel? Er soll die Püppchen endlich aufstellen!“
Jonas trat ins Zimmer. „Hallo Opa, hier bin ich. Na, nimmst du wieder rot und ich blau?“ Sein Ton klang eine Spur zu munter.
Alfons zupfte missmutig an seinem Jackenärmel. „Aha, der Enkelsohn! Auch mal wieder hier? Da kann man ja verschimmeln, bevor sich einer von euch blicken lässt! Dein Herr Vater hat wohl vergessen, wo sein Elternhaus ist, wie?“
Jonas betrachtete schweigend das fleckige Spielbrett mit den aufgequollenen Papprändern. Er konzentrierte sich auf die runden Spielfelder: Rot, Blau, Gelb, Grün. Hier wanderten die Spielfiguren entlang, die Püppchen, wie Großvater sagte, bis sie es nach Hause geschafft hatten, in das kleine Areal, in dem sie hintereinander standen und nicht mehr rausgeschmissen werden konnten.
Die schimpfende Stimme drang wie ein Echo an sein Ohr. Jonas atmete flacher, der säuerliche Altmännergeruch kitzelte in der Kehle. Seine Augen wanderten über alle vier Ecken. In jeder prangte ein fetter, schwarzer Aufdruck, insgesamt ergaben sie die Aufforderung: Mensch, ärgere dich nicht! Jonas seufzte.
„So Opa, wir können.“ Er reichte Alfons den Würfel. Eine Vier, eine Zwei, eine Drei, keine Sechs. Sein Großvater sog grummelnd die Luft ein und warf den Würfel über den Tisch. Jonas schaffte die Sechs sofort, duckte sich, stellte die Plastikfigur auf das Startfeld und würfelte noch einmal. Wieder eine Sechs! Schwitzend zählte er die Felder ab und würfelte erneut. Gott sei Dank: Nur eine Zwei! Dennoch: Die Schimpftirade würde kommen.
Alles blieb still.
Langsam sah er auf. Sein Opa hatte den Kopf leicht geneigt und betrachtete lächelnd das Spielbrett.
Jonas lehnte sich ungläubig zurück, den Würfel noch in seiner Hand. Aus der Küche drang das geschäftige Klappern der Töpfe, doch es blieb an der Schwelle zum Wohnzimmer hängen.
Seine Augen sind wässrig geworden, dachte Jonas und betrachtete den Alten mit leiser Angst. Aber immer noch hat er diese kleinen Haarbüscheln in den Ohren.
Sein Großvater hatte ihm als Kind zugeflüstert, dass in seinen Ohren kleine Männer wohnen, die alles hören können, was Jonas sagt. Zu sehen sind aber nur ihre Haarspitzen, die Büschel eben. Jonas fand die Vorstellung faszinierend und machte sich viele Gedanken darüber, ob die kleinen Männer mit ihren Füßen und Händen seinen Opa nicht ständig in den Ohren kitzelten. Gefragt hat er ihn nie.
„So, du hast schon angefangen, du Glückspilz.“
Da war sie plötzlich wieder, die fröhliche Großvaterstimme, die ihm so vertraut war. Jonas tauchte aus seinen Gedanken auf. Opa hielt die Hand auf, er wollte würfeln. Eine Fünf, eine Eins, eine Drei. Wieder keine Sechs! Jonas wollte gerade den Blick senken, als die Stimme fröhlich rief: „Na, mein Hermann, ich lass dir mal einen Vorsprung! Aber dann…, du wirst schon sehen.“ Verschwörerisch kniff er ein Auge zu und grinste. Seine Haut bekam Farbe, er sah plötzlich jünger aus.
Jonas würfelte wieder eine Sechs und brachte sein zweites Püppchen ins Spiel.
„Junge, Junge, du hast Kampfgeist!“ Fröhlich keckerte Alfons herum und Jonas lockerte die Schultermuskeln. Er wagte sich vor. „Genau, Opa. Heute werde ausnahmsweise ich gewinnen.“ Er lachte ihn an.
Die Veränderung war leicht zu übersehen. Ein kurzer Moment der Irritation, des Übergangs vielleicht, dann kehrte die Düsternis zurück. „Hast du gepfuscht, du Hallodri?“
Jonas senkte sofort den Blick. „Nein, Opa, habe ich nicht. Einfach nur gewürfelt, sonst nichts.“ Der Alte nahm den Ärger wahr. „Sei mal nicht so frech, Bürschchen! Nur weil du einmal in der Woche zum Spielen kommst, hast du noch keine besonderen Rechte hier, kapiert? Wie alt bist du eigentlich?“ Grübelnd zog Alfons die Augenbrauen zusammen. Etwas in ihm gemahnte Jonas zur Vorsicht. Er suchte einen verbindlichen Ton. „Ich bin vierzehn, Opa, und ich pfusche nicht beim Spielen, das weißt du auch. Außerdem gewinnst du so oft, da darf ich wohl auch mal Glück haben, oder?“
Alfons antwortete nicht, er schüttelte den Würfel in der erhobenen Faust, spuckte anschließend darauf und warf ihn so schwungvoll auf den Tisch, dass er über den Rand rollte und auf den Boden fiel.
Alfons sprang auf, stieß dabei den Stuhl um und wäre fast gefallen.
„Eine Sechs!“, schrie er, „Los, Hermann, heb` den Würfel auf, jetzt bist du reif!“
Er schlug sich mit beiden Fäusten auf die Brust und drehte sich schwankend im Kreis.
Dieses wüste Gesicht war Jonas unheimlich, es kündigte eine Fremdheit an, die er nicht einordnen konnte. Wie er da hüpft, verwachsen mit seiner alten, grauen Jacke! Auf keinen Fall würde Jonas den bespuckten Würfel aufheben, der Gedanke allein verursachte Ekel.
Wie versteinert blieb er sitzen und starrte diesen Alten an, der schon wieder Hermann zu ihm gesagt hatte. So hieß sein Vater.
„Komm, Alfons, setz dich. So ist es gut, mein Lieber, fall mir bloß nicht um.“
Da stand Marga ganz plötzlich an seiner Seite, umfasste seine Ellbogen, und führte ihn zurück zum Tisch. Sie hatte sich das Geschirrtuch über die Schulter gelegt, ihre Hände leuchteten rot vom heißen Spülwasser.
Jonas hatte nicht gewusst, dass ihre Stimme so sanft klingen konnte.
Sein Großvater schaute sie fragend an, setzte sich wieder hin, und als sie mit einer kleinen Bewegung über sein Haar strich, lehnte er seufzend den Kopf an ihre Hüfte.
„Alfons, ich spüle jetzt den Würfel ab, dann würfelst du noch mal, du weißt doch, das dieser Wurf gar nicht gilt, nicht wahr?“ Unentwegt streichelte sie seinen Kopf.
Er rückte völlig unvermittelt von ihr ab. „Ich habe eine Sechs, verdammt noch mal“, schrie er wütend und schlug nach ihrer Hand.
Marga schnaubte und sprang zurück. Alle Sanftheit war verschwunden. „Das ist egal, der Wurf gilt nicht, du sturer Bock!“ Ihre Augen blitzten angriffslustig in dem hochroten Gesicht, und sie schnappte nach dem rutschenden Geschirrtuch. Jonas betrachtete die Szene wie auf einer Bühne, und langsam begriff er die Dramaturgie.
Dann stand er auf, nahm den Würfel vom Boden und schloss seine Hand darum.
Es klebte, es klebte so eklig, die saure, stinkende Spucke seines Großvaters. Ihm war, als zerfräße sie seine Hand. Er lief in die Küche. Bevor er den Würfel unter den Wasserstrahl hielt, schloss er die Augen und presste die Faust noch einmal fest zusammen. Es fühlte sich an wie Abschiednehmen und Abbitte leisten zugleich. Er weinte ein wenig, dann wischte er entschlossen die Tränen weg.
Jonas ging zurück ins Wohnzimmer und legte den Würfel vor Alfons hin.
„Du bist dran, Opa. Die Sechs von eben zählt nicht.“ Seine Stimme war fest.
Der Großvater sah ihn misstrauisch an, hob den Würfel an die Lippen und gab ihm einen Kuss.
„Das weiß ich, du Grünschnabel. Ich habe schließlich schon Mensch, ärgere dich nicht! gespielt, da hat an dich noch keiner gedacht.“
„Stimmt“, lachte Jonas und fühlte sich nicht mehr unbehaglich.
Marga drehte sich um. Auf ihrem Rückweg in die Küche rief sie Jonas zu:
„ Jetzt weißt du, was hier los ist. Sag Hermann, es wird Zeit, dass er mal wieder vorbeikommt.“
„Sag es ihm besser selbst, Oma“, antwortete Jonas, und im gleichen Moment würfelte Alfons eine Sechs.