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Microwellenprinzip

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08.11.2001
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Microwellenprinzip

Microwellenprinzip

Ich sitze in einem dieser Straßencafés. Eins von denen mit den kleinen Tischchen, rund, aus marmoriertem Kunststoff. Immerhin hatte das Bestellen nicht ganz so lange gedauert.
Während ich auf dem Stuhl aus unechtem Gußeisen schaukele, fallen mir mindestens zehn Frauen auf, die so sind, wie Chrissie. Gleiche Kleidung, gleicher Haarschnitt und auch sonst. Mehr als acht Jungen immerhin sind in etwa das, was ich im Spiegel sehe. Massengesell-schaft. Ich spiele mit dem Gedanken, aufzustehen. Zusammen mit den anderen durch die Fußgängerzone gespült zu werden. Auszusehen, wie acht andere. Oder mehr vielleicht. Aber bevor ich mich aus mei-nem Café hinaussaugen lasse, steht die schwarzer-kurzer-Rock-Streifenbluse-Kellnerin mit dem Café au lait hinter mir, legt lächelnd den eingeschweißten Keks neben die Tasse mit dem dezenten Fußbad und löst sich zunächst wieder auf. Noch ein wenig unauffälliger, als sie sich materialisiert hatte.
Ihre Schritte wippen im Takt mit der Konsummusik, irgendwo im Inneren des Cafés, während sie zwei Tische weiter kassiert. Noch ein Chrissie-Mädchen in einem knallroten, weiten Rock sorgt dafür, daß ich doch wieder auf die Fußgängerzone sehe. Immer in der Hoffung, daß die alle nur so aussehen, wie sie. Eigentlich wäre es mir am liebs-ten, sie würde nicht kommen. Aber nun sind wir eben verabredet. Und, laß mich mal sehen, wie spät, in zwei Minuten wäre sie hier. Wird sie nicht sein, war aber verabredet. Ihre ewige Unpünktlichkeit hat mich immer wahnsinnig gemacht. Aber es ist ja das letzte Mal. Und weil sie das nicht weiß, und überhaupt, weil sie so lange weg war. Schon ok.
Mein Kaffee schmeckt seifig, aber das liegt an der Marke. Eine Weile spiele ich mit dem knisternden Keks, bevor ich noch einen Würfel Zucker in den Kaffee werfe. Dabei beobachte ich alle Chrissies um mich herum. Sie fluten hin und her. Und ich weiß nie so genau, ob ich eine von ihnen schon mal gesehen habe. Was ja eigentlich auch voll-kommen egal ist. Ein Schwarm summender Chrissies und dazwischen ein paar Mal ich. In den letzten zwei Wochen habe ich weniger von ihnen gesehen. Vielleicht, weil sie in Rom war. Studienfahrt. Vermißt hab ich sie nicht. Und deshalb auch nicht gesehen.
Während ich auf die goldene Folie um den Keks starre, fühle ich mich wie in einem M-TV- Video. Ich glaube, das heißt „focus-out“, oder so. Plötzlich wird alles, was du lange genug anstarrst, kleiner. Und du siehst, was drum herum ist. Als ob ein Zoom rückwärts läuft. Der Keks in meiner Hand. Mein Ärmel, hellblaues Hemd, schlichte Man-schetten. Das Pflaster vor meinen Füßen. Meine Füße, der Tisch und der Rest des Cafés. Von weiter oben betrachtet. Und dann das Haus, die Fußgängerzone und der Blick von oben auf die Stadt. Das Tempo nimmt zu. Mir wird ein wenig schwindelig. Dann breiten sich Land-karten unter mir aus. Ein Globus. Nur hat der noch diesen Metallbügel mit den Gradeinteilungen. Längengrade, oder ? Könnten auch die Breitengrade sein, oder nicht ? Keine Ahnung. Mir ist schwindelig.
Jetzt hat die Bewegung beinahe aufgehört, so eine Art Schwebezu-stand und der Globus dreht sich ganz gleichmäßig. Aber ich glaube, falschherum. Ich frage mich, ob ich einen Knopf drücken kann, um mich wieder ranzuzoomen. Und ob ich dann an einer ganz anderen Stelle landen kann. Oder ob ich zurück muß.
In diesem Moment muß ich den Keks zerdrückt haben und anstatt eines nachvollziehbaren Zooms finde ich mich mit einem Ruck blin-zelnd im Café wieder. Mein Kaffee, hinter dem ich mich vor den Blicken verstecke, schmeckt immer noch seifig, jetzt aber kalt.
Ich fühle mich verraten, weil ich so plötzlich wieder hier war. Ich will nicht ! Am liebsten würde ich mich drücken. Als ich sie gestern auf meinem Anrufbeantworter gehört habe, wollte ich erst gar nicht kommen. Aber schließlich muß ich’s ihr sagen. Ich hab mir ein Limit gesetzt: Wenn sie auf mich zugeht, zwischen den Tischen durch, dann sehe ich sie mir noch einmal genau an. Aber es wird sich nicht genau-so anfühlen. Schon vor zwei Wochen nicht mehr. Aber heute ganz bestimmt nicht mehr.
Ich werde warten, bis sie bestellt hat. Fünf Minuten Small-talk, vor-ausgesetzt, sie fragt mich nicht gleich als erstes, ob ich sie vermißt habe. Ich werde sicher rot beim Lügen und dann sag ich’s ihr einfach. Ich habe für meine Flucht alles vorbereitet. Ein anonymes Café - seltsamer Weise hat sie das ausgesucht .. - neutraler Boden. Und dann sag ich’s ihr einfach und gehe. Das wird für sie am leichtesten sein.
Jetzt habe ich den Keks schon wieder in der Hand. In der knittrigen Tüte sind nur noch Krümel. Und ich werde ein wenig rot, als ich sie hinter meiner Tasse verstecke. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich habe ein flaues Gefühl in der Magengegend. Irgendwo da, wo der Seifen-Kaffee jetzt ist.
Ist doch ganz egal. Ein Bekannter hat neulich gesagt, ich lebte nach dem Microwellenprinzip. Und eigentlich hat er recht, denn das tun wir doch alle. Man kann heutzutage schlicht und einfach nichts falsch machen. Es gibt für alles eine Gebrauchsanweisung mit Bildchen und für alles eine Maschine, vollautomatisch. Man reißt die Tüte auf, stellt die aufgedruckte Zeit ein und drückt auf Start . Nichts geht schief, jeder kann alles, und wenn’s nicht schmeckt, dann ist die Marke schuld und ich suche irgendwo nach Ketchup. Im Prinzip doch sehr einfach. Genau wie meine Beziehung mit Chrissie.
Aber irgendwann scheint mal jemand den falschen Knopf gedrückt zu haben - kalt geworden. Schmeckt nicht aufgewärmt. Also Ende. Fast-food, na und ? Chrissie werd’ ich das Prinzip sicher nicht erklären. Es könnte herzlos klingen, obwohl es das nicht ist. Bloß modern.
Als sie vor mir steht, habe ich zu spät geschaltet. Weil ich sie nicht erkannt habe, braungebrannt, kurzes Kleid mit Spaghettiträgern, Son-nenbrille in einer völlig neuen Frisur. „Hi“ sagt sie, setzt sich aber nicht sofort. Zum Antworten bin ich zu perplex. Die Kellnerin wirft ihr einen fragenden Blick zu, Chrissie winkt ab. Sie sieht gut aus. Und nett. Aber ... nein doch nicht.
"Hör zu", fängt sie an, beinahe geschäftlich. "Ich habe nachgedacht..." Seifenoper ? Reden Menschen wirklich so ? "... also, ich mach’s kurz: Sorry, aber ich kann’s nicht mehr. Die Gefühle sind weg und ... naja also, ich mach Schluß. - So jetzt ist es raus." Sie hatte sehr schnell gesprochen, nervös, jetzt entspannte sie sich ein wenig. Während ich nur stumm nickte. Ich fühlte mich wie eine dieser Comicfiguren nach dem Hieb mit der Bratpfanne. Um meinen Kopf zwitscherten kleine lila Vögelchen. "Aber ..." ich krächtste ein wenig zu heiser und schloß den Mund.
"Jetzt zu sagen ‘Wir bleiben Freunde’ wär’ ziemlich albern. Also bis dann , ... -irgendwann."
Sie war verschwunden, hatte nichts bestellt, sich völlig verändert, mit mir Schluß gemacht, mich nicht zu Wort kommen lassen und sah auf einmal gar nicht mehr aus, wie all die Chrissies auf der Straße. - und all das in zwei Wochen ?
Vielleicht dreht sich die Welt doch andersherum. Chrissie dreht sich jedenfalls nicht mehr um. Ich versuche gedankenlos das Loch in mei-nem Magen mit dem Rest Kaffee zu füllen und fühle mich grauenhaft.
Ich trinke noch mehr Kaffee. Ich fühle mich noch nicht gut genug, um nach Hause zu gehen. Sie hat mich verlassen, einfach so.

 

uups, Anfängerpech... die Geschichte sollte eigentlich unter "Alltag" laufen.
vergebt!

 

Find ich gut!
Man kann sich richtig in den Menschen hereinversetzten. Das überraschende Ende ist dir auch gelungen.

 

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