Mitglied
- Beitritt
- 11.04.2011
- Beiträge
- 246
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Messing
Unsere erste Begegnung: für Susanna war sie Routine, für mich jedoch ein Urknall gewesen.
Ich stand an der INDEX, meiner Drehmaschine, und fertigte die Schrägvariante der Style-Armatur, da stand Susanna plötzlich hinter mir. Sie räusperte sich, bat um die Urwertkarte und studierte deren Parameter. Dann griff sie eine gerade fertiggestellte Armatur, setzte sich an den Prüftisch und vermaß die verschiedenen Durchmesser, Tiefen und Winkel der Bohrungen. Zuletzt legte sie die Style wie ein rohes Ei auf die gummierte Unterlage des Profilometers und prüfte die Rauheit der Oberfläche.
Susanna bewegte sich ohne Hast.
Ich betrachtete ihre makellosen Arme, ihre Schultern und den Hals. Ihre Haare, dachte ich, sie fließen wie Honig den Nacken herunter, wie von der Sonne beschienener Honig …
Sie schrieb die Werte nieder, stand mit einem: „Alles in Ordnung“ auf, gab mir die Karte zurück und lächelte.
Ich sah ihr hinterher. Mir gefielen ihre Art zu gehen und ihre sich unter dem Rock abzeichnenden, nicht zu kleinen Arschbacken. Ihre Stimme, warm und weich wie die einer schnurrenden Katze, hallte in meinem Kopf nach.
„Sie ist die Frau vom Chef“, holte mich Kapp aus meinen Gedanken.
Bei der Sache mit dem Messing legte ich mir einen Vier-Wochen-Rhythmus zu.
Ich machte es immer freitags, nach der Spätschicht. Kam wegen eines angeblichen Termins eine Stunde später, übernahm die auf Temperatur gebrachte und somit maßgenau drehende Maschine. Ich fertigte einen ersten und zweiten Satz, ging in die Kantine und aß mein Brot. Verabschiedete meine Kollegen gegen zehn und arbeitete die fehlende Stunde nach. Punkt elf schaltete ich die INDEX ab, löschte das Licht, öffnete das Rolltor, griff den Hubwagen und zog den Schrottbehälter auf die Rampe. Fuhr meinen Zafira vor, hievte den Behälter in den Kofferraum und schloss das Tor.
Es wird nicht immer gut gehen, dachte ich und fuhr mit klopfendem Herzen vom Hof.
Am letzten Freitag des März vermeldete die Börse einen Messingpreis von 4,79 je Kilo. Ich hatte einen Behälter mit Schrott gefüllt und für den Abtransport bereitgestellt, als sich Unruhe breitmachte.
„Hacke“, zischte Kapp und wedelte mit seiner Zigarette.
Der Chef marschierte, eine Gruppe Chinesen im Schlepptau, durch den Maschinensaal.
Ich ignorierte die Truppe. Tippte zwischen den X-, Y- und Z-Werten auf dem Display herum, beugte mich wie ein Zoobesucher vorm Schlangengehege zum Sichtfenster der INDEX herunter und betrachtete das Spanen des Meißels, als sähe ich so was zum ersten Mal.
Plötzlich stand die ganze Delegation hinter mir. In seinem fürchterlichen Englisch - es bereitete mir beinahe körperliche Schmerzen - erklärte Hacke die Arbeitsschritte zur Herstellung der Style. Er deutete auf die millimetergroßen Bohrungen, berichtete von einzudrückenden Sensorfeldern und aufzubringender Chromschicht.
Zwischen den gesichtslosen Asiaten verschwamm Hacke vor meinen Augen, reduzierte sich sein Kopf auf büschelnde Nasen- und Ohrenhaare und sein Körper auf ein zehntausendfach vergrößertes Bakterium.
„Never without hand protection to parts blow!”, grunzte er mich unvermittelt an. Und zu den Chinesen gewandt: „That would have the colleague must know. But I cannot bake my staff.” Hackes Gäste lachten, als wären sie Nordkoreaner und der Witz von Kim persönlich.
Ich legte eine Stange Messing nach.
Erst als sie weitergingen, bemerkte ich Susanna. Sie folgte der Delegation wie eine scheue Muslima mit einigem Abstand. Oben im Besprechungsraum würde sie den Gästen Kaffee eingießen und Kekse reichen.
Den Abend und die Nacht mit Hacke verbringen.
Da war ein Hämatom an ihrem Oberarm gewesen. Auf der linken Seite … und ich erinnerte mich an einen blauen Fleck vor zwei Wochen – jedoch rechts. Ich begann unwillkürlich zu schwitzen und wischte den Gedanken fort.
Zum Ende der Schicht brachte ich den Zafira in Position und lud über 100 Kilo.
Ende April lag der Messingpreis bei 5,02.
Für den Freitagnachmittag war eine der vierteljährlichen, als Pflichtveranstaltung deklarierten Arbeitsschutzbelehrungen angesetzt. Sie fand in der Kantine statt; ich legte eine Stange Messing in die Zuführung der Maschine und machte mich auf den Weg.
Der Raum brummte wie das Innere eines Bienenstocks. Ich nahm Platz, starrte auf das unmögliche Muster einer Tischdecke aus Polyvinylchlorid und spürte plötzlich Susannas Gegenwart.
Sie hatte neben mir Platz genommen. Nahm eine Sonnenbrille ab und blickte erst zu Boden, dann, wie gegen einen Widerstand, in meine Augen.
Zwei Stellen, unter ihrem Augenlid und am Kinn, waren bläulich verfärbt. Ich zuckte zusammen, wollte mich abwenden, riss mich aber zusammen und hielt ihrem Blick stand. Meine Finger schlossen sich zu einer Faust und pressten etwas nicht Vorhandenes zusammen. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Susanna schüttelte den Kopf und so unterhielten wir uns - in langen Sätzen, jedoch stumm.
Die Belegschaft wurde gebeten, bis nach der Belehrung zu bleiben. Hacke nutzte die Anwesenheit aller zu einem Generalanschiss. Er beklagte fehlende Umsätze, Deckungsbeiträge und Initiative, erklärte, wir hätten die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Er kündigte die Streichung von Prämien und weitere finanzielle Einschnitte an.
Zurück an der INDEX positionierte ich das Y-Maß für das Fräsen der Aussparung der Mischerwelle von 2,4 auf 2,45 Millimeter. In den folgenden vier Stunden produzierte ich 320 kg Schrott, welchen ich gegen elf in meinen Wagen lud.
Susanna und ich, wir begannen uns zu suchen. Trafen scheinbar zufällig im Maschinensaal und im Prüfraum aufeinander, klärten nicht vorhandene technische Probleme und umkreisten uns dabei wie ungeschickte Teenager. War Hacke auf Dienstreise, blühte sie wie eine Wüstenpflanze im Regen auf.
Ende Mai lag der Messingpreis bei 4,87.
Zu Schichtende stellte ich den Zafira an die Rampe und rollte den Schrott heraus, als das Licht einer Taschenlampe aufflammte.
„Hab das seit Wochen geahnt“, grunzte Hacke.
Zum ersten Mal sah ich ihn ohne Anzug. Er trug ein T-Shirt, auf seinem Kopf klemmte ein „Sternquell“-Basecap. Er rollte seine Rattenaugen und zog ein Smartphone hervor.
Ich verfolgte die kreisenden Bewegungen seiner Schulterblätter. Starke Schultern, die aus der Drehung heraus Arme dick wie Äste bewegten.
Und mit der Faust Susanna schlugen - gestern und heute und in Zukunft.
Aus dem Augenwinkel sah ich das vielleicht sechzig Zentimeter lange Endstück einer 35er Messingstange im Schrottbehälter liegen. 5 Kilo, rechnete ich automatisch aus. Ich griff in den Behälter und fasste die Stange. Sie lag schwer, aber angenehm und wie austariert in meiner Hand. Als ich sie umklammerte, gewannen meine Finger an Kraft wie die federgespannten Bauteile eines Roboters; ja, ich war eine Maschine, führte meinen von kräftigen Schrittmotoren getriebenen Arm in die Höhe …
Und drosch Hacke das abgetrennte Ende der Stange gegen das Jochbein.
Er fiel.
Sein schwerer Körper lag ein wie Baum vor mir. Ich trat an den am Boden Liegenden heran, die Stange, wie einen rituellen Gegenstand, über den Kopf erhoben für einen zweiten und dritten Schlag.
Dachte: niedersausen. Ich lasse sie niedersausen, das ist ein passendes, wenn auch aus der Zeit gefallenes Verb der Kategorie „Knüppel aus dem Sack“. Den Knüppel tanzen lassen, dachte ich, ihm die Fresse zertrümmern zu formlosen Fleisch, dem Brechen seines Schädels wie dem Rhythmus einer Rammstein-Platte lauschen …
Aber so einfach ist das nicht.
Hackes Lippen zuckten wie das Maul eines an Land gespülten Karpfens. Ich starrte in seine verwunderten, entsetzten Augen und ließ die Stange sinken.
Ein Wolkenbruch holte mich aus der Starre. Die Uhr zeigte beinahe zwölf. Ich hob das Handy auf und stellte fest, dass Hacke keine Verbindung zustande gebracht hatte. Ich kam in die Gänge: brachte den Schrott zurück in die Halle und verfrachtete Hacke in den Zafira. Fuhr nach Hause, blieb in der Einfahrt stehen und stellte den Motor ab. Lauschte dem röchelnden, verwundeten Tier in meinem Fond.
Dann griff ich zum Telefon und wählte Susannas Nummer.
Sie stieg, vom Regen triefend, auf der Beifahrerseite ein, blickte nach hinten, sofort wieder nach vorn und griff meine Hand. Wir sprachen kein Wort, ewig nicht. Schließlich rutschte sie zu mir rüber und umarmte mich lange und fest.
Ich holte einen Spaten aus der Garage. Wir fuhren nach Bockwitz und vergruben ihn in einem Waldstück. Er schnappte nach den letzten Regentropfen, schluckte Dreck, dann verstummte er endlich.
In dieser Nacht nahmen wir ein langes, heißes Bad.
Und nach dem Bad schliefen wir miteinander.
Ich erwartete, dass sie kommen und mich abführen würden.
Kapp hatte jede Menge Theorien über Hackes Verbleib; ich beteiligte mich nicht an den Mutmaßungen meiner Kollegen und drehte meine Armaturen.
Doch niemand kam und niemand führte mich ab.
Wir warteten acht Wochen, dann fuhr ich gemeinsam mit Susanna und ihren Kindern an einen Baggersee. Oskar war zwölf und Greta sechs, ich spielte Memory mit ihr und eine Runde Speedminton mit ihm.
Vier Jahre später ging es der Firma besser als je zuvor. Ich leitete den Vertrieb, Susanna kümmerte sich um den Aufbau unserer Niederlassung in Krakau.
Wir hatten Oskar über die Ferien als Hilfskraft eingestellt, er sollte dem EDV-Verantwortlichen zur Hand gehen.
Es passierte an einem Freitagabend. Ich wollte Feierabend machen, suchte Oskar zum Nachhausefahren und fand den Jungen mit brennendem Gesicht über einen Bildschirm gebeugt.
„Das musst du dir ansehen“, keuchte er und ich betrachtete den Schirm.
„Da gab es Überwachungsbänder“, sagte Oskar. „Vater hat das Firmengelände überwachen lassen.“
„Überwachungsbänder“, wiederholte ich.
„Längst vergessene Dateien“, antwortete Oskar. „Ich sollte sie löschen, habe mich aber für den Inhalt interessiert und mal eben ein Programm gebastelt.“
„Ein Programm“, käute ich wieder und begriff, dass Oskar zufällig auf diese Bänder gestoßen war, die Polizei nichts von deren Existenz wusste und der Rest der Welt nichts von einem kleinen, verliebten Schrottdieb.
„Eines, das ungewöhnliche Bewegungen aufspürt“, fuhr Oskar fort. „Damit man nicht stundenlang gucken muss, verstehst du?“
Ich nickte, weil ich das sehr gut verstand.
„Das da …“, flüsterte Oskar plötzlich. „Das ist doch …“
Eine Kamera hatte die hintere Rampe gefilmt. Zwei Männer standen sich gegenüber; plötzlich schlug der eine den anderen mit einem Gegenstand nieder.
Oskar zuckte.
Sein Vater brach auf der Rampe zusammen. Der andere Typ stand einfach rum, dann drehte er sein Gesicht zur Kamera. Oskar erstarrte. Er betätigte die Pausentaste und blickte mich mit leblosen Augen an.
Ich ging die Treppe hinunter in den Maschinensaal. Schnorrte mir von Kapp eine Zigarette, setze mich damit auf die Rampe, zündete sie an und inhalierte.
Ich hatte seit Jahren nicht geraucht. Wahrscheinlich ein Fehler, dachte ich, denn das Nikotin durchfuhr meine Glieder wie heißer Tee ein durchfrorenes Kind.