Michelle
"Das ist alles, was du über sie weisst?", bohrte Alex, ein ziemlich neuer Schüler, nach. Martin antwortete mit einem simplen "Ja", und verschwand wieder, so schnell wie er gekommen war.
Michelle - das ungewöhnlichste Mädchen an der Schule. Sie kommt immer kurz bevor es läutet, höchstens einige Sekunden früher. In der Mittagspause sieht man sie kaum, und wenn doch, ist sie sowieso wieder am Lesen. Meistens ihre komischen Manga - Bücher, total kindisch!
"Rrrring", läutet es. Michelle stürzt noch kurz rein, dabei fallen aber ihre Bücher runter. Sie hebt die schnell auf, und setzt sich. Sie sitzt alleine am Tisch, niemand hat richtig Zugang zu ihr. "Habt ihr alle Kapitel 5 gelesen?", hört man Frau Hoffmann. Natürlich antwortet niemand, warum auch. Wer macht schon die Hausaufgaben, für die man nichts aufschreiben muss. Man fragt einfach schnell den Streber, was denn in Kapitel 5 passiert ist. Selbst der ist übrigens populärer als Michelle - wenigstens teilt er seine Hausaufgaben immer.
Endlich die Mittagspause, die braucht man einfach nach einer Stunde bei Frau Hoffmann.
"Michelle wusste, wie üblich, jedes einzelne Detail des Kapitels", "Wie kann man denn so gerne lesen? Ich verstehe es nicht.."
Natürlich weiss man, dass sie es hört. Schliesslich läuft sie meistens genau dann vorbei - ob man das mit Absicht macht? Gelästert wird jedenfalls immer, von daher kann das wohl keiner richtig beantworten.
Michelle liest gerade ihren neu erworbenen Manga, es ist der 10. Band. Der ist besonders spannend. Sie hat meistens eine Reihenfolge, die sie einhält. Zuerst sieht sie sich das Bildchen an, und versucht, anhand des vorher gelesenen zu analysieren, was jetzt passiert. Erst dann liest sie den nächsten Satz. So verbessert sie ihre Fähigkeit, Dinge aufgrund der Mimik nachvollziehen zu können. Die meisten denken, dass bringt nichts, es wäre unnütz. Doch Michelle ist stolz auf sich, ihr selbstgeschriebener Manga profitiert übrigens auch davon.
Diesen Band kann sie heute nicht fertig lesen, denn es klingelt. Sie rennt förmlich ins Schulzimmer, setzt sich, und ist ruhig. Sie redet nicht. Wozu auch, sie hält ihre Klassenkameraden für intolerant und idiotisch - zu Recht, wohlgemerkt. Pubertät und so, redet sie sich ein. Die Gesellschaft, die Jugend von heute, die Erwachsenen von morgen - so dumm KÖNNEN die nicht sein! ..oder?
Michelle ist sich, wie so oft, sehr unsicher. Sie ist glücklich, und hat solide Noten. Klar hätte sie gerne eine Freundin, oder auch zwei. Aber so ist das heute nunmal. Passt man sich an, ist man für die anderen ein Idiot. Passen sich alle an, sind alle Idioten. Passt sich einer nicht an, ist er der Idiot. Alles und jeder ist doch ein Idiot. Selbst du, auch ich.
Michelle hat oft solche Gedanken. Zu oft. An Suizid denkt sie regelmässig. Ich bin mit meinem Leben zufrieden, redet sie sich täglich ein. Ich habe es mir ausgesucht. Lieber bin ich der einsame Idiot, als der pubertäre
Nichtskönner.
Michelle - du bist nicht allein.