Menschen
Dröhnend hämmern die Schläge der Kirchturmuhr in meinen Ohren und ich werde wach. Mein Rücken schmerzt heute stärker als sonst. Der Untergrund auf dem ich mein Heim ausgebreitet habe war härter als ich ursprünglich dachte. Eigentlich wollte ich ja in der Nähe vom Bahnhof schlafen. Dort gibt es eine Unterführung, in der der Wind nicht so unfassbar Kalt durch die Schlitze des Schlafsackes pfeift. Doch leider wurde ich schon nach einer halben Stunde von der Polizei aufgefordert zu gehen. Also habe ich die Nacht hier in einem Hauseingang verbracht. Ich muss mich beeilen, bevor ich von jemandem entdeckt werde.
Ich raffe mich auf und schlüpfe aus meinem Schlafsack, es ist angenehm warm. Die Sonne scheint bereits um diese Uhrzeit, ein gutes Zeichen für den Tag. Nichts ist schlimmer als Kälte und Regen, die Kälte frisst sich durch deine Kleidung und deine Knochen, sie lässt dich alt werden. An den meisten Tagen des Jahres fühle ich mich Jahre älter, als ich wirklich bin. Ich bin jetzt achtunddreißig und lebe seit zehn Jahren, drei Monaten und fünf Tagen auf diese Art. Ich rolle meinen Schlafsack zusammen und stopfe ihn in meinen Rucksack. Die Decken, auf denen ich die Nacht verbracht habe, lege ich sorgsam zusammen und verstaue sie in meiner zweiten Tasche, das ist alles was ich besitze.
Eigentlich würde ich mich nun gerne waschen, doch die öffentlichen Toiletten kosten mittlerweile Geld, das kann ich mir nicht leisten. Ich schnalle mir meinen Rucksack und die Tasche um und gehe Richtung Park. Im Stadtpark gibt es einen Brunnen, um diese Uhrzeit wird dort noch niemand zu finden sein, der sich an meiner Person stören könnte. Das Wasser ist eiskalt aber sauber, es erfüllt den Zweck und ich kann noch eine Flasche für den Tag mit Wasser füllen. Ich setzte mich auf eine Parkbank und lasse meinen Körper von der Sonne wärmen, ich muss noch einige Stunden warten bis ich in die Innenstadt gehen kann. Am frühen Morgen, kurz nachdem die Sonne aufgegangen ist, hält sich dort noch niemand auf, der mir eventuell etwas Geld schenkt.
Jeder Tag gleicht dem Anderen. Ich stehe früh auf, packe meinen Habeseligkeiten zusammen, wasche mich, sammle Flaschen und gehe dann zum Supermarkt um das Flaschenpfand zu bekommen. Dann wird es Mittag und ich gehe in die Innenstadt, setze mich an eine gute Stelle, an der die Angestellten vorbei müssen, wenn sie zu ihrem Mittagessen eilen, und hoffe auf eine kleine Spende.
Ich schlendere durch die Gassen der Stadt und halte Ausschau nach einer brauchbaren Straßenecke. Nach einiger Zeit werde ich fündig, stelle meinen Rucksack an die Seite und setze mich auf meine Tasche. Die Sonne strahlt zwar vom Himmel, doch der Boden ist noch kalt von der Nacht. Ich muss aufpassen, dass ich nicht krank werde. Ich bin allein und niemand kann mir helfen. Mit einem Ruck ziehe ich eine Schale aus meinem Rucksack und stelle sie vor mich. Bald ist es soweit, der Kirchturm wird zwölf Uhr schlagen, Zeit für die Mittagspause. Innerlich bin ich angespannt, die letzten Tage war meine Ausbeute bei den Flaschen gering und auch die Passanten teilen ihr Geld nicht mehr gern. Ich kann nichts tun außer warten.
Langsam füllen sich die Strassen mit Menschen. Sie hasten die Fußgängerzone entlang, als wären sie auf der Flucht. Doch vor was?
Einige Passanten werfen mir Cent-Stücke in meine Schale, ohne mich dabei anzusehen. Ich bedanke mich höflich bei jedem der mir Geld gibt, einige winken ab und stürmen weiter, als wäre es ihnen peinlich, dass ich mich bedanke. Andere schütteln nur den Kopf wenn sie mich sehen. Ich kann nur erahnen was sie sich gerade denken, doch ich habe mir mein Leben nicht ausgesucht, ich wäre lieber einer der Menschen die dankend abwinken und sich für ihr bisschen Wohlstand schämen.
Ungefähr vier Stunden sitze ich nun an meinem Platz und habe zwei Euro und fünfunddreißig Cent bekommen. Nicht unbedingt viel, aber für ein belegtes Brötchen reicht es alle mal. Hohe Ansprüche kenne ich nicht mehr, es ist in Ordnung solange ich etwas in meinem Magen habe. Ich will gerade meine Sachen zusammenpacken, da stürmt eine Frau mittleren Alters in einem schwarzen Hosenanzug und einer Aktentasche an mir vorbei. Sie hat ihr Telefon am Ohr und gestikuliert wild, während sie spricht. Durch diese Ablenkung sieht sie nicht, dass meine Tasche auf dem Boden liegt, sondern stolpert schwungvoll über sie hinweg. Ich versuche nach ihrem Arm zu greifen, doch sie zieht ihre Hand angeekelt weg. Anscheinend will sie lieber zu Boden gehen, als von mir aufgefangen zu werden. In letzter Sekunde kann sie sich an einer Straßenlaterne halten. Sie straft mich mit einem bösartigen Blick ab und verzieht ihr Gesicht zu einer Schnute als würde ich stinken.
Unglaublich, breitet der sich auf dem Bürgersteig aus als würde er ihm gehören. Der soll doch lieber arbeiten gehen, als hier rum zu gammeln und darauf zu warten dass ihm jemand ein besseres Leben schenkt. Von mir bekommt der sicher kein Geld. Wollte der mich doch tatsächlich mit seinen dreckigen Händen anfassen. Jetzt schaut er mich auch noch so an, als wäre ich ein schlechter Mensch, nur weil ich arbeite und ein geregeltes Leben habe. Ich habe für das Alles auch lange genug geschuftet. Er kann froh sein, dass ich nicht gefallen bin, sonst hätte ich sofort die Polizei geholt. Ich bin schon wieder zu spät dran, jetzt muss ich mich beeilen um meine Straßenbahn zu bekommen. Ich richte mich wieder auf und ziehe meinen neuen Hugo Boss Anzug zurecht. Ich erkläre Sabine die noch am Telefon auf einen Antwort von mir wartet, dass ich sie zurückrufe.
Schnell haste ich die Strasse entlang, ohne einen Blick zurück auf diesen unrasierten und ungewaschenen Menschen zu werfen.
Auf dem Bahnsteig herrscht reges Gedränge, ich boxe mich an einer Gruppe halbstarker vorbei und schaffe es gerade noch in die Bahn, bevor die ihre Türen schließt. Mein Blick schweift durch die Bahn und ich entdecke einen noch leeren Platz. Ich stürzte Richtung Sitzplatz, damit mir niemand zuvor kommen kann, lasse mich in den Sitz sacken und nehme meine Aktentaschen auf den Schoß. Meine Augen schließe ich, um kurz abzuschalten. Ich bin innerlich unglaublich gestresst, weil Paul sich schon seit drei Tagen nicht mehr bei mir gemeldet hat und ich in einer Stunde ein wichtiges Meeting habe, das mich beruflich ein ganzes Stück weiter bringen kann. Dabei ist mir heute eher danach mich in meinem Selbstmitleid zu baden, statt mit ein paar Männern über die wirtschaftliche Lage der Firma zu diskutieren.
Was Paul wohl an mir störend fand? Vielleicht bin ich ihm zu karriereorientiert? Vielleicht findet er mich einfach nicht hübsch genug, es kann eigentlich alles sein. Einen Monat sind wir jetzt zusammen ausgegangen und ich hatte immer Spaß dabei. Was ist jetzt passiert?
Wenn ich Paul anrufe, wirke ich schwach und erbärmlich. Ich will keine dieser Frauen sein, die sich von einem Mann verrückt machen lassen. Vielleicht ist er krank, Angina, das würde erklären warum er nicht telefonieren kann. Ich hatte so gehofft, dass es mit ihm klappt. Er wirkte auf mich sehr bodenständig und fürsorglich.
Meine Gedanken rasen, jeder Versuch mich auf das Meeting zu konzentrieren wird durch eine weitere Vermutung zerschlagen.
Drei Stationen weiter öffne ich die Augen und sehe das auf dem Platz gegenüber von mir nun eine Rentnerin sitzen. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass die blonde Frau mit dem hübschen Kleid ausgestiegen ist. Die alte Dame trägt einen knielangen Rock und eine typische Strickjacke, wie sie alle alten Frauen tragen. Doch ihre Haare sind anders, sie sind noch immer lang, an den Seiten nach oben gesteckt und hinten offen. Die Grauen Haare fallen ihr über den leicht gebeugten Rücken. Ich merke, dass ich sie eine Sekunde zu lange gemustert habe, sie hat schon Blickkontakt aufgenommen, dabei möchte ich doch einfach meine Ruhe haben. Hastig sehe ich mich um, vielleicht hat jemand, den eine oberflächliche Unterhaltung nicht stört, die alte Frau ebenfalls gesehen. Aber die anderen Fahrgäste sind alle mit sich selbst beschäftigt. Hätte ich doch bloß mein neues Buch heute früh eingepackt, dann könnte ich mich dieser grauen Menschenmasse anschließen. Doch Sie starrt mich unbeirrt weiter an, ich ergebe mich meinem Schicksal und lächle die Rentnerin kurz an.
Was für eine reizende Dame und so schick in ihrem modernen Anzug, schade dass sie schon nach vier Stationen wieder aussteigen musste. Wir haben uns über das schöne Herbstwetter unterhalten, sie hat so nett gelächelt als ich sie anschaute. Die jungen Leute haben Heutzutage gar keine Zeit mehr für ein Gespräch, einige wollen auch mit uns Alten nichts mehr zu tun haben. Sie hören laut Musik und blicken stur an uns vorbei. Wenn ich in die Straßenbahn möchte hilft mir niemand beim einsteigen, geschweige denn beim Aussteigen. Es ist, als würde ich langsam verschwinden. Heute habe ich zum Glück einen Sitzplatz bekommen, wenn die Straßenbahn voll gewesen wäre, hätte ich stehen müssen. Ich wäre froh, wenn es mehr so nette Menschen wie diese Dame geben würde. Ich habe doch so viel zu erzählen, warum denken die Menschen, dass wir Alten langweilig sind?
Wenn es die Zeit zugelassen hätte, dann hätte ich ihr von meinem Mann erzählen können. Wie wir einige schwere Zeiten hatten, aber immer wieder zueinander gefunden haben oder von meiner Zeit kurz nach dem Krieg, als wir Kinder mit den Frauen die Stadt wieder aufbauten, in der sie heute leben. So viel habe ich schon erlebt aber niemand will davon etwas wissen, die Menschen sind wie eine schweigende Masse, alle trotten nebeneinander her und interessieren sich nicht für den, der neben ihnen läuft.
Meine Haltestelle wird angefahren und ich steige aus, es wird mittlerweile Abend, die Sonne hängt tief am Himmel. Ich liebe dieses Licht. Selbst die alten, heruntergekommenen Fassaden leuchten golden. Ich schleppe meine Taschen durch die Straße, wie jeden Mittwoch habe ich auch heute wieder die Einkäufe gemacht. Die beiden Taschen schneiden sich in meine Handflächen, das Katzenfutter ist dieses Mal schwerer als ich dachte. Meine Knochen schmerzen bei jedem Schritt. Heute ist wieder so ein Tag an dem mir mein Mann fehlt. Nicht nur weil er mir beim Einkauf geholfen hat, sondern weil er mit mir gesprochen hat, er war einfach für mich da. Jetzt habe ich Karl, er ist sieben Jahre alt und wartet sicher schon auf mich und sein Futter. Ich wollte einfach nicht mehr alleine aufwachen, also bin ich mit meiner Enkelin im Tierheim vorbei und da war er, ich wusste sofort dass er der Richtige ist.
Zwei Straßenecken weiter kann ich endlich meinen Roten Gartenzaun sehen, gleich habe ich es geschafft. Das atmen fällt mir immer schwerer, ich muss die Einkaufstaschen immer öfter abstellen um meine Kräfte zu sparen.
Ich öffne das Tor zu meinem Garten, Karl sitzt bereits vor der Haustüre und wartet, es ist schön dass jemand da ist und sich freut wenn ich nach Hause komme. Ich schließe die Türe auf und Karl drängt sich an mir vorbei. Ich stelle die Taschen in der Küche ab und gebe ihm sein Futter. Eine Weile beobachte ich ihn beim essen, räume die Einkäufe ein und bereite mir einen Tee zu.
Der Tag hat dennoch einige Stunden und ich beschließe noch einmal im Garten nach meinen Rosen zu sehen. Ich stutze die tiefroten Blumen ein wenig zurück und kehre das erste Laub, das sich auf der Veranda und dem Rasen sammelt, zusammen.
Die Sonne verschwindet hinter den Häuserfassaden, ich entzünde die alte Blechlaterne auf meiner Veranda und genieße meinen mittlerweile lauwarmen Tee. Wo Karl bloß steckt? Ich rufe laut nach ihm, doch er ist nicht zu finden. Ich gehe in die Küche um nachzusehen, ob er sich dort versteckt. Karl ist nicht ausfindig zu machen, langsam steigt meine Nervosität. Ich versuche mein Glück erneut im Garten. Ich pfeife leise durch die Rosenbüsche und rufe seinen Namen.
Entfernt höre ich das klackern von Frauenschuhen, die näher kommen.
Eine hübsche junge Frau eilt an meinem Gartenzaun vorbei. Sie trägt ein grünes Sommerliches Kleid, obwohl die Temperaturen in den Herbst übergehen. Sie läuft hektisch als würde jemand sie verfolgen. Ihr braunes Schulterlanges Haar schwingt aufgeregt hin und her.
Die Schritte auf dem Asphalt werden immer lauter, aber ich drehe mich nicht um. Ich versuche in den Fenstern der Autos, die direkt an der Strasse stehen, zu erkennen ob mir jemand folgt.
Mein Kopf hämmert immer lauter. Ich frage mich warum ich heute diese hohen Schuhe trage und keine Turnschuhe. Ich kann durch das klacken der Absätze nicht sicher hören ob jemand hinter mir läuft. Das klacken vermischt sich mit meinem Herzschlag. Ich spüre wie meine Hände nass werden, ich atme immer flacher und beginne schneller zu laufen, aber nicht zu schnell, die anderen Menschen die sich noch auf der Straße tummeln sollen nicht denken dass ich verrückt bin. Vielleicht bin ich es, weil ich mir einbilde es könnte mir jemand folgen.
Ich spüre mein Herz, mein Körper bebt, meine Ohren summen. Ich suche meinen Autoschlüssel, während ich gehe, in meiner Handtasche. Wo ist er? Aufgeregt wühle ich in meiner Tasche, ich will nicht stehen bleibe. Ich vernehme ein klirren in meiner Tasche und fische ihn aus der untersten Ecke. Wütend über mein Chaos, nehme ich ihn in meine Hand und drücke ihn immer fester. Meine Handfläche pulsiert während sich der Autoschlüssel in meine Haut bohrt. Es ist mir egal, ich fühle mich ein Stück sicherer. Ich will rennen, aber das letzte Stückchen Verstand hindert mich daran.
Warum hat er mich nicht zu meinem Auto gebracht? Weil ich Emanzipiert bin und ich allein durch die Stadt laufen kann? Warum habe ich nicht gefragt? Warum laufe ich hier allein im Dunkeln?
Aus einer dunklen Ecke pfeift es. Ich höre zwei Männer rufen, ich blicke starr nach vorn, welcher Mann denkt er kann eine Frau nachts ansprechen? Eine Frau, die allein auf dem Weg zu ihrem Auto ist.
Ich spreche mir Mut zu, während mein Puls meinen Hals zum Pochen bringt.
Ich laufe immer schneller und stürze fast über eine Katze, die aus der Hecke am Straßenrand gesprungen kommt. An einem normalen Tag würde ich jetzt stehen bleiben und die Katze streicheln, aber im Moment fühlt es sich nicht normal an. Ich bin froh wenn ich bei meinem Auto angekommen bin. Es sind noch zwei Straßen die ich überqueren muss, Ablenkung verschafft mir der Gedanke an den heutigen Abend. Ob ihm mein grünes Kleid gefallen hat? Eigentlich ist es viel zu kalt für das Kleid, aber ich fühlte mich sofort gut darin.
Jetzt im Moment hab ich eher Angst, dass es noch anderen Männern gefallen könnte. Ich schüttle meinen Kopf, als könnte ich so die Gedanken loswerden. Ich biege in die Schreiberstraße ein und sehe mein Auto schon von Weitem, mein Herz rast nun immer schneller, ich drücke die elektronische Verriegelung, durch gleichmäßiges Atmen versuche ich mich zu beruhigen. Ich öffne die Tür, setze mich hinter das Steuer, ziehe die Tür zu und drücke direkt den Knopf. Ich höre die Verriegelung und atme einmal tief ein, ich danke der Welt, dass ich angekommen bin.
Ich drehe den Schlüssel und höre den Motor brummen, ich umschlinge das Lenkrad und gebe langsam Gas, ich fahre, ich beruhige mich, ich lache, wie konnte ich nur denken, dass mir etwas passiert.