Mirko und der Freischütz
Das Jagdzelt des Fürsten Ottokar leuchtet wie eine gelbe Papier-Laterne vor der schwarzen Mauer des nächtlichen Waldes. Der Mond steht als silberne Sichel am Nachthimmel. Unbeirrt wie eine Pflugschar zerteilt er die jagenden Wolkenfetzen, die der Wind ihm vor die Stirn treibt.
Über dem Eingang des fürstlichen Zeltes hängt ein Ritterschild, der mit dem Symbol der Freimaurer bemalt ist; einer Pyramide, in deren Spitze das Auge des Horus wacht.
Zu den behutsam anhebenden Hornklängen des erwachenden Morgens tritt Fürst Ottokar vor das Zelt, ihm folgt der oberste Waidmann seiner Gnaden, der Erbförster Kuno, Vater der schönen Agathe.
Zu dieser Zeit ist die Loge Nummer dreiundzwanzig in den Rängen des Bayerischen Staatstheaters noch leer und unbeleuchtet, obwohl die Vorstellung restlos ausverkauft ist.
Mirko Guderian nimmt den Fuß vom Gas und lässt seinen schwarzen Alfa langsam durch die Gassen zwischen den Gebäuden des verlassenen Fabrikgeländes rollen. Er ist ungewöhnlich nervös, Mirko mag solche merkwürdigen Arrangements nicht, sie laufen seinen bewährten Geschäftspraktiken zuwider, aber dieser Auftrag ist ungewöhnlich lukrativ.
Zerborstene Oberlichter, verbeulte Eisentore, Füllstutzen und Ladebrücken, rissige Förderbänder, festgerostete Laufkatzen, endlos graue, fensterlos hohe Fassaden; die Geschäfte sind schlecht gelaufen in den vergangenen Jahren, auch Mirkos Stern ist seit einiger Zeit unaufhaltsam im Sinken begriffen. Die Konkurrenz vom Balkan ist erdrückend und verdirbt die Preise. Schlecht rasierte, unzuverlässige Söldner ohne höhere Hirnfunktionen, aber dafür mit zuverlässig funktionierenden Kalaschnikows und Makarov Pistolen aus Bulgarischer Produktion.
Er parkt den GTI in einer leeren Werkshalle mit der Nummer sieben. Als er aussteigt, umfängt ihn laute Opernmusik. Mirko hat keine Ahnung, was eine Arie ist, er weiss nur, dass ihm die Sache immer weniger gefällt. Der Triumphgesang des bösen Jagdgehilfen Kaspar, dem ein voluminöser Bass höchsten Ausdruck verleiht, sagt ihm wenig, aber das Lied ist das vereinbarte, erste Erkennungszeichen.
„Schweig, damit dich niemand warnt!
Der Hölle Netz hat dich umgarnt!
Nichts kann vom tiefen Fall dich retten!
Schon trägt er knirschend eure Ketten!“
Die Arie wird mitten im Vortrag abgebrochen und es ist plötzlich still in der Werkshalle. Mirko hört ein Geräusch und fährt herum. Ein hagerer, älterer Mann mit einem goldenen Lorgnon, einem roten Seidenschal und einem bodenlangen, schwarzen Umhang löst sich aus dem Schatten eines Durchgangs. Er hat schlohweißes, langes Haar, das wild nach allen Seiten absteht und eine Löwenmähne um sein von Leidenschaften gezeichnetes Gesicht bildet.
„Wie heißt der Große Jäger?“
„Sein Name ist Samiel“.
Der Fremde tritt näher, sein Blick hat etwas Beunruhigendes; Mirko fällt auf, dass die Ränder seiner Augenlider mit Kajalstift nachgezogen sind.
„Ich werde Sie Max nennen, wenn Sie gestatten.“
Mirko Guderian ist es egal, wie man ihn nennt.
„Haben Sie das Geld?“
„Dort drüben, in dem Blech-Spind, dritte Tür von links. Die Hälfte des Geldes, das Gewehr und genaueste Anweisungen. Den Rest der Summe finden Sie ebenfalls hier, wenn Sie Ihre Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erfüllt haben.“
Mirko zählt die Scheine, erst dann nimmt er das Gewehr zur Hand. Ein leichtes Remington-Repetiergewehr mit brünierten Metallteilen, sechskantigem Lauf, Schalldämpfer und Zielfernrohr, für den Job alles andere als handlich, aber eine zuverlässige und präzise Waffe, gefertigt in bester englischer Handwerkstradition.
„Die Munition?“
Der Fremde streckt seinen Arm unter dem weiten Mantel hervor. Sieben Patronen liegen auf seiner Handfläche, matt schimmernde Geschosse in hochglänzenden Messinghülsen.
„Was denn, nur sieben Kugeln?“
„Ganz recht, sieben Kugeln, alle aus feinstem Stirling-Silber. Zur Abwechslung mal nicht gegossen, sondern gefräst. Sechs zum Einschießen, die siebte Kugel tötet im Namen Samiels. Sie ist unfehlbar“.
Mirko hält nichts von abgedrehten, alten Gothic-Spinnern, aber dieser Wirrkopf hier besitzt offensichtlich eine Menge Geld.
Der Yezidische Kreide-Kreis ist gezogen, sein regelmäßiger Bogen umschließt das Pentagram. In dessen Zentrum lodern die hellen Flammen einer provisorischen Feuerstelle, auf der ein glühender Schmelztiegel steht. Bühnendonner grollt, in den Kulissen des Waldes zucken grelle Blitze und erleuchten die schaurige Szene auf dem Grunde der Wolfsschlucht.
„Milch des Mondes fiel aufs Kraut,
Spinnweb ist mit Blut betaut“.
Der Halunke Kaspar beschwört die Hilfe Samiels und beginnt mit dem Guss der sieben magischen Silberkugeln für die Flinte des Jagdgehilfen Max.
Der zweite Bühnen-Aufzug geht seinem Ende zu. Die Loge Nummer dreiundzwanzig des Opernhauses ist nun besetzt.
„Diana ist kundig die Nacht zu erhellen
Wie labend am Tage ihr Dunkel uns kühlt
Den blutigen Wolf und den Eber zu fällen,
Der gierig die grünenden Saaten durchwühlt“
Der Chor der Jäger klingt aus, Fürst Ottokar erhebt sich und tritt vor das Zelt. Die Jäger, Gäste und Hofleute folgen ihm. Der Förster Kuno spricht zu Max.
„Wohlauf, junger Schütz, einen Schuss, wie heut früh deine drei ersten, und du bist geborgen. Siehst du dort auf dem Zweig die weiße Taube? Schieß!“
Max legt an. Im selben Augenblick tritt Agathe zwischen den Büschen hervor. Die Taube flattert auf und landet auf dem Baum, auf dem der Schurke Kaspar sitzt. Max folgt mit dem Gewehr, ein Schuss fällt, Pulverdampf steigt auf. Der Vogel fliegt unversehrt fort, der böse Kaspar stürzt zu Tode getroffen vom Ast, die geliebte Agathe sinkt vor Schreck in Ohnmacht.
Gleichzeitig fällt ein zweiter, fast lautloser Schuss aus dem Rang gegenüber der Loge Nummer dreiundzwanzig. Die Bayerische Kultusministerin neigt sich in der selben Sekunde dem Ohr Ihres Sitznachbarn zu, und das Geschoss aus Sterlingsilber trifft statt ihres Kopfes das Gesicht des Opernintendanten, der hinter ihr sitzt. Die Kugel zerschmettert das stadtbekannte, goldene Lorgnon des Mannes, tritt durch das rechte Auge in den Schädel ein und hinterlässt beim Austritt einen dunkelroten Krater in der schlohweißen Mähne an seinem Hinterkopf.